Im Radio spricht man bereits von dem heißesten Tag Deutschlands. Und weil ich dieses Jahr schon belastend viel in den Ammergauer Alpen unterwegs war und mich irgendwelche glühend-sandigen Latschenfelder auf- und abgeschlagen habe, zieht es mich heute eher in die Höhe. Und irgendwie auch mal ein paar Meter weg von der Botanik. Überhaupt – in der Theorie ist es dort sogar kühler.
Nun geht Höhe aber meistens mit einer markanten Anstrengung her, um diese zu gewinnen. Auch nicht ideal. Lange Rede kurzer Sinn, das ziemlich hässliche Kühtai muss mal wieder herhalten, denn hier startet man bereits ziemlich weit oben und erreicht vergleichsweise hohe Ziele mit geringem Aufwand. Ich werde alt.
Die Gneispyramide über Kühtai
Der Zwölferkogel ist mit seinen 2988 Metern knapp an der 3000er Grenze vorbeigeschrammt und steht damit ein wenig im Schatten seines Nachbarns. Der südlich angrenzende Sulzkogel hat es mit grandiosen 3016 Metern nämlich über besagte Grenze geschafft und gilt damit im Sommer als ein idealer Einstiegs-Dreitausender und Publikumsmagnet für Wanderer, die hoch hinaus wollen. Dass es dann am vorgelagerten Zwölferkogel so viel ruhiger zugeht verwundert trotzdem – er ist mit Abstand die eindrücklichste und prominentste Erhebung im Talkessel um Kühtai und verdeckt mit seinem eleganten Nordgrat die Sicht auf den Sulzkogel.
Der Grund für diese ungleiche Verteilung in der Besucherstatistik ist dennoch rasch gefunden: der Zwölferkogel ist ein mühsamer und anspruchsvoller Gipfel, der über keinen markierten Normalweg erschlossen wurde.
Der wahrscheinlich üblichste Zustieg führt über seinen rund 400 Klettermeter messenden Nordgrat, welcher sich vom Tal aus als logische, scharfe und dunkle Linie unmittelbar über den Lawinenverbauungen und Skiliften erhebt. Von seinen Aspiranten erfordert er anhaltende Kletterei im 1., 2. und je nach Quellen auch 3. Grad. Und nachdem ich gestern Abend am Maldongrat eine Menge Freude hatte und mein alpines Goldfischgehirn etwaige Gneis-Traumata vom Acherkogel schon lange verdrängt hat, komme ich zum einzig logischen Schluss:
Zustieg zur Mute (2398m)
Als ich in Kühtai, immerhin auf knapp 2000 Metern, aus dem Auto steige ist es absurd heiß. Die Sommersonne brennt aus einem wolkenlosen Himmel hinab. Ideales Wanderwetter. Abseits von „genug Wasser einpacken“ und „ausreichend Sonnencreme verwenden“ gibt es heute auch gar nicht so viel zu beachten. Ich kenne den Berg und mein Ziel. Ich war da zwar nie oben, bin aber im Rahmen einer Alpenüberquerung und bei diversen Skitouren schon hier unterwegs gewesen und habe ein ziemlich genaues Bild von dem Zustieg zum Grat. Und was mich dort erwarten wird, muss sich ohnehin zeigen. Gewappnet bin ich mit meinem Klettervermögen, einem hoffentlich ausreichenden Nervenkostüm, Zustiegsschuhen und in diesem Sommer einigermaßen vielen Metern im Urgestein. Seil und Gurt sind daheim geblieben – sie schienen mir für diese Art Tour und mangels Seilpartner ziemlich sinnlos. Daran hat sich auch nichts geändert.
Auch wenn ich inzwischen das eine oder andere Seitental und Berglein rund um Kühtai zu schätzen gelernt habe – der zentrale Talkessel ist und bleibt potthässlich und kein erboster Tourismusverband wird mich an solchen Aussagen hindern können. Im Aufstieg gibt es also Teerstraßen, Schrott, Lifte & Baumaterialien und Bagger, die in den lieblichen Almwiesen grasen.
Ich steige auf zum Graf Ferdinand Haus und halte mich hier auf der steilen Straße hinauf zum Alpenrosenlift und weiter zur Bergstation der HoheMutBahn. Wird wirklich so geschrieben. Habe ich mir nicht ausgedacht. Neben ihr zweigt ein keiner, markierter Wanderweg ab, der kurzweilig zum namensgebenden Gipfel, der Mute, führt. Das Etappenziel ist schnell erreicht und der Gipfel ist gut besucht. Über uns – am 600 Meter höher aufragenden Zwölferkogel – herrscht gähnende Leere. Unter ziemlich kritischen Blicken verlasse ich den Gipfel und steige dem Kleinen Zwölferkogel entgegen.
Anstieg zum kleinen Zwölferkogel (2611m)
Der Kleine Zwölferkogel ist eine grasige Erhebung, die dem Nordgrat entspringt und diesem über einen Wiesenkamm etwas vorgelagert über dem blauen Wasser des Speichersees liegt. Üblicherweise steigt man wohl auf seiner Nordflanke direkt von der Station der HoheMutBahn auf und spart sich den kleinen Schwenk zur Mute. Jetzt wo ich schon hier bin, lächelt mich aber eine Variante an, die mir rückblickend fast schöner und logischer erscheint. Der Kleine Zwölferkogel entsendet nämlich einen breiten aber deutlichen Grat nach Nordosten, der hier, direkt neben der Mute ansetzt und in gestuftem Gelände ohne große Ausschweife emporführt.
Ich nehme an hier weglos unterwegs zu sein. Doch nachdem ich einen kurzen Felsriegel im I. Grad überwunden habe, finde ich schon eine kleine aber deutliche Pfadspur, die sich elegant zwischen den Blöcken hindurch schlängelt. Jackpot. Ein paar Steinmänner tauchen auch auf. Das Gelände ist überall gangbar – wäre es auch ohne Pfad gewesen. Aber so lässt sich im Autopilot sehr genüsslich aufsteigen, während der Trubel langsam hinter mir verschwindet. Wobei. Eigentlich verschwindet der Trubel sogar ganz schön schnell. Nur 15 Minuten nach meinem Aufbruch vom Gipfel der Mute habe ich den Rücken erreicht und erstmals freie Sicht auf den Nordgrat.
Erster (sichtbarer) Aufschwung (I-II)
Nicht allzu steil, nicht allzu schmal und reichlich blockig. So hebt hier aus der staubtrockenen Wiese der Nordgrat ab. Eine kurze Links-Rechts-Schleife im unteren Teil, dann breites Blockgelände und dann eigentlich schon Gipfelkreuz. Wie will man es da denn auf 2:30 Kletterzeit bringen? Die Lektion kommt noch – fällt aber human aus.
Ich folge dem Wiesenrücken, der sich mehr und mehr zu einem kleinen Grat zusammenzieht und horizontal an den Fuß des Nordgrates führt. In leichter Kraxelei erreiche ich diesen und stürze mich direkt in den Felsteil. Natürlich nicht, ohne vorher einen Helm aufgezogen zu haben. Bildungsauftrag abgeschlossen?
Der Grat mündet in einer kurzen, plattigen Verschneidung, die nach rechts wieder in offeneres Gelände führt. Man kann natürlich hart auf der Kante bleiben – ich begnüge mich aber damit den stets einfachsten Weg zu suchen oder mich einfach von meinem Instinkt leiten zu lassen. So verschwinde ich ziemlich schnell in einem ausgeprägten Flow-Zustand, der dazu führt, dass ich kaum eine Einzelstelle oder Abfolge von Kletterstellen im Detail rekapitulieren könnte. Das sollte man auch im Hinterkopf behalten, wenn man diesen Artikel zur Tourenplanung verwenden will. Für einen groben Eindruck – sehr gerne. Als detaillierte Wegbeschreibung – naja. Ich bin da einfach irgendwie hochgeschrubbt.
Es folgt ein langer, genüsslicher und wenig schwieriger Abschnitt durch die teils hübsche Welt aus Blöcken, Bändern und Verschneidungen. In der recht sanften Flanke rechts des Grates lassen sich diverse Linien spinnen, ohne dabei nennenswerten Schwierigkeiten in Fels oder Exposition zu begegnen. Der Grat ist auch gar nicht so brüchig, wie es aus der Ferne den Anschein hatte. Logisch – den einen oder anderen kleineren Block kriegt man schon bewegt – aber die Kletterei spielt sich dann doch oft auf soliden Platten und Zacken ab. Der Untergrund ist auch dankbar fest – kein sandig-bröseliges Rutschgelände, wie es mir in ähnlichem Ambiente auch schonmal unter die Füße geraten ist.
Ein markanter Wegpunkt ist eine kleine Felsnadel auf etwa halber Höhe des ersten Aufschwungs. Ich halte mich weiterhin in der rechten Flanke, finde einen lässigen Durchschlupf unterhalb der Nadel und eine hübsche, rote Verschneidung. Im ewigen, nordseitigen Schatten der kleinen Aufschwünge lässt sich hier und da eine angenehme Kühle tanken.
Es hat übrigens ziemlich genau 50 Höhenmeter am Grat gebraucht, bis ich nicht mehr auf das Online verfügbare Topo geschaut habe. Es ist in diesem Gelände absolut wertlos. Der Versuch ist ja nett aber es gibt hier viel zu wenig markante Eckpunkte, um sich im Fels zu orientieren. Ferner gibt es auch nicht „den einen Weg“ und auch keinen Vorteil zu versuchen das was dort aufgezeichnet ist nachzuvollziehen.
Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass mir nur noch ein bisschen mehr als 100 Höhenmeter zum Gipfel fehlen. Wenn das Gelände so bleibt, kann ich mir fast überlegen, auf welchen Berg ich danach noch gehe.
Unübersichtliches, schmales Flachstück (II-III)
So kommt es nicht. Obwohl bereits die allermeisten Höhenmeter am Grat überwunden sind und der Gipfel fast schon auf Augenhöhe gerückt ist, wird mich die folgende Passage wesentlich länger beschäftigen und auch psychisch etwas mehr fordern. Der Grat lehnt sich relativ plötzlich zurück und gibt den Blick auf den Gipfel frei. Das ist schön. Denn so sieht man, dass man schon einen Großteil der Strecke und Höhe absolviert hat. Exakt hier wird das Gelände aber auch unübersichtlicher, kompakter und facettenreicher. Ganz so leicht gibt es den Zwölferkogel also doch nicht.
Ich halte mich zunächst links des Grates. Eine Seite, die ich im unteren Abschnitt eher gemieden habe, die hier nun aber hübsche und gangbare Platten mit überschaubarer Exposition anbietet. Eine weitere markante, geneigte Plattenstelle (siehe Bild unten) gehe ich über eine gutmütige Verschneidung in ihrer Mitte an. Bisher bin ich nie nennenswert über dem II. Grad geklettert. Mangels Einblick in den weiteren Verlauf und der vorhandenen Möglichkeit sich hier auch in schweres oder gar gefährliches Gelände zu manövrieren wächst aber doch eine leichte Anspannung in mir an. Jede Entscheidung muss passen, jede Kletterstelle sitzen. Auf schnelle Hilfe brauche ich hier nicht hoffen. Ich hab zwar noch einen zweiten Alleingänger nach mir in den Grat starten sehen, zu dem ich aber mindestens 30 Minuten Vorsprung habe und halte.
Ich bin doch verblüfft, wie viel horizontaler Grat sich hier zwischen dem steilen, leichten Aufschwung und dem Gipfel versteckt. In der Draufsicht ist dieser wie ausradiert. Erst als ich beim Rückweg den Zwölferkogel aus dem Profil sehe, wird mir klar, wie viel Strecke eigentlich zwischen dem Scheitelpunkt des Grates und dem Gipfel liegt. Beinahe mehr Strecke, als ich bisher zurückgelegt habe und mit je nach Wegwahl mit bis zu 5 kleinen Scharten auch vielfach komplexer:
Es folgt eine kurze Querung rechterhand und ein markanter Aufschwung direkt am Grat, der sich gut steigen lässt. Der Fels ist fest, die Tiefblicke stellenweise schon eindrücklich aber für meinen Geschmack nie zu direkt oder zu extrem. Sie lassen sich gut ausblenden. Und auch die Kletterei bleibt weiterhin im moderaten II. Grad.
Eine weitere Erhebung ist erreicht. Und der Gipfel scheint wieder in die Ferne gerückt zu sein. Denn aus dieser Perspektive tun sich neue Herausforderungen und eine doch recht steile Gipfelpyramide auf. Der Grat ist weiterhin schwer zu lesen – es ist aber auch offensichtlich, dass es hier langsam aber sicher weniger ganz leichte Varianten geben wird.
Es verschlägt mich rasch auf die linke Seite und über ein Band erreiche ich einen markanten, kurzen Reitgrat der wieder den Zugang zur Gratschneide vermittelt. Falls ich es noch nicht gesagt habe: sucht diese Stellen nicht und nehmt den Text nicht als Anleitung. Entweder man kommt zufällig dran vorbei oder hat einen anderen Weg gefunden. Ich rühme mich normalerweise für ein relativ präzises Routengedächtnis und habe selten Schwierigkeiten, diese auch auf Papier zu bringen. Hier bin ich aber so blank wie nie zuvor und versuche vor allem anhand meiner Bilder und wenigen Inseln der Erinnerung zu rekonstruieren, was zwischen Kühtai und dem Gipfel passiert ist.
Passend dazu habe ich hier aber auch ein Bild von dem kurzen, plattigen Reitgrat. Eine von zwei Stellen, die mir wirklich ausgesetzt in Erinnerung geblieben ist.
Es geht so dahin. Mal auf dem Grat, mal links vom Grat, mal rechts vom Grat. Es lässt sich rückblickend auch nicht wie sonst häufig üblich eine „typische“ Seite benennen, wie es etwa an der Parstleswand oder Watzspitze der Fall ist. Jeder der kleinen Auf- und Abschwünge ist anders gebaut und mal bietet sich die eine und mal die andere Seite an. Und oft geht es auch einfach direkt über den Grat, der meist die beste Felsqualität aufweist.
Gipfelaufschwung (II+)
Ich bin ehrlich – ich habe langsam genug getobt und freue mich auf den Gipfel, von dem ich gar nicht mehr genau weiß, hinter welcher Erhebung ich ihn nun erwarten darf. Die Hitze fordert langsam ihren Tribut und ich merke, dass der obere Abschnitt mit ein bisschen aus dem Flow und der erhabenen Stimmung der ersten Hälfte gerissen hat. In Summe sind doch ein paar Momente zusammen gekommen, an denen ich mir nicht sicher bin auf dem richtigen oder einfachsten Weg zu sein. Einmal bin ich auch zu weit in die brüchige Nordflanke geraten und wie auf rohen Eiern wieder aus dieser hinaus getappt. Und all diese kleinen Unsicherheiten fügen sich dann doch zu dem Wunsch zusammen, die Tour zeitnah beenden zu dürfen und sich nicht mehr zu fragen, was wohl hinter der nächsten Ecke wartet.
Zuvor darf aber nochmal genau das getan werden. Mir ist noch eine markante Abkletterstelle in die wahrscheinlich letzte Scharte im Kopf geblieben. Ein kurzer, überhängender Abschwung von 2 Metern, der an griffigen, horizontalen Schuppen bewältigt wird. In manchen Berichten liest es sich sogar fast so, als wenn das eine der Stellen im 3. Grad ist. Empfand ich dank verschwenderischer Griffe weniger aufregend – zumal nicht ausgesetzt. Danach weiche ich dem Instinkt folgend nach rechts aus und steige durch ein markantes Plattenschild und eine anschließende Verschneidung aus der Nordflanke wieder an den Grat auf. Wahrscheinlich habe ich hier allerdings auch kurz am 3. Grad gekratzt. Wahrscheinlich wäre es oben auf dem Grat diesmal aber auch einfacher gewesen.
Vor mir baut sich nochmal ziemlich kühne Kletterei am Grat auf. Viel logischer scheint mir ein schmales Band, welches nach rechts über die Nordflanke führt und sich reichlich exponiert auf einer schmalen Schuppe zusammenzieht. Im Nachgang finde ich zumindest ein Video, in dem der Gipfel auf dem selben Weg gemacht wurde. Hier versteckt sich auf jeden Fall die zweite ernsthaft luftige Passage. Das Band führt an ein Eck und mit einem kurzen, kräftigen Zug über dem Abgrund ist wieder einfaches und gestuftes Gelände erreicht.
Unschwer erreiche ich mit wenigen Metern im Blockgelände den Gipfel des Zwölferkogels. Der Rückblick auf den Grat ist enttäuschend. Also zum einen ist das weiterhin Kühtai, welches unfassbar hässlich ist (Zwinkersmiley). Aber auch von hier oben kaschiert der Nordgrat sehr effizient seine Facetten und Kletterstellen. Immerhin – nach Süden gibt es einen brachialen Ausblick. Gegenüber thront der Sulzkogel mit seiner eleganten Silhouette. Dahinter bauen sich die Stubaier und Ötztaler Alpen auf. Sogar die vergletscherten Riesen um die Wildspitze sind zwischen den kleinen Wölkchen auszumachen.
Ich lege eine lange Rast ein. So lange, dass mich der zweite Begeher des Grates am Gipfel einholt und wir uns entscheiden den Abstieg gemeinsam anzugehen. Dieser ist neuerdings ein wenig anders – früher ist man offenbar einfach vom Gipfel nach Süden abgestiegen und dann nach rechts ins Längental gefetzt. Dieses ist aber wegen der Errichtung eines weiteren Speichers offiziell nicht mehr begehbar. Die gigantische Baustelle lädt sowieso nicht zum Besuch ein.
Abstieg über Mittagsköpfe
Der „neue“ Abstieg ist aber auch nicht länger und entpuppt sich als viel angenehmer als angenommen. Da man im weglosen Gelände ohnehin schon fit ist, wenn man diesen Gipfel erreicht hat, kann man das auch noch kurz aufrecht erhalten. Es wird aber markant einfacher.
Vom Gipfel geht es über den kurz luftigen und scharfen Südgrat (ca. 30 Meter, I-II) in Richtung Sulzkogel und dann durch eine etwas brüchige aber mit vager Pfadspur ausgetretene Südflanke des Gipfels. Wir erreichen die Scharte unterhalb der Mittagsköpfe – einer Gruppe von Erhebungen zwischen Zwölferkogel und Sulzkogel. Hier kann man theoretisch direkt nach links in die Flanke absteigen, muss dann aber darauf achten noch einen Felsriegel nach Süden zu überwinden um ins benachbarte Becken zu gelangen. Hält man sich hier direkt nach Osten landet man an ungangbaren Abbrüchen über dem Finstertaler Speichersee.
Da diese Variante noch etwas mehr Schnee und einen eher unschön anmutenden Gegenanstieg beinhaltet, entscheiden wir uns rasch für den Anstieg auf den Nördlichen Mittagskopf, der vergleichsweise zahm und lustig ausfällt. 60 Höhenmeter müssen dafür aufgewendet werden.
Weiterweg zum Sulzkogel-Normalweg (I-II)
Nach einer Überschreitung der unbedeutenden Erhebung ist es ganz logisch, dass man sich nun nach links in die Geröllflanke begibt und hier weiterhin leicht nach Süden querend absteigt.
Ein wenig Schotter und ein paar Gletscherschliffplatten später taucht im Tal bereits der Normalweg des Sulzkogels auf. Wir erreichen eine Schlucht und halten uns relativ nah an dem dort in den Finstertaler Speicher fließenden Bach. Oben kurz auf seine rechte Seite – um ein paar Abbrüche zum umgehen – dann linkerhand in leichter Blockkraxelei zurück in die Normalität. Das Gelände ist zwar alpin aber nirgends wirklich schwer oder steil. 40 Minuten nach unserem Aufbruch am Gipfel stehen wir bereits auf dem Sulzkogel-Normalweg – viel schneller als vermutet und noch einen unbedeutenden Gipfel reicher.
Abstieg nach Kühtai
Der Sulzkogel-Normalweg mündet dann in den Rundweg um den Speichersee. Wir folgen diesem zurück zur Staumauer wo sich unsere Wege trennen. Ich habe leider deinen Namen vergessen – aber das war ein lässiger Abstieg mit klarer Kommunikation und sehr spaßigem Tempo. Danke dafür!
Ich biege unter der Staumauer auf den Wanderweg ab und schlendere zurück zum Parkplatz am Busportal. Ein ziemlich spannender Tag – irgendwo zwischen Hochgefühl und Fiebertraum. Ich war nie überfordert – aber doch an einigen Stellen mehr gefordert als ich es vermutet hatte. Vor allem psychisch. Am Ende des Tages bleibt dann doch eine sehr elegante Linie in grandios wildem Urgestein und die Erkenntnis, dass ich mich in solchem Gelände inzwischen ziemlich wohl fühle und mich auch entsprechend schnell bewege – der Ausflug war nämlich viel kürzer als erwartet. Offenbar habe ich doch nochmal einiges gelernt seit 2023 und das ist auch gut so. Nur wenige Wochen später werde ich jedes Bisschen Gneisgraterfahrung auf einmal und über viele Stunden hinweg abrufen müssen.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Eine wunderschöne und recht ursprünglich anmutende Gratschneide, die sich sehr direkt und unspektakulär erreichen lässt. Trotz der Nähe zur Zivilisation ändert sich der Ton dann doch relativ schlagartig. Am Grat selbst ist routiniertes, seilfreies Steigen im 2. Grad und alpine Umsicht gefordert. Es hilft extrem, wenn man das Gelände lesen kann und eventuelle Verhauer rasch bemerkt und korrigieren kann und dabei auch mal einen 3. Grad wegatmet.
Lange Abschnitte sind absolut weglos und nur sehr punktuell mit Steinmännern markiert. Diese weisen dann auch nicht zwangsläufig den einzigen oder leichtesten Weg. Ein wenig Hilfe bieten auch Steigeisenspuren am Fels – diese können aber auch in einer der zahlreichen Nordwandrouten führen. Die Route lässt sich an Köpfln, mit Schlingen und Friends wahrscheinlich gut absichern – wäre in diesem Begehungsstil aber reichlich lang und kaum effizient machbar. Was ich mir vorstellen könnte, ist den unteren Teil seilfrei zu gehen und dann das obere Flachstück hart auf der Kante am laufenden Seil zu heizen. Das dürfte aber punktuell schwerer ausfallen.
Grundsätzlich bin ich der Meinung fast durchgehend im 2. Grad durchgekommen zu sein. So ’nen richtigen 3er habe ich nicht wahrgenommen. Ich hab bestimmt einige üblichere Abweichungen vom Grat genommen, etwa den Gipfelausstieg über der Nordflanke und an ein paar Stellen auch Varianten gesponnen, die weniger empfehlenswert sind. Der Grat ist eine ideale Übung für größere Vorhaben – etwa den benachbarten Acherkogel Nordostgrat oder den Watzespitze Ostgrat, welchen ich inzwischen auch kenne. Ein wenig sensibilisieren möchte ich trotzdem für das geläufige Topo, welches den Gratverlauf und sein Facettenreichtum in meinen Augen etwas unterschlägt. Man bewegt sich in ernstem, alpinen Gelände und wenn man einen Grat ähnlicher Schwierigkeit und Länge im Kalk gemacht hat, so wird man hier doch von der Andersartigkeit gefordert sein. Mir persönlich sind etwa ein 12-Apostel-Grat, eine Arnspitz-Überschreitung oder ein Jubiläumsgrat vielfach leichter gefallen. Ich bin aber auch deutlich routinierter im Kalk.
Der Abstieg ist chillig – die „neue“ Variante über die SO-Flanke fühlt sich – ohne den alten Abstieg zu kennen – kaum wie ein nennenswerter Umweg an und geht im leichten Gelände rasch von der Hand. Im Frühjahr hat man hier aber bestimmt ein Thema mit Altschnee oder im schlimmsten Fall Lawinen, was bei der Tourenplanung berücksichtigt werden sollte. Steigt man zur Mute über die Staumauer auf, so kann man die Flanke in großen Teilen bereits einsehen und sich ein Bild von der Lage machen.
Zusammenfassung
Immer wieder erfrischend, wie anders es sich anfühlt alleine unterwegs zu sein. Die heutige Tour war dafür ideal – nicht zu schwer, nicht zu kühn. „Klettertechnisch“ absolut in meiner Komfortzone. Aber groß und frei genug um ein wenig zu spüren, wie der Kopf mitarbeitet und wie anders man sich doch bewegt, wenn man jede Entscheidung im Fels nur für sich selbst trifft.
Grasende Bagger – sehr schöne Beschreibung von Kühtais wunderbarer Ursprünglichkeit. 😀
Ansonsten Glückwunsch zu dieser schönen Tour und zu Deiner Entscheidung, diesen Grat in schneefreiem Zustand zu begehen. Ich habe mich vor fünf Jahren einmal anders entschieden, was mir wenig Erfolg und dafür viele Mühen eingebracht hat. 😉