Wie weit können einen leichte Trailrunningschuhe und alte Joggingschuhe tragen? Weiter als gedacht!
Zumindest an unseren Füßen. Und mit unserer Motivation in ein Gebirge einzutauchen, dessen verwegene Leere und Abgeschiedenheit für mich bislang unübertroffen bleibt und dessen Dimensionen man erleben muss, um sie zu verstehen.
Nachdem Hannah und ich kurz zuvor die Zugspitze unsicher gemacht hatten, tat sich im Juni 2022 ein weiteres, sonniges Frühsommerwochenende auf und bot Platz für ein ausgiebiges Bergwochenende. Diesmal waren wir aber etwas planloser. Es fällt schwer nach einer Tour auf die Zugspitze noch irgendeinen Sinn im Bergsport zu finden. Hust.
Doch eine Kleinigkeit erfüllt die Zugspitze nicht. Einsamkeit und Natur. Und so schwenkt unser Blick langsam aber sicher auf ein Gebirge, das all diese Dinge verspricht und das wir beide bisher noch nicht gut kennen. Das Karwendelgebirge. Gewaltig und leer. Denn als eines der größten Naturschutzgebiete der Ostalpen gibt es hier keine nennenswerten Dauersiedlungen und zwischen den vier Hauptketten scheint die Erschließung durch den Menschen nur sehr langsam voranzuschreiten. Verlässt man die wenigen zentralen Forststraßen befindet man sich schnell auf winzigen und unmarkierten Pfaden, einige der 125 Gipfel über 2000 Metern müssen fast schon in kleinen Expeditionen erarbeitet werden und Handyempfang ist ein rares Gut. Wer in Scharnitz, dem Tor zum Karwendel, in das Tal hineinläuft um einen der Gipfel im Hauptkamm zu erreichen kann sich – ohne Unterstützung von Hütten oder Mountainbikes – schnell auf einen Marsch von über 40 Kilometern und 2000 Höhenmetern einstellen. Den Charakter dieser Welt hat Wikipedia gut beschrieben: “Die Bruchkanten der Auffaltung bilden senkrechte bis zu 1.000 Meter hohe Wände auf der Nordseite, aus der sanfteren Südseite haben die Gletscher der vergangenen Glaziale weite Kare ausgefräst, die durch mächtige Grate voneinander getrennt werden”.
Unser Plan bleibt bewusste schwammig – wir haben eine Nacht auf dem Karwendelhaus reserviert. Wie wir dort hinkommen und wo es davon weitergeht wollen wir aber von den Bedingungen und der Tagesform abhängig machen. Vorgenommen haben wir uns mehr oder weniger den Karwendelhauptkamm und ein paar Eckpunkte dessen, die ich mir schonmal für ein Solo-Wochenende genauer angeschaut hatte. Mangels Solo-Wochenenden kam es aber nie dazu. Vielleicht geht sich sogar die Überschreitung des Hauptkamms von der Breitgrieskarspitze zur Birkkarspitze aus? Letztere wäre, als höchster Gipfel des Karwendelgebirges auch ein durchaus reizvolles Ziel. Der komplette Hauptkamm sollte aber auch ein recht alpines Unternehmen bis zum III. Grad in bröseligem Fels sein. Aber nicht vollkommen abwegig. Und nicht weniger begehrenswert. Wir haben auch im Hinterkopf am Sonntag vom Karwendelhaus aus über den Gjaidsteig wieder nach vorne Richtung Mittenwald rauszuqueren und den Wörner, einen meiner Lieblingsberge, im Sonnenaufgang abzupassen. Wie wir von da wieder nach Scharnitz gekommen wären ist ein anderes Thema.
Da die Etappen, egal in welcher Konfiguration, sehr lang und zäh werden, entscheiden wir uns mal einen für unsere Verhältnisse etwas radikaleren “superleicht & supersexy” Ansatz zu fahren. Also letzteres sind war ja sowieso, aber für ersteres würden wir wirklich mit Minimalausstattung unterwegs sein. Das stabile Wetter und die Nacht in der Hütte geben sowas eigentlich her. Winziger Rucksack, dünner Schlafsack, Biwaksack, Helm und ausreichend Wasser. Keine große Verpflegung, keine überdimensionierten Jacken, keine schweren Bergstiefel. Uns war klar, dass wir die Rucksäcke die wir eine Woche zuvor an der Zugspitze dabei hatten hier nicht raufschleppen können.
Zustieg
Und dann geht es auch schon los. Samstag früh in Scharnitz in der kalten Morgenluft – ohne große Erwartungen aber mit dem Ziel erstmal über die Pleisenhütte an Höhe zu gewinnen. Diese ist schnell und über eine breite Forststraße erreicht. Die Gäste der Hütte sind noch nicht wirklich aufgestanden und bei einer kleinen Pause auf der Terrasse beflügelt der Hüttenwirt unsere Pläne für den Tag. Wenn man superleicht und supersexy aussieht wird man scheinbar auch superleicht und supersexy behandelt.
Prima. Dann wird das ja ein richtig bäriger Tag und wenn wir mit den paar Kletterstellen fertig werden haben wir eigentlich unsere ganze ToDo-Liste an einem Tag abgehakt und den wahrscheinlich wildest-möglichen Weg zum Karwendelhaus gewählt. Über der Pleisenhütte ändert sich das Gelände schlagartig und wir folgen nur noch einem schmalen Pfad durch die weiten Latschenhänge. Wir sind auf dem Toni-Gaugg-Höhenweg. Gegenüber thront der Hohe Gleirsch mit seiner beeindruckenden Nordwand. Insgesamt sind wir direkt begeistert von der gefühlt grenzenlosen Wildnis hier oben. Nach links ziehen endlos lange Grate und Schotterfelder hinauf. Die Dimensionen dieser sind so groß, dass man viele Gipfel gar nicht sieht. Nachdem wir das Mitterkar unten in den Latschen unschwer gequert haben – immer noch dem markierten Weg folgend – biegen wir nach links ab. Nach einer längeren Etappe ohne nennenswerten Anstieg geht es jetzt endlich wieder hoch. Oder?
Leider nein. Wir laufen auf einem Band an die Ostwände des Gauggturms heran und schon auf die Ferne fällt auf, dass es keinen richtig ersichtlichen Weiterweg auf Augenhöhe gibt. Wenig später wird klar was Sache ist – es geht nach rechts durch eine steile Schuttrinne hinab in das Hinterkar. Es sind zwar nur 130 Höhenmeter – wir geben sie aber reichlich ungern wieder ab. In der Rinne rutsche ich aus, schürfe mir die Hand etwas auf und rausche ein kurzes Stück im scharfkantigen Geröll und Sand runter. Schöne Sch**ße. Eine Kleinigkeit, die mein Selbstbewusstsein für den Tag etwas dämpft. Das war die erste “schwierige” Passage. Also so schwierig wie T3 halt sein kann. Und wir haben auf dem Papier noch ganz Anderes vor.
Zwischen Scharen von Gämsen geht die Wiese im Kar nach und nach in eine Mondlandschaft über. Zwischen den ewigen Schotterdünen sind einzelne Altschneefelder zu queren und trotz der bis hierhin gelaufenen Höhenmeter sind wir noch gut in Form. Die Landschaft weiß zu beeindrucken und die Altschneefelder – so früh im Jahr wohl keine große Überraschung – sind bisher unproblematisch. Genau für sowas macht man das – einfach durch wilde Weiten wandern. Meinen Rutscher in der Schotterrinne habe ich auch schon wieder überwunden. Wir erreichen die Scharte zwischen Riedlkarspitze und Breitgrieskarspitze und zum ersten Mal haben wir einen Blick auf die Rückseite und unseren geplanten Weiterweg am Karwendelhauptkamm.
Den Anblick könnte man als schaurig-schön durchgehen lassen. Schön der erste Blick auf tatsächliche Berge, Gipfel und Täler. Eine wundervolle Abwechslung zu den bisher monotonen Mondlandschaften. Schaurig die Bedingungen hinter der Breitgrieskarspitze. Und das Beste – das was wir dort vor uns sehen ist alles aber kein Altschnee. Während auch deutlich höhere Berge im Wetterstein komplett schneefrei sind haben wir uns scheinbar einen Gebirgsstock ausgesucht, der in einem der vorangegangenen Unwetter lokal eine gute Runde Schnee abbekommen hat. Mitte Juni.
Ich weiß sofort, dass sich unsere Pläne jetzt ändern müssen und selbst der von hier aus “leichteste” Weiterweg zum Karwendelhaus nicht mehr garantiert ist. Auf die Entfernung ist kaum abzuschätzen wie schlimm es wirklich ist. Aber die Seekarspitzen und dahinterliegenden Erhebungen des Hauptkamms zeigen sich schneeweiß und unnahbar. Und wir stehen hier in kurzen Hosen und Trailrunnern. Superleicht und supersexy.
Breitgrieskarspitze
Der Aufstieg zur Breitgrieskarspitze zeigt direkt was Sache ist. Der sandige Untergrund ist hart gefroren und rutschig. Einige alte Stahlseile erleichtern den Anstieg ein bisschen und nach einem längeren Quergang erreichen wir den schneefreien Südgrat, auf dem wir unschwer und vor allem jetzt auch wieder mit mehr Halt den Gipfel der Breitgrieskarspitze auf 2585 Metern erreichen. Die Perspektive hier macht wieder etwas mehr Mut. Der Abstieg in die Breitgrieskarscharte, wo es auch ein kleines und sehr rustikales Biwak zu bestaunen gibt, ist dank südlicher Ausrichtung schneefrei und unproblematisch. Die dahinterliegenden Seekarspitze sehen auch etwas weniger abweisend aus und ein vertretbarer Weg des geringsten Widerstandes wird sich schon finden lassen. Den Verbindungsgrat bis zur Birkkarspitze haben wir an diesem Punkt ohnehin schon abgeschrieben. Nach einer kurzen Gipfelrast geht es über den Grat wieder ein Stück hinab und wenige Meter hinter der Stelle, an der wir von Westen kommend auf den Grat gestoßen sind folgen wir schwachen Markierungen nach Osten in eine kurze, felsige Flanke. Wir erreichen ein Schotterfeld und queren dort um die Breitgrieskarspitze herum. Ein Schauspiel für sich. Während der Berg im Aufstieg eine unscheinbare Erhebung im Gratverlauf ist, weckt seine Rückseite nicht vorhandene Erinnerungen an die Dolomiten. Mit senkrechten, gelben und aus dem Schotter aufsteigenden Wänden geht sie mindestens als billige Kopie der großen Zinne durch.
In leichter, aber bröseliger Linie erreichen wir die Biwakschachtel. Es handelt sich dabei um eine ausrangierte Kabine eines Bergwachfahrzeuges – eine rustikale Notunterkunft. Bei einem Wettersturz bestimmt Gold wert, fällt mir dennoch ein winziger Makel auf. Die Tür klemmt. Echt jetzt? Selbst mit absolut roher Gewalt bewegt sich die einzige Tür in die kleine Metallschachtel keinen Millimeter. Es sieht so aus, als wäre der gesamte Rahmen verzogen und die Tür komplett blockiert. Nicht ungefährlich. Keine Ahnung, wie es mittlerweile um das Biwak steht. Mit ihm rechnen würde ich allerdings nicht. Zumindest bis mich ein erneuter Besuch vom Gegenteil überzeugt hat.
Große Seekarspitze
Hinter dem Biwak steigen wir den verschneiten Hang hinauf zum Seekarsattel, dem tiefsten Punkt am Verbindungsgrat zwischen den beiden Seekarspitzen. Obwohl die beiden gerade mal 60 Höhenmeter trennen ist uns der, im Sommer vermutlich relativ unspektakuläre, Bröselkegel der großen Seekarspitze ins Auge gestochen. Diese im perfekte, symmetrische und schneeweiße Pyramide müssen wir einfach mitnehmen – die unscheinbarere kleine Seekarspitze lassen wir links liegen. Am Sattel angekommen geht es über den rutschigen, aufgeweichten Schnee hinauf. Das Gelände ist zum Glück relativ einfach und nicht wirklich ausgesetzt und einige Minuten später erreichen wir unseren zweiten Gipfel des Tages. Langsam melden sich auch die Beine. Meine zumindest. Trotz superleicht und supersexy standen wir heute – nur die Zahlen berücksichtigend – bereits auf der Zugspitze. Und das nicht über den kürzesten Weg.
Falls es so wirkt als wenn wir uns völlig unbedarft durch die Gegend treiben lassen. Ja. Bisschen. Ist halt auch geil.
Marxenkar und Brendelsteig
Aber unser Tagesziel, das Karwendelhaus, haben wir schon noch auf dem Schirm und befinden uns nach wie vor auf einer relativ direkten Linie dort hin. Vom Sattel aus führt nämlich ein Weg durch das Marxenkar, eine weitere gewaltige Schotterebene, wieder hinab auf den Toni-Gaugg-Höhenweg. Ein Blick hinab in das Kar zeigt aber sehr schnell, dass wir uns um die Suche nach dem Weg nicht weiter bemühen müssen. Die Ebene ist fast durchgehend von Schneefeldern durchzogen. Eine Spur ist nirgends zu erkennen. Und kleine Pfadabschnitte die man zwischen manchen Schneefelder zu erahnen meint können genauso gut eine Laune der Natur oder Gämsen sein. Hier wird es also endgültig etwas wegloser. Wohlwissend, dass kein allzu schweres Gelände mehr bevorsteht riskieren wir hier auch zum ersten Mal recht freizügig nasse Füsse. Denn wir erinnern uns nochmal kurz. Wir sind immer noch in Turnschuhen und kurzen Hosen unterwegs. Superleicht. Supersexy. Superkalt.
Nachdem der erste, steile Abstieg über das leicht vereiste Geröll gelungen ist suchen wir uns eine gefühlte Ideallinie auf den Boden des Kars. Dabei bemerken wir schnell, dass die Stellen mit viel Schnee trotz falscher Schuhe angenehmer sind und wir mit kontrolliertem Abrutschen einiges an Zeit sparen können. Wir zielen also immer bewusster auf steilere, schneegefüllte Mulden und surfen dort – mal stehend, mal sitzend – durch die eindrucksvolle Berglandschaft. Zum Glück sieht das keiner. Und hoffentlich folgt in den nächsten Tagen keiner unserer Spur. Es würden doch einige berechtigte Fragen aufkommen.
Irgendwann teilt sich das Kar und wir können entweder links oder rechts weiter runter. Da das Gelände immer noch so weitläufig und unübersichtlich ist können wir nicht sagen wie sich das nach unten hin ausgeht. Wir entscheiden uns für rechts, umgehen einen größeren Moränenrücken und landen in einer finalen, sehr großen Schneefläche die uns wieder in die Latschen und auf den schon von oben sichtbaren Pfad führt. Gute Sache – hätten wir uns für die linke Variante entschieden, wäre es etwas steiler und abenteuerlicher geworden.
Der Weg zieht auf einer Höhe bleibend durch grüne Wiesen und kleine Latschenfelder. Vom Schnee im Kar und an den Gipfel ist hier nicht mehr viel zu sehen. Wir sehen höchstens die Vorgipfel der Vorgipfel und sind – wie heute morgen schon – gefangen zwischen den langen Graten, die vom Karwendelhauptkamm herunterziehen. Einen von ihnen müssen wir jetzt noch überwinden. Von den Ödkarspitzen, einem dreigipfligen Nachbarn der Birkkarspitze, zieht nach Norden ein Grat hinab. Dieser findet in der nördlichen Ödkarscharte einen Schwachpunkt an dem er über einen kurzen, steilen Steig überwunden werden kann. Ich ringe um jeden Schritt. Die 100 Höhenmeter hier rauf – in steilem Sand und entlang stahlseilgesicherter Felsstufen – fühlen sich unfassbar zäh an. Klar, wir können noch ein bisschen was aber die 2000 Höhenmeter haben wir schon hinter uns gelassen und doch auch ein paar mehr Kilometer gelaufen als bei der üblichen Samstagswanderung. Oben angekommen haben wir zum ersten Mal heute unser Ziel vor Augen.
Eigentlich liegt das Karwendelhaus direkt gegenüber. Der Weg – nun der Brendelsteig – macht aber nach einem kurzen aber sehr steilen Abstieg eine ausschweifende Rechtskurve um eine steile Schlucht zu umgehen. Am Ende dieser ausschweifenden Kurve machen wir sogar nochmal einen kleinen Gegenanstieg aus. Herrlich.
Die Erinnerungen an den folgenden Abschnitt halten sich in Grenzen. Ich war mal wieder mit Autopilot unterwegs. Ein paar tolle Landschaftsaufnahmen habe ich trotzdem gemacht und es gab wohl einige Schneefelder zu queren. Eines davon musste fast schon überbouldert werden, da es etwas gruselig in einer abschüssigen Rinne hängt. Ich habe mich hart verklettert. Hannah nicht. An sowas erinnert man sich dann doch.
Und irgendwann sind wir am Karwendelhaus und tauchen ein in die bunte Welt der E-Bikes. Und in das alkoholfreie Weißbier. Aber diese E-Bikes beschäftigen mich. So leicht hätte man’s haben können – einfach mit dem Ding hier hochsummen, direkt an der Hütte laden und in die Sonne setzen. Und während ich mich so umsehe, stelle ich zufrieden fest, dass ich mit keinem tauschen wollen würde.
Zum Abendessen gibt es ein Briefing vom Hüttenwirt für die geplanten Routen am Folgetag. Mit Wetterbericht, Bedingungen, Tipps und persönlichen Einschätzungen. Ein ziemlich wertvolles Detail wie wir finden. Am Ende des Tages lassen sich so bestimmt einige heikle Begehungen oder unschöne Fehlschläge vermeiden. Und man muß sich gar nicht die Blöße geben selbst zu fragen. Alle versammeln sich in der Stube und wir sind auch gespannt was für Routen und Infos wir hier bekommen. Wir haben uns immer noch auf keinen richtigen Weiterweg festgelegt.
“Fangen wir mal mit den schweren Sachen an…wer möchte zur Pleisenhütte?”
Alle still. Wir auch. Da kommen wir nämlich her.
“Gut passt, geht nämlich noch nicht”
Es folgen ein paar andere Routen. Im wesentlichen die talnahen Übergänge in die Nachbartäler. Ein Objekt der Begierde ist natürlich auch die Birkkarspitze. Sie liegt auf der normalen Spur des Traumpfades München – Venedig und die allermeisten Übernachtungsgäste scheinen auf dieser Alpenüberquerung unterwegs zu sein. Wir bekommen am Rande mit, dass es auch mit diesem Abschnitt Probleme gibt und eine Umgehung empfohlen wird. Als der von uns mal angedachte Übergang zum Wörnersattel nicht erwähnt wird frage ich nach.
“Felssturz, komplett zerstört und nicht begehbar”
Wir halten fest. Ungefähr das gesamte Karwendelgebirge ist nicht begehbar. Dann machen wir morgen einfach einen Entspannten.
Um 3:30 schlüpfen wir in die Nacht. Unser Ziel ist die Birkkarspitze.
Birkkarspitze
Wir haben nämlich zwei Asse im Ärmel. Zum einen hatten wir am Vortag jemanden im Abstieg beobachtet und zum anderen sind wir gestern schon eine unmögliche Tour gegangen. Und abseits davon sind wir immer noch superleicht und supersexy. Daran ändert sich auch nichts mehr. Den ersten Teil des Weges kennen wir noch und folgen dem breiten Wanderweg durch die Nacht. Ein bisschen mulmig ist mir heute schon. Nicht wegen der bevorstehenden Bergabenteuer – ich habe viel irrationalere Sorgen. Im Frühling hat nämlich ein Braunbär inklusive mutmaßlicher Sichtung und Massaker von 15 Schafen für Schlagzeilen gesorgt. Letzteres zufällig genau am Hang gegenüber. Und mir geht der naheliegende Gedanke nicht aus dem Kopf, dass der Bär heute vielleicht auch auf die Birkkarspitze möchte. Manchmal ist man eben nicht so vernunftgetrieben, wie man gerne wäre. Und als ich in der Schwärze 100 Meter vor uns zwei Augen aufleuchten sehe fühle ich mich mehr als bestätigt. Ich erstarre und leuchte in die Richtung. Die Augen leuchten zurück. Es ist nicht wirklich zu erkennen, was da vor uns auf dem Weg steht. Links taucht ein zweites Paar Augen auf. In der Ferne noch eins. Meine Ratio meldet sich langsam wieder und stellt fest, dass Bären keine Schwarmtiere sind und einige Schritte weiter wird uns klar, dass wir mal wieder auf eine Gruppe Gämsen reingefallen sind. Ich habe leider eine relativ stolze Historie in ähnlichen, nächtlichen Zusammenstößen und lerne es nie.
Wir passieren die mittlerweile unzähligen Augenpaare, welche uns still beobachten. Dann stapfen wir weiter den deutlichen Weg im Schlauchkar empor. Dieses langgezogene Kar führt mit einer leichten Rechtskurve direkt unter die Nordabbrüchen der Birkkarspitze. Wir überwinden einen kurzen, schneefreien Felsriegel in leichter Kletterei. Mittlerweile dämmert es und das uns umgebende Gebirge ist in ein gespenstisches, blasses Licht getaucht. Und es ist still. Stiller als im Wetterstein.
Gegen Ende steilt das Schlauchkar ordentlich an. Es liegt Schnee – mit einer deutlichen und tiefen Spur drinnen. Also doch schon machbar. Und während wir gestern vielerorts noch eine matschige, weiche Neuschneemasse gequert haben, haben wir hier ein in der Nacht knallhart gefrorenes und kompaktes Altschneefeld. Wieder kein ideales Gelände für Joggingschuhe. Hätte man jetzt einen Pickel dabei. Oder Steigeisen. Dann hätte das richtig Spaß gemacht. Aber so?
Wir steigen ein Stück auf das Schneefeld. Wenn man in der Spur bleibt rutscht man kaum weg und steile Stellen können im steinharten Schnee nahezu “gebouldert” werden. Wir probieren es eine Weile. Etwas gruselig ist es schon – einen Sturz würde man, sofern er außerhalb der tiefen Spur endet, nicht abfangen. Die Rutschpartie zurück ins Schlauchkar würde über ein paar senkrechte Abbrüche unter uns ordentlich beschleunigt werden. Als wir das feststellen sind wir bereits so weit über die eisigen Stufen aufgestiegen, dass wir einen Abstieg nun als wesentlich kritischer bewerten. Es bleibt also nur die Flucht nach vorne. Vor uns liegen etwa 200 Höhenmeter und 500 Meter im Eis. Ich ärgere mich ein bisschen – ich mag es nicht so alternativlos unterwegs zu sein. Wir hätten einfach Steigeisen mitnehmen müssen. Haben wir übertrieben? Ist das was wir hier gerade tun gefährlich?
Ich komme damals wie heute schnell zu dem Schluss “jein”. Wir sind nicht riskanter unterwegs als auf einem ungesicherten, schmalen Felsgrat im Sommer, der aufgrund seiner Länge nicht durchgehend am Seil gesichert werden kann. Mit schweren Rucksäcken und Eisausrüstung wären wir gar nicht so weit gekommen und hätten dieses Tour – eine der eindrucksvollsten – so nicht machen können. Aber jetzt ist mal kurze keine Zeit für Späße. Unser weiteres Wohlbefinden hängt ganz direkt von unserer Konzentration auf das vorliegende und für uns auch ohne Steigeisen beherrschbare Gelände ab. Ein Fehler darf hier nicht passieren – das ist keine neue Situation. Wenn man in der Spur bleibt und nicht ausrutscht ist alles gut. Wenn man auf dem Grat bleibt und nicht ausrutscht ist alles gut.
Ich würde bei nächsten Mal trotzdem im Zweifel ein Paar Leichtsteigeisen oder einen Gully mitnehmen. Nicht unbedingt beides – aber eins von beiden hätte uns den Tag durchaus versüßt. Und so arbeiten wir uns still und konzentriert durch die steile Spur. Prüfen jeden Tritt doppelt. Jeder hat einen meiner Wanderstöcke als “Eispickel” dabei. Und dann geht die Sonne auf.
Ein Moment, der jenseits meiner üblichen Adjektive für Sonnenaufgänge liegt. Es ist komplett unwirklich hier zu sein. Mitten im glühenden, wilden und völlig stillen Karwendel. Die trübe Luft erzeugt Schichten von Bergumrissen und dramatische Lichtstrahlen. Das erst rote und dann goldene Licht fängt sich in dem Schneefeld, in dem wir kleben. Es ist einer dieser “aaah passiert das hier gerade wirklich” Augenblicke. Und im Nachhinein bin gelegentlich misstrauisch, ob sich das alles so zugetragen hat. Aber wird schon hinkommen. Die Bilder beweisen es.
Nach oben hin wird die Spur tiefer und nach einem letzten Quergang haben wir zum ersten Mal wieder trockenen Fels unter den Füßen. Von hier – dem Schlauchkarsattel – sehen wir gleich drei tolle Sachen. Den Gipfel der Birkkarspitze, der in leichter Kraxelei nur 100 Höhenmeter über uns liegt. Die Birkkarhütte – eine kleine Holzhütte als Notbiwak – in der wir einen kurzen Moment vor dem hier am Kamm doch strammen, kalten Wind entfliehen wollen. Und unseren südseitigen Abstieg für später, der zwar noch nicht gespurt wurde, von oben gesehen aber den Status “passt schon” erhält. Es geht also weiter. Wir müssen nicht im Biwak warten bis der Schnee weicher wird.
Als wir in die kleine Holzhütte schlüpfen wecken wir zwei Mädels. Sie waren am Tag zuvor – scheinbar auch entgegen der Empfehlung – im sulzigen Nachmittagsschnee aufgestiegen und hatten die Nacht hier oben verbracht. Wir unterhalten uns kurz, essen eine Kleinigkeit und wollen dann aber auch nicht weiter stören. Es ist früh. Wir deponieren unsere Rucksäcke, treten raus in den Wind und kraxeln durch den bröseligen aber leichten und bei Bedarf auch ausreichend versicherten Gipfelaufbau der Birkkarspitze. Im Hintergrund gibt der Grat hinauf zur östlichen Ödkarspitze ein wildes Bild ab. Stellenweise öffnen sich nach links eindrucksvolle Tiefblicke auf unseren Aufstiegsweg. Überall liegt das auffallend splittrige, gelbe Geröll herum. Und dann erreichen wir, in der perfekten Morgensonne und weit über den von Lichtstrahlen durchzogenen Tälern, den höchsten Punkt des Karwendelgebirges.
Ich denke die Bilder sprechen für sich. Alleine die gegenüberliegende Kaltwasserkarspitze oder kurz KaWaKa zieht einen völlig in den Bann. Kein Wunder, dass sie als die “wahre Königin” dieses Gebirges gilt. Ich nutze den kurzen, magischen Moment des Handyempfangs am Gipfel und verschicke ein paar kurze Updates und wenig später machen wir uns wieder an den Abstieg.
Abstieg
An der Hütte sammeln wir unsere Rucksäcke ein biegen ohne lange zu fackeln in die Südseite ab. Wir haben noch einen mächtigen Abstieg vor uns. Und keine Lust auszukühlen, bevor es nun eh wieder eine Weile durch den Schatten geht. Über einige Stufen führt der steile Steig hinab in das westliche Birkkar. Es ist viel Geröll unterwegs und wir sind froh hier heute alleine zu sein. Der Schnee liegt zum Glück an den genau richtigen Stellen nicht und ist hier etwas weicher als in der Nordflanke. Ein paar kurze Klettereien an Stiften und Stahlseilen später stehen wir schon unten im Kar. Wir wechseln auf den Schnee, der hier wellig gefroren ist. Sieht ein bisschen aus wie auf einem anderen Planeten – ist aber mangels Steilheit und Absturzgelände viel entspannter zu gehen.
Dann führt der Weg in die zweite Schotterebene. Diese steiler und schneefrei. Es wird langsam wärmer und die Westwand der KaWaKa baut sich neben uns abweisen auf. Eine Gruppe Gämsen bewirft uns aus einer Felswand heraus mit Steinen, weshalb wir die Helme wieder anziehen. Die da oben. Was die sich erlauben. Auf die zweite Ebene folgt eine Dritte. Es fühlt sich ein bisschen an wie am Watzmann, der Abstieg zieht sich und der Talboden scheint nicht näher zu kommen. Wir queren den kleinen Birkkarbach und folgen nun steilen Hängen am Rande der tiefen, wassergefressenen Schlucht. Ganz langsam kommen die Pflanzen zurück – erst Latschen, dann Gräser und Bäume. Und nach einer halben Ewigkeit treffen wir in der nun prallen Mittagssonne auf die breite Forststraße am Talboden.
Die Dimensionen vom Karwendelgebirge, die den Abstieg bereits begleitet hatten werden hier auch nochmal deutlich. Bis zum Auto sind es nun noch geschlagene 12 Kilometer. Allesamt äußerst unkreativ auf der, von Fahrrädern stark frequentierten, Forststraße. Klar es ist schön hier zwischen den massiven Bergen und entlang der glasklaren Isar. Aber es ist ein Höllenmarsch und eine ordentliche Geduldsprobe. Unsere Motivation dafür hält sich in Grenzen und das sieht man uns scheinbar auch an. 10 Kilometer später, kurz vor Scharnitz, sammelt uns netterweise (und wir vermuten aus Mitleid), das Karwendeltaxi ein und nimmt uns das letzte, kurze Stück mit. Wir erzählen, als wir gefragt werden, wo wir gerade so herkommen.
Ja du. Keine Ahnung.
Und so ging an diesem ungangbaren Wochenende im Karwendel doch eine ganze Menge.
Die Diagnose “noch nicht machbar” aus dem Karwendelhaus hatte für das im Mittel dort anwesende Publikum definitiv seine Berechtigung – ich würde die Tour so wie wir sie gemacht haben auch nicht unbedarft weiterempfehlen. Wir waren zwar sehr schnell, leicht und agil unterwegs und waren dadurch zu wundervollen Zeiten an wundervollen Orten – hätten bei Schwierigkeiten aber auch einen entsprechend höheren Preis gezahlt. Das war uns zu jeder Zeit bewusst, weshalb wir uns ohne richtig festes Ziel oder Ambitionen für einen bestimmten Gipfel von Punkt zu Punkt gehangelt haben. Wohin unsere Joggingschuhe uns halt tragen.
Schwierigkeit
Wunderschöne und ausdauernde Runde durch eine wahnsinnige Gegend. Die Herausforderungen liegen für unsere Wegwahl definitiv in den puren Dimensionen und Bedingungen. Im Sommer wäre der Rundweg durchgehend auf offiziellen Wanderwegen und zwar alpin aber gut machbar und nirgends wirklich ausgesetzt oder anspruchsvoll. Richtig klettern mussten wir, abgesehen von zwei Griffen an der Seekarspitze und kleinen Stahlstift-Tänzen im Abstieg nirgends und auch der versicherte Aufschwung zur Birkkarspitze ist für den geländegängigen Wanderer als eher sanftmütig einzuordnen.
Zusammenfassung
Roarrrr. Ich werde nie wieder der Alte sein.