Serra del Cavall Bernat – Überschreitung (II-III)
Serra del Cavall Bernat – Überschreitung (II-III)

Serra del Cavall Bernat – Überschreitung (II-III)

Mallorca. Und wir definitiv nicht zum saufen da.

Stattdessen war ein großer Koffer randvoll mit Seilen, Klemmkeilen, Expressschlingen, Kletterschuhen, Helmen und die Klettereinlagen in der kurzen Woche so vielseitig wie nur möglich. Ein Tag Sportklettern über einem von den Gezeiten geprägten FFK-Strand, ein Tag Deep-Water-Free-Solo in den korallenartigen Klippen. Mit dem bizarren Pfeiler und der Albahida am Puig de sa Gubia haben wir noch eine längere, alpin angehauchte Mehrseillänge mitgenommen. Und irgendwie wollten wir auch was wandern.

Sucht man also nach Wanderungen oder Bergtouren auf Mallorca findet man eine Menge – es wird sogar von einem Wander-Mekka gesprochen. Tami und ich stellen aber schnell fest, dass die bekannten und etablierten Touren für uns nicht wirklich den Verzicht auf einen Tag Klettern rechtfertigen. Wandern scheint hier wirklich wandern zu meinen und obgleich die Landschaft in dem kleinen Gebirge im Norden der Insel wirklich interessant ist, fehlt uns ein wenig der Anspruch und das Besondere.

Auf den letzten Metern stoße ich dann aber über einen hikr-Eintrag. Oh du schöne Wiege der wuiden Touren. Von einem scharfen Kraxelgrat ist die Rede. Eine alpine Tour, die auf einer irren Felsklinge ins Meer führt. Die geforderten und beschriebenen Schwierigkeiten lassen uns aufhorchen.

T6 und III. Grad im Fels??

Auf dem Papier haben wir hier also einen mit 2-3 Kilometern Länge kürzeren aber offenbar ernst zu nehmenden Grat, der beinahe ein wenig nach einem kleinen Jubiläumsgrat klingt. Kurz für’s Protokoll. Im Frühjahr 2022 sind wir mit der damals noch unmarkierten Arnspitz-Überschreitung erstmals etwas schwierigere und eigenverantwortlichere Kraxeltouren angegangen. Ich habe im Sommer noch die Überschreitung der Ehrwalder Sonnenspitze angehängt und war in leichten Mehrseillängen unterwegs. Aber T6 und III ist definitiv noch nicht dahoam. Und keine Komfortzone.

Der Plan

Wir wollen die Serra del Cavall Bernat von Westen nach Osten überschreiten und beginnen damit am noch über Wanderwege erschlossenen Talaia Vella im Norden von Port de Pollença. Fairerweise sei erwähnt, dass man die markante kleine Bergkette damit etwa auf ihrer Hälfte erklimmt und dann den Weg nach Osten auf’s Meer zu und bis über die die idyllische Bucht Cala Boquer hinaus einschlägt. Eine Gesamtüberschreitung der Kette ist ebenfalls möglich – üblicherweise wird die Tour aber wie hier beschrieben gegangen. Etwa auf halbem Weg über den Grat gibt es einen “Notabstieg” nach Süden – dazu aber später noch ein paar Worte. Obwohl der höchste Punkt die 300 Meter über NN kaum übertrifft, sammelt man im regen Auf- und Ab am Grat etwas über 700 Höhenmeter.

Früher Start über dem noch stillen Städtchen Port de Pollença
Zustieg

Wir starten im Dunkeln kurz vor 7 am großen Parkplatz in Port de Pollença gegenüber des Eu Moll Tennis Club. Wahrscheinlich ist das nicht ganz der perfekte Startpunkt, da wir nun einiges Zickzack durch die Straßen laufen. Aber es ist ein Startpunkt. Wir haben die Parksituation in den Gassen und Siedlungen als relativ angespannt kennengelernt und wurden auch von der Kletterliteratur ein wenig dafür sensibilisiert, dass Privatgrund hier nicht immer als solcher erkenntlich ist und gleichzeitig teils mit großem Aufwand und schweren Geschützen gegen Touristen verteidigt wird. Die Zustiege zu Klettergärten und Wänden sind ein Spießrutenlauf auf dem wir auch schon Zäune, Tore und Mauern überklettern durften.

Heute ist es einfacher und fühlt sich halbwegs offiziell an. Ob man nun so weit wie möglich mit dem Auto an die Tour heranfahren muss, sei jedem selbst überlassen. Ich empfinde es so entspannter. In der dunklen und stillen Stadt folgen wir zu Fuß der mehrspurigen Ma-2200 nach Westen, laufen am großen Kreisverkehr vorbei und biegen nach einigen hundert Metern scharf rechts auf die Camí Boquer ab. Zwischen den Villen, kläffenden Hunden und gelegentlichen sensorgesteuerten Lampen folgen wir der Straße bis sie nach links abknickt und nun auf die dunklen Umrisse der kleinen Gebirgskette zuläuft. Obwohl das Wetter heute gut gemeldet ist, fängt es an zu tröpfeln.

Es ist ein schräger Morgen. Obwohl wir nur was wandern wollen, fühlen wir uns in der ausgestorbenen Stadt ein wenig wie Verbrecher. Der Himmel ist bewölkt und unsere Zuversicht für die heutige Tour nicht allzu groß. Wir haben in den letzten Tagen bereits gelernt, wie schnell und kleinräumig das Wetter hier umspringt. Am Pt. 39.913704932445, 3.075184446829552 verlassen wir die Straße und schlagen uns rechts des letzten Hauses auf einem vagen Pfad ins dunkle und vom Regen feuchte Buschwerk.

Vorboten eines magischen Sonnenaufgangs
Anstieg auf den Grat

Im Stirnlampenlicht arbeiten wir uns auf einer vagen Pfadspur durch das rustikale Gestrüpp. Irgendwann verläuft sich die Spur und im fahlen Licht der Dämmerung wählen wir eine eigene Linie, die über die schwereren aber weniger botanischen Kalkplatten führt. Unser Ziel ist ein undefinierter Punkt über uns am Grat knapp 300 Höhenmeter über der Stadt. Der schwache Regen hat sich wieder eingekriegt und das zunehmende Licht nimmt ein wenig Spannung aus der Luft. Abgesehen davon – der überwiegend trockene, scharfe und raue Fels macht bereits hier höllisch Spaß. Wir schwingen uns von einer Kante zur nächsten, verknüpfen hüpfend einige große, karstige Blöcke miteinander und finden ein paar hübsche Verschneidungen.

Eine flowige Stunde später türmt sich über uns eine steilere Wand auf und zwingt uns in einen leichten Quergang nach Osten – die Richtung in die wir eh müssen. Da wir kein richtiges Ziel vor Augen haben, ist uns auch ziemlich egal, wo genau wir auf den Grat stoßen. Und unsere Zielhöhe haben wir auch fast erreicht. Hier wird es aber spannend und wir stoßen auf hüfthohes Gras, ein paar etwas luftigere Kletterstellen im II. bis III. Grad und auf keinerlei Anzeichen, dass hier schonmal jemand war.

Auf der anderen Seite – wir sind in der perfekten Position für einen der heftigsten Sonnenaufgänge. Ein surreales, rotes Licht liegt über der Landschaft. Die Wolken werden von unten rot in Brand gesetzt. Nur wenige Kilometer weiter fetzen Regenschauer über die Berge – vermutlich das Wetter, das vorher auch über uns gezogen ist und jetzt bestenfalls nicht nochmal die Richtung wechselt.

Wenige Kilometer weiter regnet es

Plötzlich legt jemand den Schalter um und die Sonne bricht über dem Meer und unter der kontrastreichen und düsteren Wolkendecke hervor. Die bizarre Stille und Magie des Moments lässt sich nicht in Worte fassen. Obwohl wir nur wenige Meter neben und über der Stadt rumturnen, fühlen wir uns ziemlich fern von unserem Start am dunklen Parkplatz. Und der Grat liegt noch vor uns. Und mit ihm eine lange Strecke in brachialer Landschaft, festem Kalk und luftiger Höhe über dem blauen Mittelmeer.

Mit dem Licht kommt die Motivation. Und die Orientierung. Den mutmaßlich höchsten Punkt umgehen wir weiter auf unserem breiten, grasigen Band und erreichen eine breite Fläche. In ihr fehlt ein Stück und ein gewaltiges Loch vermittelt einen ungewohnten und unerwarteten Tiefblick auf die Brandung 300 Meter unter uns. Ansonsten haben wir hier auf jeden Fall den Grat erreicht, der sich vor uns langsam aber deutlich zusammenzieht und dann in eine Reihe kühner und nach Norden beinahe überhängend ins Meer abfallender Gratzacken leitet. Wahrscheinlich haben wir bis hier nicht den idealen, leichtesten und schnellsten Weg genommen. Aber wir sind hier und hatten einen ziemlich spannenden Zustieg in einem ziemlich irren Sonnenaufgang.

Gibt Schlimmeres!

Gratbeginn

Wir betreten die Gratschneide und schauen uns den weiteren Verlauf an. Einige Dinge fallen sofort auf. Am genüsslichsten ist es wohl direkt auf der Kante, da die hartnäckige und dornige Vegetation sich dort in Grenzen hält. Der Weiterweg an sich scheint recht übersichtlich und der nächste nennenswerte Gegenanstieg liegt noch deutlich in der Ferne. Die Nordseite – in Begehungsrichtung links – fällt unwahrscheinlich vertikal ins Meer ab. Die unten brechenden Wellen schaffen trotz der geringen Höhe eine Dimension an Ausgesetztheit, die für mich in den Alpen bisher nur selten wahrnehmbar war. Die gute Nachricht:

Die besagte Ausgesetztheit ist überwiegend optional. Mit etwas mehr Dornen lässt sich in der wesentlich flacheren – ja fast weichen – Südseite des Grates vieles umgehen. Anders als es in den Alpen oft der Fall ist gibt es hier massig Möglichkeiten auf der Höhe seiner Wahl rechts vom Grat zu queren. Teilweise entlang vager Spuren und Steinmänner. Teilweise nach eigenem Geschmack und Klettervermögen. Anders als nach links ist die rechte Seite des Grates selten heikel, nicht nennenswert exponiert und nur an wenigen Stellen überhaupt als Absturzgelände zu beschreiben. Ein Seil haben wir heute gar nicht dabei – wir müssen uns unserer Sache also halbwegs sicher sein.

Wir folgen dem Grat und halten uns relativ auf oder wenige Meter rechts der Kante. In der Ferne taucht mittlerweile markant das bekannte Cap de Formentor auf. Die Sonne, die kurzzeitig nochmal hinter der Wolkendecke verschwunden ist scheint diese nun nach und nach aufzulösen – einem sonnigen Tag steht nicht mehr viel im Wege. Die Kletterei ist einfach und der Kalk oft fest. Die Betonung liegt auf oft. Selten finden sich Schuppen, die extrem solide aussehen und dann mit einem Tritt oder Griff schlagartig ausbrechen. Wenn man die luftigere Linie am Grat wählt macht es also durchaus Sinn, seine Punkte mit Bedacht zu wählen. Spätestens hier leuchtet ein, warum alpine Erfahrung nicht nur sinnvoll sondern angebracht ist. Auch wenn wir den beschworenen III. Grad im Fels noch nicht gefunden haben.

Der Grat steigt im ersten Abschnitt in unserer Bewegungsrichtung eher ab als auf. Für uns heißt das, dass wir die schärfsten Klettereien im Abstieg vorfinden. Ein Trend, der sich durch die ganze Route zieht. Kurz bevor es auf die markant geschwungene Erhebung geht, die wir die ganze Zeit schon anpeilen zieht sich die Kante erstmals in einer wirklich luftige und nicht ganz leichte Abkletterstelle entlang einer festen aber steilen Kante zusammen. Rechts – mit Abstand vom Grat – umgehbar. Wobei auch die Umgehung eigenständige und geschickte Wegwahl im unübersichtlichen Gelände erfordert und bei ungeschickter Wegwahl auch schnell den II. und III. Grad übersteigen kann. Das ist an unserer Kante aber auch nicht anders.

Luftige (weil überhängende) Kante zum Abklettern

Wir sind allerdings der Meinung, bisher auf einer ziemlich idealen Linie durchgekommen zu sein und erreichen nach der kurzen, konzentrierten Abkletterstelle den kleinen Einschnitt im Grat. Hier geht es in den ersten richtigen Gegenanstieg.

Gegenanstieg – erster, großer Gratzacken

Ob das nun ein eigenständiger Berg ist – wahrscheinlich nicht. Vom Sattel sind nun aber knapp 70 Höhenmeter zu überwinden die nach unserem Geschmack an der direkten Kante zu extrem aussehen. Ob das noch eine III wäre? Wir weichen relativ intuitiv ein Stück nach rechts aus finden eine sehr elegante Wegführung über ein längeres, plattiges Wändchen. Die Kletterei ist hier zwar die schwierigste des Tages – dahoam vermutlich eine II+ – die Stelle ist aber kaum ausgesetzt und löst sich oben wunderschön in eine griffige und angenehm kletterbare Flanke zum Gipfel auf. Spektakulär ist hier vor allem der Rückblick auf den bisher zurückgelegten Grat, den man nun mit zunehmender Höhe erstmals bewundern kann.

Auf dem “Gipfel” – den ich mit seiner gefühlt überhängenden Wand ins Meer gar nicht so gemütlich finde – machen wir eine erste, kurze Rast. Inzwischen ist doch tatsächlich ein makelloser, sonniger Tag angebrochen und die teils bedrohliche Wolkendecke des Morgens hat sich in ein paar winzige Wölkchen am Horizont aufgelöst.

Weiterweg und weiter Weg

Die eben erkletterten Höhenmeter werden prompt wieder weggeworfen, man steigt ziemlich genau die selbe Strecke wieder ab. Kurz vor dem Erreichen der Einsenkung im Grat kommt uns ein Alleingänger entgegen – die erste Person die wir heute hier oben treffen. Der Abstieg vom Gratturm hat durchaus seine luftigen Momente und lässt vermutlich verschiedene Routen zu. Wir halten uns auf der Süd- und Sonnenseite des Grates auf einem vagen, gestuften Pfeiler mit großen und griffig-plattigen Kalkblöcken. Ein paar Verschneidungen und kurze Wändchen erfordern erneut konzentrierte Kletterei auch wenn die Ausgesetztheit sich auf dieser Seite weiterhin im Rahmen hält. Es wirkt hier aber zum ersten Mal so, als wenn es keine ganz einfache Umgehung gibt. Wahrscheinlich kann man den ganzen Turm tiefer queren – aber war man erstmal oben, muss man mit einem gewissen Aufwand auch wieder hinab.

Der folgende Gratabschnitt, den wir nun nach dem etwas verwobenen und unübersichtlichen Mittelteil erstmals wieder auf weiterer Strecke überschauen können, sieht einfach und flach aus. Er ist es auch erstmal. Irgendwo hier dürfte nach Süden ein Notabstieg bzw. ein weiterer Weg auf den Grat oder retour ins Tal führen. So richtig gesehen haben wir ihn nicht. Die flache Flanke macht aber den Eindruck, dass sie relativ stressfrei überwunden werden könnte.

Offenbar genüsslicher Weiterweg

Ein weiterer Gegenanstieg führt dann für meinen Geschmack etwas zu sehr über die Brandung unter uns. Und mündet auf dem markanten, kühnen Zapfen im oberen Bild. Zumindest ist es für mich der psychische Knackpunkt. Der leichteste Weiterweg scheint zum ersten und einzigen Mal links der Gratschneide zu verlaufen. Also auf einem schmalen, plattigen Band direkt über dem überhängenden Abgrund. Von einer entsprechend luftigen und ungemütlichen Plattform geht es dann (zum Glück sehr einfach) einen kurzen Kamin hinauf und wieder zurück auf die Kante. Aber die Sogwirkung der schattigen Klippen ist respektabel.

Der Grat mündet in einer weiteren, fotogenen wie steilen Abkletterstelle neben einem markanten Dach. Die Serra del Cavall Bernat lässt zumindest keine Gelegenheit aus, mit kurzen, schwindelerregenden Momenten um sich zu werfen und einen unverhofften Blick auf die winzige Brandung 300 Meter unter uns zu gewähren, deren fernes rauschen kaum zu uns hochdringt.

Herrlichst!

Wir arbeiten uns weiter am Grat entlang und sind inzwischen bereits über den Traumstrand “Cala Bóquer” zu unserer Rechten hinausgelaufen. Wir sind nun also nur noch auf der schmalen Gratrippe, welche einige hundert Meter vor uns endet und nun auf beiden Seiten ins Meer abfällt.

Felsenfenster und Abstieg

Um den Zustand zwischen den beiden Buchten zu unterstreichen stolpern wir über ein kleines, erreichbares Felsentor im Grat, welches mit leichter Kletterei erreicht werden kann und dabei den freien, dunklen Fall nach Norden und die steilen, botanischen Schrofen nach Süden in die türkise Bucht auf einem Bild vereint.

Wir nähern uns langsam dem Gelände, in dem wir einen möglichen Abstieg vermuten. Da die Sonne unerlässlich vom Himmel brennt und wir heute in Summe reichlich mit dem Grat gespielt haben, zieht es uns immer weniger auf die einzelnen Türmchen und Erhebungen. Stattdessen bahnen wir uns einen Weg durch die Südflanke und halten einige Höhenmeter unter dem Grat weiter nach Osten auf das Ende der Gratrippe zu. So ganz klar ist uns nicht, wie man hier am besten runterkommt. Aber es soll einen Weg geben. Die Querung ist dennoch abenteuerlich und definitiv weglos. Einige knifflige Platten sind zu queren und einmal stoßen wir auf eine tiefe, brüchige Schlucht, die uns wieder dazu zwingt in Richtung Grat aufzusteigen. Kurzum – die direkte Linie am Grat wäre vermutlich einfacher und übersichtlicher gewesen.

Aber allmählich verschwindet die Vegetation und weicht einer erodierten, erdig-sandigen Fläche. Hier – am hintersten Fleck und kurz vor dem Abbruch ins Meer scheint zu viel in Bewegung zu sein und selbst die robusten Sträucher und Kräuter haben keinen Bock. Sogar auf Karten ist die helle und kahle Fläche am Ausläufer deutlich zu erkennen. Fair. Denn die festen Kalkplatten sind einer trostlosen Schotterflanke gewichen, die mit durchschnittlich 45-50° auch gar nicht so flach ist. Ich würde hier nicht wachsen wollen.

Die Vegetation ist verschwunden – der Bruch allgegenwärtig

In der rauen Umgebung können wir keinen Abstiegsweg ausmachen. Wenn, dann wäre er ein vage Pfad mit winzigen Steinmännern. Auf meiner GPS-Karte sehe ich aber, dass wir uns im wesentlichen in der Flanke befinden, durch die man den Grat verlässt und auf einem etwas breiteren Band zurück in die Bucht zur Cala Bóquer wandert. Wir entscheiden uns als für eine freie Interpretation über den Weg des geringsten Widerstandes. Für uns ist das eine breite Rinne, in der einige kleine und festere Kalkinseln Halt bieten. Unter uns sehen wir bereits das Band, auf dem wir zum ersten Mal seit längerem wieder eine Spur vorfinden werden. Der Weg dort hin ist aber lang und fordert mehr Gespür und Konzentration als alle Stellen am Grat vereint.

Da das steile Geröll teils über senkrechte Kalkplatten ins Meer abbricht, ist ein Ausrutschen hier verboten. Aufgrund des Untergrundes aber auch nicht immer zu verhindern. Der Abstieg ist – zumindest auf unserer Spur – ein wahrer Eiertanz und verdient in meinen Augen das südländische Äquivalent zur T6-Bewertung in den Alpen. Heikles Absturzgelände ohne Wegvorgabe und mit vielen Möglichkeiten das Gleichgewicht zu verlieren. Vielleicht wäre es ein paar Meter weiter besser gewesen? Vielleicht aber auch nicht. Denn auch als wir den Pfad auf dem Band etwa 100 Meter über dem Meer erreichen und uns auf offiziellen Pfaden wieder dem Festland zuwenden, nimmt der Anspruch kaum merklich ab.

Im Abstiegsgelände vis-a-vis mit dem Cap de Formentor

Kurz vor der Cala Bóquer kommt die Vegetation zurück – bissiger als bisher gewohnt und wir fühlen uns wie auf einer Dschungelexpedition, während wir uns die letzten Meter zum Stand durch das trockene und raue Buschwerk kämpfen. Immer wieder verschwindet der kleine Pfad, dem wir folgen, in einem unüberwindbaren Dickicht oder bricht in einen Sandrutsch ins Meer ab. Zerrupft, zerkratzt und leicht dehydriert erreichen wir knapp eine Stunde nachdem wir den Abstieg angegangen sind den Traumstrand.

Cala Boquer und Rückweg

Ein irrer Grat liegt hinter uns und die türkise und ruhige See vor uns. Wir haben Badesachen eingesteckt und springen direkt ins Meer und drehen ein paar Runden. Die Hitze und der Staub des Grates ist rasch vergessen – nicht aber die wilde Tour und der eindrucksvolle Sonnenuntergang. Die vielen, kleinen Improvisationen und Entscheidungen in der Wegwahl, die zu einer schwer überschaubaren und noch schwerer rekonstruierbaren Gratwanderung zusammengelaufen sind.

Da das Meerwasser denkbar ungeeignet ist den vorhandenen Durst zu stillen und ein gewisser Hunger vorhanden ist, brechen wir rasch auf und wanken durch die kuriose Landschaft zurück. Unter strenger Aufsicht von Ziegen (die Gams des kleinen Mannes) geht es zwischen Dornen, Felstürmchen und Sandbänken durch das vom Wasser geformte Tal. Immer wieder schweift der Blick hinauf zu unserem Grat, den wir nun im Tal wieder ablaufen. Inzwischen sehen wir einige Gruppen und Personen dort oben. Wenn man nicht wie wir früh aufsteht, ist man bei gutem Wetter vermutlich nicht alleine. Damit spart man sich vielleicht ein paar Abenteuer in der Wegfindung…

…beraubt sich aber auch der magischen und einsamen Überschreitung, die Tami und ich heute erleben durften.


Schwierigkeit, Versicherung und Material

Ein Traumgrat gehobenen Anspruchs. Die Schwierigkeiten sind oft (aber nicht immer) mit der individuellen Wegwahl zu bestimmen. Direkt am Grat kommt T6 und III auf jeden Fall und wiederholt hin. Überwiegen tut aber genussvolle Kraxelei im I. Grad auf nur selten wirklich exponierten Platten. Der Fels ist überwiegend sehr fest, griffig und vertrauenswürdig – weißt aber tückische, größere Schuppen auf, die überraschend lose sein können. Die Schwierigkeiten nehmen nach meinem Empfinden von West nach Ost – also von Land zur See – zu.

Es gibt seltene Markierungen in Form von Steinmännern und sehr schwachen Pfadspuren. Meistens ist man auf das eigene Gespür eingestellt und sollte auch nicht zu lange überlegen. Die intuitive Wegwahl und das geschulte Auge liefern oft sehr brauchbare Ergebnisse – viel falsch machen kann man ohnehin nicht. In Summe sind doch einige und abschnittsweise auch sehr verwinkelte Abschnitte am Grat zu meistern und die Begehungszeit ist schwer planbar. Zusammen mit dem nach meinem Empfinden recht rustikal-brüchigen Abstieg kommt ein spannendes Gesamtpaket zusammen, welches trotz geringer Höhe einige Anforderungen stellt. Im direkten Vergleich empfand ich die legendäre Watzmann-Überschreitung abseits vom konditionellen Aspekt einfacher, kurzweiliger und weniger luftig. Diese ist allerdings auch üppig markiert und teilweise versichert – was auf unsere Serra nicht zutrifft. Persönlich finde ich, dass man ein wenig Puffer mitbringen sollte um ekliges Abstiegs- und Absturzgelände wegzufedern oder auch mal einen Grad schwerer seilfrei und fokussiert zu kraxeln.

Das garantiert auch, dass man nahezu überall vom Grat wegkommt, wenn das launische Wetter in der Region wieder sämtliche Wetterprognosen mit Füßen tritt.

Es sollte unbedingt auf stabiles Wetter mit wenig Wind geachtet werden. Einen Rückzug bei einem drohenden Gewitter oder Nässe am Ostausläufer möchte ich persönlich nicht erleben. Im Zweifel würde ich die Tour umdrehen und zuerst zur Cala Bóquer wandern, durch den Schotter aufsteigen und den Grat von Ost nach West laufen oder direkt nur den halben Grat über den “Notabstieg” auf halber Höhe machen.

Zusammenfassung

Zustiegsschuh-Panorama-Kraxeln auf einem Traumgrat über dem Mittelmeer. Anders als die Grate der Heimat und Alpen – aber nicht minder eindrucksvoll und majestätisch. Was bei uns ein absoluter Klassiker werden würde, scheint hier noch eine halbwegs einsame und ursprüngliche Linie zu sein, die viel Raum für Abenteuer offen lässt und nach belieben gestaltet werden kann.

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