Watzmannüberschreitung + Kopfsprung ins steinerne Meer (T5, I+)
Watzmannüberschreitung + Kopfsprung ins steinerne Meer (T5, I+)

Watzmannüberschreitung + Kopfsprung ins steinerne Meer (T5, I+)

Als kleiner (sehr kleiner) Jan stand ich an einem Sommertag mit meinem Opa auf dem Jenner – lange bevor ich die Berge für mich entdeckt hatte. Natürlich mit der Bahn, natürlich als Familienausflug, natürlich absolut kinderkonform. Und natürlich ist das ganze auch so lange her, dass ich mich an keine Details mehr erinnere. Bis auf einen kurzen Satz, zusammen mit einem Bild, der sich aus irgendeinem Grund bei mir eingebrannt hat und fast schon willkürlich all die Jahre überdauert hat.

Und da hinten ist das steinerne Meer…

Das hat irgendwie Sinn gemacht. Und klang aufregend und erhaben. In meinem Kopf malte ich mir mystische, weite und karge Ebenen aus. Durchzogen von Wellen aus Fels und Stein und gesäumt von einer wilden, versteinerten Brandung. Und seitdem schlummerte dieses Bild irgendwo in mir. Im Herbst 2021 ziehen Tami und ich los zu einer Hüttentour mit knackigem Einstieg, ersten Schwimmübungen im steinernen Meer und einer Landschaft, die erschreckend nah an meiner kindlichen Fantasie liegt. Es wird einer dieser Orte bleiben, an die ich immer wieder zurückkehre. Und ein Flecken Erde, das mich ohne konkreten Grund immer ein kleine Stück tiefer berühren und faszinieren wird. Und auch der Text entstand aus verschiedenen Gründen mit der einen oder anderen Träne im Auge.

Einfach nur durchs steinerne Meer wandern war mir irgendwie zu zahm. Ich hatte erst einige Wochen zuvor am Wörner meine Angst vor alpineren Touren im I. – II. Schwierigkeitsgrad überwunden, in einigen Klettersteigen mit der Höhe gespielt und eine grundsätzliche Faszination für besondere Berge entwickelt. Und – all den Hass und Tadel, den der Berg und viele ihrer Aspiranten abbekommen, ignorierend – ist und bleibt der Watzmann ein solcher Berg. Vielleicht liegt es an der, den Berg betrachtend sehr naheliegenden, Geschichte vom versteinerten Herrscher, seiner Frau und seinen Kindern. Vielleicht auch einfach an der bizarren Silhouette oder der schieren Gewalt des Berges aus dem Tal. Er ist einfach eine dieser Gestalten, die man nicht übersehen und dann auch nicht mehr vergessen kann.

Mittlerweile gibt es einige, bestimmt auch einsamere Routen an und um den Watzmann, die in mein Beuteschema fallen würden. Doch 2021 ist die Watzmannüberschreitung unser Kaliber und unser Ziel. Und das auch durchaus mit einer Brise Respekt. Wirklich gut einzuschätzen ist die Route nicht. Viele Berichte verlieren sich in der Superlative. Extrem exponiert, absolut kein reiner Klettersteig, richtig alpin. Videos mit GoPro und 360° Kamera zeigen brutal scharfe Grate und sich überschlagende Ostwände. An anderer Stelle finden sich Untertreibungen. Ein Kinderspiel, ein Berg der durch Stahlseile zum Spielplatz verkümmert ist, eine Modetour. Was stimmt?

Wir haben den Watzmann entschärft. Wohlwissend, dass wir am Tag der Überschreitung noch die eine oder andere zusätzliche Hürde nehmen müssen. Mit der Verfügbarkeit der Hütten, der groben Auseinandersetzung mit unserem Können und Nicht-Können und ein wenig Fantasie, haben wir uns die folgende Runde in den Kopf gesetzt:

  1. Zustieg von Ramsau zum Watzmannhaus
  2. Überschreitung Watzmann und Gegenanstieg zum Ingolstädter Haus, da die Wimbachgrieshütte voll ist
  3. Weiterweg zum Riemannhaus
  4. Überschreitung der Schönfeldspitze und Weiterweg zur Wasseralm
  5. Abstieg von der Wasseralm zum Hintersee, Rückfahrt mit dem Boot über den Königssee

Der 2. Tag fällt, obgleich wir den Watzmann nicht wie ein wahrer Bergsteiger an einem Tag überschreiten, in die Kategorie “relativ obszön” und die gesamte Tour ist und bleibt wohl eines meiner schönsten Bergerlebnisse. Aber jetzt im Detail.

Zustieg zum Watzmannhaus

Wir starten, nachdem wir uns in Ramsau ein erschreckend preiswertes Jahresticket gekauft haben, irgendwo. Also nicht da, wo wir eigentlich starten wollten. Sondern irgendwo anders. Weil voll. Egal wir haben ja heute fast nichts mehr vor. Der Start hätte trotzdem besser sein können. Die 10x auf der Landstraße hin und her düsen und die verzweifelte Parkplatzsuche ein gutes Stück von unserem Startpunkt entfernt zehren an den Nerven und es fühlt sich etwas unwirklich an, als wir das Auto absperren, die viel zu schweren Rucksäcke schultern und im sonnigen Ramsau loslaufen.

Der Normalweg zum Watzmannhaus, unserem ersten Etappenziel ist an Bescheidenheit kaum zu übertreffen. Die eigentlich moderaten 1300 Höhenmeter treten wir mit unserer Wegwahl fast ausnahmslos in eine steile, waldige Forststraße hinein. Keine Ahnung wer sich das ausgedacht hat. Da wir beide heute nicht gut in Form sind, kommt keine wirkliche Dynamik auf und von der Magie, die man in diesen Ort und diese Tour projiziert hatte ist nur wenig übrig. Die Zeit zwischen den Bäumen schürt auch erste Zweifel. Haben wir uns da vielleicht zu viel vorgenommen? Sind wir morgen wirklich fit genug?

Auf den letzten Metern lichtet sich der Wald, der Tiefblick ins Tal wird langsam etwas besser und der wolkenumzogene Vorgipfel vom Vorgipfel vom Vorgipfel des Watzmanns taucht imposant und abweisen in der goldenen Abendsonne vor uns auf. Die Dimensionen der gigantischen Felsblöcke, unwirklich symmetrischen Ausbrüche und makellosen Platten, die diesen Gebirgszug schmücken sind auf Bildern kaum festzuhalten und mit (leider wirklich) letzter Kraft erreichen wir das Watzmannhaus.

Über die Hütte kann ich nur wenig berichten. Wir werden sehr militärisch empfangen. Ein junger Mitarbeiter in unserem Alter hat offensichtlich einigen Spaß dabei, die üblichen Hüttenregeln besonders laut und streng vorzutragen und dann, immer eine kleine Gruppe im Schlepptau, die Zimmerverteilung zu machen. Eigentlich ein geiler Studentenjob. Und bei dem Andrang der hier herrscht vermutlich auch notwendig. Man merkt an allen Ecken und Enden, dass diese Hütte auf Masse getrimmt ist. Auf der einen Seite ist das gut, denn so entsteht auch kein unnötiges Chaos und man findet sich schnell zurecht. Auf der anderen Seite kommt hier für mich nur wenig von dem Charme und der Ursprünglichkeit anderer Berghütten durch und man fühlt sich am Ende des Tages nur wie einer von vielen, die etwas Geld ausgeben um am Watzmann zu schummeln. Wozu wir ja auch zählen. Das Publikum begeistert mich trotzdem wenig. Zu viel Geschwätz und zu viel Alkohol.

Mich zieht es nach dem Essen nochmal raus in die Stille eines irren Sonnenuntergangs. Irgendwie hat es an diesem Abend keiner für notwendig gehalten dafür vor die Türe zu gehen. Und so sitze ich eine gute Zeit ungestört abseits der Hütte, beobachte die rot leuchtenden Wolkentürme am Hochkalter und das trübe Dämmerlicht in den Tälern.

Aufstieg zum Hocheck

Wer schonmal mit mir wandern war weiß, dass ich keine Menschen mag und Routen gerne etwas abseits der allgemeinen Geschäftszeiten abpasse. So auch der Plan am Watzmann. Den Vorsprung, den wir durch unsere verwerfliche Nacht am Watzmannhaus haben irgendwie ausnutzen und sich direkt Nachts an die Spitze des Geschehens setzen. Ein Hüttenmitarbeiter hat uns am Abend noch “den besten Tag der Saison” prophezeit. Den müssen wir nutzen.

Um 4:00 klingelt der Wecker und wir versuchen so leise wie möglich aus dem 4er-Zimmer zu schlüpfen. Die beiden wollen auch in der früh auf das Hocheck und von dort ohne Überschreitung zur Wimbachgrieshütte. Den Berg besteigen und dann um ihn herumlaufen. Auch ein wilder Plan. Ich würde gerne wissen, wie es ihnen ergangen ist – zumal wir im Laufe des Tages noch etwas erfahren, was wohl vielen die Stimmung und Pläne zerstört haben wird.

Die gegenüberliegende Webcam am Windbeutelbaron zeigt zwei kleine Lichtpunkte über dem Watzmannhaus in völliger Schwärze. Das sind wir. Attacke! Den Weg behalten wir für genau 3 Kurven unter den Schuhen. Dann wird das Gelände so felsig, dass wir im Licht der Stirnlampen keine wirklich offensichtliche Spur oder Markierung mehr finden. Wir steigen einiges gerade auf. Leichte Schrofenkraxelei – wenn überhaupt – und die richtige Richtung ist kaum zu verfehlen. Irgendwann kreuzt unser Weg auch wieder eine Markierung und Steigeisenspuren am Fels, wenige Minuten danach passieren wir eine kurze, steile Stufe mit Stahlseilsicherung. Wir werden langsam eingeholt. Aus dem Tal zieht eine Perlenkette an Stirnlampen hinauf. Man sieht, wie die Lichter aus dem Tal an der Hütte vorbeiziehen. Und dort tauchen nun auch im Minutentakt neue Stirnlampen auf und Reihen sich ein. Ich habe sowas bis heute nicht mehr gesehen. Auch nicht im Höllental. Wir haben etwa 45 Minuten Vorsprung. Wir drehen uns um und steigen weiter. Hier hat man zum ersten Mal das Hocheck, die Nordspitze des Watzmannmassivs im direkten Blick.

Gegenüber tauchen die ersten Sonnenstrahlen den Hochkalter in tiefrotes Licht. Ob dort wohl gerade auch schon jemand unterwegs ist?

Der Berg zieht sich langsam zusammen und mündet in einer immer schmaler werdenden Flanke, die direkt zum ersten Gipfelkreuz führt. Links gibt es bereits einige eindrucksvolle Tiefblicke in das Watzmannkar und sehr plötzlich ist die steile, zermürbende Forststraße von gestern vergessen. Wir erreichen das Hocheck im Sonnenaufgang. Es sind mittlerweile ein paar schnellere Bergsteiger zu uns aufgeschlossen und machen hier eine Pause – in die Überschreitung ist bisher noch niemand eingestiegen. Wir machen auch eine kurze Rast, essen eine Kleinigkeit und betreten den Grat.

Die Watzmann-Überschreitung (A/B, I-II)

Der Watzmann zeigt direkt was er kann. Auf den ersten Metern geht es bereits über eines der schärfsten Gratstücke, welches durch die Stahlseile dann doch nicht so scharf ist. Eine leichte Stufe abkettern, etwas Geröll queren, wieder ein Stück hinauf. Das läuft! Während die Sonne das steinerne Meer in goldenes Licht taucht, arbeiten wir uns schnell und sicher von Markierung zu Markierung. Richtig mitdenken muss man bei dieser Tour nicht. Entweder zeigen einem die üppigen Pfeile und Punkte oder die nächsten Stahlseile den Weg – und wenn das versagt gibt es trotzdem stets nur eine wirklich logische, ausgetretene Linie. Der Fels ist direkt am Grat – also immer dort wo “ausgesetzter” gekraxelt wird fest und griffig. Weniger vertrauenswürdig wird es nur bei den zahlreichen Ausweichmanövern in die Westflanke, die aber weniger steil ist als ich dachte. Das Wimbachtal mit seinen charakteristischen Schuttströmen liegt zwar gute 1500 Meter unter uns, die Westwand wirkt aber durch viele Türmchen und Rinnen sehr strukturiert und ich kann mir vorstellen, warum einige (erfolglose) Notabstiege über diese Seite versucht wurden.

Nach kurzer Zeit passieren wir das Felsenfenster – echt schon hier? Man balanciert kurz über eine schmale Felsbrücke und steigt dann einem kurzen Stahlseil wieder hinab in den Schotter. Die Zeit vergeht wie im Flug und gefühlt nur wenige Minuten nach unserem Start am Hocheck erreichen wir die Watzmann-Mittelspitze. Der Rückblick zum Hocheck ist gruselig. Nicht wegen dem schmalen Grat, den wir eben begangen sind sondern wegen der puren Masse an Menschen, die aus der Ferne gesehen wie Ameisen auf dem Gipfel und dem Beginn des Gratverlaufs kleben. Das muss die absolute Prime-Time sein. Wir haben immer noch unsere 45 Minuten Vorsprung und sehr wenig Ambitionen diesen aufzugeben.

Der zweite Teil der Überschreitung kommt mir gleichermaßen schwieriger und alpiner vor. Direkt hinter der Mittelspitze führt die schmale Spur zum ersten Mal so richtig über die Watzmann Ostwand, die mit ihren 1800 Metern Dimensionen erreicht, die ich bisher in den Bergen noch nicht gesehen habe. Sie fällt zwar auch nicht senkrecht ab und ist vermutlich auch einen Hauch weniger steil als in meiner Fantasie, aber der Tiefblick auf den Königssee und die puren Dimensionen dieser Wand sind dennoch beeindruckend. Hier folgen auch ein paar für mich nennenswertere Stellen – die ich spannender fand als das schmale Gratstück kurz vor der Südspitze, welches man wohl zu Genüge aus Film und Fernsehen kennt. Ein über der Ostwand exponierter Quergang führt ungesichert zu einer ebenso seilfreien Abkletterstelle. Dann geht es in eine Rinne, die zwar nicht ausgesetzt, mir aber trotzdem als relativ unschön in Erinnerung geblieben ist. Gerade mit dickem Rucksack nicht ganz trivial, eng, bröselig. Wir kommen nach wie vor gut voran und genießen das tolle Gelände im besten Wetter.

Das Gelände entspannt sich wieder etwas. Man steigt ein gutes Stückchen ab. Wohlwissend, dass man das gleich alles zur Südspitze wieder aufsteigen darf. An einem trittarmen Eck, um das ein Stahlseil führt, verwende ich mein Klettersteigset. So richtig gebraucht haben wir es bisher nicht. Tami sowieso nicht und bei mir auch eher aus Trotz um das zusätzliche Gewicht. An diesem Eck fühlt es sich aber kurzzeitig trotzdem sicherer an. Nochmal mitnehmen würde ich es aber auch nicht. Eines der ganz großen Dilemma meiner bergsteigerischen Laufbahn. Die Sicherungen haben hier wirklich eher symbolischen Charakter und hängen willkürlich über den Grat verstreut. Wer sich in einer II ohne Sicherung nicht wohl fühlt, findet auf jeden Fall einige Problemstellen. Aber zurück zu uns. Denn wir fühlen uns immer noch wohl.

Der Pfad windet sich hier um Türmchen und Nadeln, die meiste Zeit ist man auf der rechten Seite. Nur selten verschlägt es einen nach Links über die Ostwand. Dann führt die Spur über das wahrscheinlich schärfste Gratstück der Überschreitung, welches nach 2 Stunden am Watzmanngrat aber nicht mehr wirklich hervorsticht. Für einige Meter ist man ziemlich direkt auf der, hier relativ schmalen, Gratschneide. Das am Boden liegende Stahlseil ist hier nur wenig hilfreich. Entweder man hängt sich seitlich etwas neben den Grat und nutzt das Stahlseil – allerdings hier auch keine wirklich naheliegende Lösung – oder man balanciert kurz oben drüber. Eine gute Portion Exposition ist es so oder so. Danach ist das Gröbste dann aber wirklich geschafft und es geht sehr kurzweilig, ansteigend auf die Südspitze des Watzmanns. Hier eröffnet sich ein wilder Blick hinab in den Talschluss des Wimbachtals. Gegenüber das steinerne Meer. Links unter uns, weit unten im Tal das schillernde Wasser des Königssees. Und direkt auch ein prüfender Blick auf den Weiterweg. Hui da haben wir uns noch gut was vorgenommen heute.

So richtig Zeit für Entspannung ist hier nicht. Zwei zeitgleich mit uns am Gipfel eintreffende Bergsteiger machen ein sehr unvorteilhaftes Foto von uns und nach einem kurzen Snack und Schluck Wasser geht es weiter. Wenn wir den, angeblich extrem langen und zähen, Abstieg von der Südspitze gemeistert haben liegt immer noch ein Gegenanstieg von 950 Höhenmetern und 7 Kilometern vor uns. Das könnte bei entspanntem Tempo auch eine absolut legitime Tagesetappe sein.

Abstieg von der Südspitze (I-II)

Der Abstieg beginnt für uns gut und flüssig. Es geht in steilen Serpentinen durch Schotter und einige Stufen und Rinnen hinab. Gelände, dass nach dem Grat wirklich nicht mehr großartig zu beeindrucken weiß. Eine gewisse Konzentration muss hier aber trotzdem aufrecht gehalten werden. Mithilfe von Stahlseilen absteigend hat man dann aber doch das Gefühl, dass man dem Tal schnell näher kommt und der Abstieg seinem Hype nicht gerecht wird. Nicht zu früh freuen. Kommt noch.

Nach dem schnell überwundenen Felsgelände folgt ein oben sehr steiles Schotterfeld. Vielleicht auch eine nette Erinnerung daran, wie viel loses Zeug oben noch darauf wartet hier runter zu fliegen. Und daran, dass man direkt hier vielleicht noch keine Brotzeit machen sollte. Was folgt ist dann doch eine Hausnummer für sich – denn an diesem Punkt hat man mit gefühlter Souveränität gerade so 300 Höhenmeter geschafft. Das heißt hinab in die weißen Schuttströme sind es noch über 1000 Höhenmeter und das Gelände bleibt nun für eine gnadenlos lange Zeit unverändert. Ein schmaler, steiler und bröseliger Pfad schlängelt sich durch unstrukturierte Schrofen. Steil und lose genug, dass man nicht mal schnell runterlaufen kann. Eintönig genug um sich dabei reichlich zäh anzufühlen. Unterbrochen wird der stetige Rhythmus aus Kurven und Rutschen von kurzen Felsstufen, die meist mit Hilfe von Stahlseilen überwunden werden. Über jeder Stufe ertappe ich mich bei dem Gedanken “Ui jetzt tut sich was, dahinter sieht es anders aus” nur um mich einige Meter weiter wieder im selben Gelände vorzufinden. Während wir uns an der Südspitze noch als ziemlich fit verstanden haben verlieren wir hier ganz deutlich an Kraft und Nerven.

Hier gibt es auch eine ausgeschilderte Möglichkeit an einem Bach Wasser nachzufüllen. Ein im Sommer sonst rares Gut am Watzmann. Und bestimmt auch nur solange der Vorrat reicht. Wir haben Glück und hören es noch plätschern. Weniger Glück haben wir mit unserer Beurteilung der Situation.

Wasser nachfüllen? Neee oder? Reicht doch noch

Nein tut es nicht. Depp.

Wir stapfen stur weiter und lassen die Wasserquelle links (äh hier tatsächlich rechts) liegen. Wir haben zwar in Summe schon noch einiges an Wasser dabei und wollen Gewicht sparen – werden die Entscheidung aber trotzdem bald genug bereuen. Mittlerweile ist die sanfte Morgensonne vom Grat verschwunden und stattdessen brät eine spätsommerliche Mittagshitze in die staubige Bergflanke. Ganz langsam kommt wieder etwas Bewegung ins Gelände, die ersten Latschen säumen den Wegrand und zum ersten Mal seit einiger Zeit scheint der Talgrund wirklich ein Stückchen näher gekommen zu sein. Der Weg macht ausladendere Kurven und führt auf teils schmalen, bröseligen Rippen durch eine deutlich erodierte Landschaft. Immer wieder wird es ausgesetzt und wir treffen kurz vor dem Wimbachtal auf eine Gedenktafel. Irgendwie berührt sie mich mehr als eine Tafel am Gipfel oder in einer Felswand. Hier war die Tour fast schon vorbei. Hier war man mit dem Kopf vielleicht schon ganz woanders. Vielleicht daheim bei den Geliebten. Auf jeden Fall nicht mehr auf dem Watzmann – und nicht mehr in akuter Absturzgefahr.

Gegenanstieg über das Hundstodgatterl

Nach einer gefühlten Ewigkeit treten wir aus dem Wald in die karge Schotterwüste des Wimbachtals. Schön ist es hier – aber irgendwie auch etwas trostlos. Von einer anderen Gruppe erfahren wir im Abstieg, dass die naheliegende Wimbachgrieshütte kurzfristig schließen musste, weil der Hüttenwirt an diesem Tag einen Herzinfarkt hatte. Keine Garantie für Richtigkeit. Und neben einer hoffentlich inzwischen abgeschlossenen guten Genesung, bleibt zu wünschen, dass es an diesem Tag auch für Bergsteiger die hier unterkommen wollten gut weiterging. Wir hatten ohnehin keinen Platz bekommen und wegen der angespannten Coronalage auch nicht darauf pokern wollen spontan einen Schlafplatz zu kriegen. Stattdessen stehen wir nun vor der endgültigen Flucht nach vorne – und einem Schild, dass uns einige Entscheidungen in der Vergangenheit bereuen lässt:

Ingolstädter Haus: 5 1/2 Stunden

Keine Pointe. Ich weiß nicht ganz womit ich gerechnet habe. 2 1/2 Stunden? 3 Stunden? Vielleicht 4 Stunden? Zumal wir mit fortgeschrittener Tageszeit und allmählicher Erschöpfung sehr nah an den Angaben auf dem Schild sein dürften. Alles andere als rosige Aussichten. Vor allem ohne Wasser. Wir halten kurz inne und fragen uns ernsthaft, ob wir das noch können und wollen. Alternativen haben wir aber sowieso nicht wirklich. Außer aus dem Wimbachtal hinauszulaufen und den Kurzurlaub am ersten Tag abzublasen.

Wir gehen weiter. Wirklich langsam, wirklich nicht mehr ganz frisch. Und das sieht man uns vermutlich auch an. Am Trischübel, einem Sattel gute 350 Höhenmeter über dem Wimbachgries habe ich meinen Tiefpunkt. Wir sind noch nicht weit gekommen, es ist brüllend heiß und der Weg entpuppt sich schnell als anstrengender als gedacht. Die Luft staut sich zwischen den dichten Latschenwäldern. Zwar ist alles hübsch beschildert und markiert aber es gilt immer wieder steile Kalkplatten und erdige Stufen zu überwinden. Ich bin wirklich bereits ein gutes Stück über dem Limit, das ich in den längsten Wanderungen bisher an Erschöpfung gespürt habe. Wie es Tami gehen muss. Ich habe die Berge vor der Tür und sammle doch etwas häufiger ein paar Höhenmeter. Wir funktionieren nur noch. Die Landschaft ist wild und schön – entzieht sich aber weitestgehend meiner Wahrnehmung. Zum Glück habe ich ein paar Fotos gemacht. In der Hundstodgrube, einer Senke kurz vor dem wirklich zähen und steilen Aufstieg zum Hundstodgatterl werden wir von einer größeren Gruppe Wanderer überholt. Vermutlich geben wir wirklich kein gutes Bild (mehr) ab. Denn als wir die Gruppe wenig später bei einer Trinkpause einholen, sprechen sie uns an.

Wo wir noch hinwollen. Ob wir noch Wasser haben.

Und während uns doch einige Jahre Lebenserfahrung trennen haben wir das selbe Ziel. Zum Ingolstädter Haus. Am Besten noch bevor die Reservierungen verfallen. Wir erzählen auch wo wir herkommen – dass wir heute schon am Watzmann waren und jetzt dann zielstrebig auf die 2000 Höhenmeter zulaufen. Dass wir gute 12 Stunden auf den Beinen sind. Wir fragen auch, ob sie uns an der Hütte schonmal anmelden können, damit unser Schlafplatz nicht weggegeben wird. Wir würden noch ein wenig brauchen und einfach unser Tempo machen. Lange Rede, kurzer Sinn. Wir geben ein perfektes Bild ab. Das Bild, eines jungen Pärchens, dass auf Instagram vom Konzept “Abenteuerurlaub” gehört hat und dann einfach mal drauf los gestapft ist.

Süß und naiv.

Sich absolut übernehmend. Ob das zutreffend ist, kann jeder selbst beurteilen. Wir haben den Eindruck hier auf jeden Fall erweckt und wohl auch nicht mehr die Energie gehabt die Gruppe vom Gegenteil zu überzeugen. Nachdem sie ein Stück vorgehen – ich bin mir sicher wir waren das Gesprächsthema Nummer 1 – warten sie auf uns und präsentieren ihren Plan:

Wir gehen nun in der Gruppe mit. Der Wanderguide geht vor, wir gehen in die Mitte. Einer nimmt zusätzlich zu seinem Rucksack noch den von Tami auf die Schulter. Eine für meinen Geschmack dann doch eher grenzwertige Idee, die nur unter Beimengung einer Menge Testosteron entstanden sein kann. Wirklich gesund kann das nicht gewesen sein. Das etwas unpassende Rollenbild vom großen, starken Mann und kleinen, schwachen Mädchen mal beiseite geschoben – zusätzliche 10 Kilogramm einseitig über der Schulter zu schleppen bringt uns nicht allzu viel bis auf ein schlechtes Gewissen. Aber keine Widerrede. Das ist jetzt so.

Wir stapfen weiter. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Es ist sicher gut gemeint und ich will nicht undankbar sein. Fühle mir aber auch nicht wirklich geholfen, zumal ich uns nicht in Not gesehen habe. Wir haben beide Reserven, wir haben den Plan beide zusammen geschmiedet und hätten uns im leichten Gelände alle Zeit der Welt lassen können. Ja es war zach, ja wir waren fertig. Aber dafür macht man das Ganze ja auch. Vielleicht hätten wir in unserem Tempo nicht mehr á la Carte essen können, aber das sind Luxusprobleme und kein Anlass für so eine überschwängliche Rettung. Ich fühle mich etwas in die Rolle des unreflektierten Macho-Freundes gedrängt. Und Tami maßlos unterschätzt. Und alles was wir an dem Punkt machen können, ist dieses Bild so dankbar wie möglich hinzunehmen und brav mitzutrotten. Wir sind eh in der Unterzahl.

Es passieren noch einige Dinge. Es wird endlich plattig und kraxelig. Ein mir bekannter, für den Rest der Gruppe aber völlig überraschender, Abstieg von etwa 200 Höhenmetern ins steinerne Meer wartet hinter dem Hundstodgatterl. Die alte Kunst der schwarzweiß ausgedruckten Kartenausschnitte hat auch seine Schattenseiten. Wir trennen uns wieder und Tami und ich gehen vor, während der Rucksack mit der Gruppe zurückfällt. Auch irgendwie komisch. Wir sehen ein Murmeltier. Yay. Und wir sind halt durch.

An der Hütte angekommen bestellen wir Essen und ich laufe der Gruppe wieder entgegen um den Rucksack abzunehmen. Eine leider unnötige Geste meinerseits – bekommen tu ich ihn nämlich nicht. Als alle an der Hütte sind und wir eine Runde ausgeben wollen ist das auch falsch. Es wäre selbstverständlich, dass man anderen in Not am Berg hilft und solange wir was daraus lernen, ist alles gut. Gemischte Gefühle.

Vom Ingolstädter Haus zum Riemanhaus

Wir wachen kurz vor Sonnenaufgang auf und wir beschließen kurz vor die Tür zu gehen. Mit der Idee sind wir natürlich nicht alleine und so hat sich wahrscheinlich die halbe Hütte auf der Terrasse versammelt um in der morgendlichen Stille die glühenden Weiten zu bewundern.

Inzwischen hat Gerüchten zufolge der Hüttenwirt gewechselt – aber das Frühstücksbuffet am Ingolstädter Haus war anders wild. Ich hab in Hotels schon wesentlich schlechteres gesehen und bin fast froh, dass heute keine wirklich große Tour ansteht. Gestärkt mit leichter Tendenz zum Verdauungskoma geht es raus in einen sonnigen Tag zwischen den ewigen Felsplatten. Wir folgen dem Eichstätter Weg zum Riemanhaus, unserer nächsten Unterkunft. Und können mit relativ wenigen Höhenmetern und kurzer Distanz die Landschaft genießen. Ich liebe diese Ecke wirklich. Es ist genau wie ich es mir damals auf dem Jenner vorgestellt habe. Im Großen die stetigen Wellen aus Felsen und die unübersichtliche Weite. Man kann zwar einen Punkt anpeilen und eine Entfernung abschätzen – der Weg dort hin wird aber nicht leicht und nicht gerade sein. Man kann überall und nirgendwo gehen. Hinter jeder Kuppe öffnet sich ein neuer Blick, jeder Schritt ist auf seine Art spannend. Mal springen wir von einer Platte auf die andere, mal folgen wir kleinen Rippen und Graten, mal wandern wir durch Schluchten und mal passieren wir dunkle, tiefe Höhleneingänge. Es ist anderes wandern als in den bayrischen Voralpen.

Wir sind zwar angeschlagen von der gestrigen Etappe aber heute gibt es wirklich nicht viel zu tun. Beinahe ein Pausetag – und dann aber ein unfassbar schöner. Über lange Strecken sind wir völlig alleine hier draußen und in dem grauen Universum, das uns umgibt, sind keine Zeichen von Zivilisation zu sehen. Gegenüber lächelt mich regelmäßig die Schönfeldspitze an. Diese morgen zu überschreiten wäre ein Traum. Und wird auch ein solcher bleiben.

Kurz vor dem Riemannhaus gibt eine Einsenkung im Grat, der das Plateau umrahmt, einen Blick auf die Welt außerhalb frei. Da dieser Referenzpunkt bisher gefehlt hatte, wird uns hier erst klar wie weit oben wir eigentlich sind. Klar – auf dem Papier waren wir den ganzen Tag über 2000 Metern unterwegs. Aber gesehen hat man davon nichts. Umso eindrücklicher der kurze Blick ins grüne Tal, die kleinen Häuser und Straßen und die Hohen Tauern am Horizont. Daneben der kleine aber formschöne Sommerstein und unser Tagesziel, welches wir zügig erreichen.

Ganz links das Riemannhaus, daneben der Sommerstein
Riemannhaus

Wir kommen an und beziehen unser Lager unterm Dach. Neben der netten Atmosphäre gibt es hier zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder Handyempfang und bietet die Gelegenheit für ein paar obligatorische Lebenszeichen an die Familie und den Wetterbericht. Es schaut nicht gut aus – der Folgetag kommt mit Regen und einem gewissen Gewitterrisiko am Nachmittag daher. Da es jetzt bereits langsam zuzieht und windiger wird halten wir es nicht allzu lange auf der Terrasse aus. Dennoch lang genug um ein paar neue Bekanntschaften zu machen. Drei Jungs in meinem Alter vom Nebentisch – einer von ihnen in seinem Schlafsack durch die Hütte hüpfend. Gute Sache, seine Hose zu waschen. Schlechte Sache, danach festzustellen, dass man nur eine dabei hat. Und dann wäre da noch Rülpsi, ein kleines und sehr gesprächiges Lamm, dass der Hütte wohl im Frühjahr zugelaufen ist. Der Trockenraum wurde deshalb zum provisorischen Stall umgebaut und unsere ebenfalls gewaschenen Klamotten hängen irgendwie zwischen Stroh und Gerätschaften rum.

Määääh!

Die drei von der Terrasse sind super drauf und wir spielen auf Empfehlung der Hüttenwirtin zusammen ein dort lagerndes Kartenspiel. Eine gute Abwechslung zu Canasta, welches die Tour bisher ganz arg dominiert hat. Dabei geht auch das eine oder andere Bier über den Tisch – nicht für uns aber für unsere Bekanntschaften (minus Rülpsi). Ein wenig später kommt Max und mir die heitere Idee auf, vor dem Abendessen noch kurz auf den Sommerstein zu joggen. Mein Gegenüber haut also sein noch ziemlich volles Weizen weg und wir flitzen zu zweit und ohne sich weiter abzusprechen in gesunder Trailrunningmanier die knapp 200 Höhenmeter auf den kleinen aber eindrucksvoll gelegenen Gipfel. Ich hätte nach seiner Nummer fragen sollen. Pünktlich zum Essen, maximal eine halbe Stunde nach unserem Aufbruch sind wir wieder an der Hütte.

Mitten im Abendessen wird mein Name ausgerufen – es gebe ein Problem. Kann ich mir so zwischen den Gängen zwar nur wenig drunter vorstellen, als ich dem Hüttenwirt hoch ins Lager folge erklärt er mir aber, dass wir umquartiert werden. Das Riemannhaus nutzt scheinbar, verbunden mit beeindruckendem Aufwand, ein jedes Jahr unterschiedlich ausgeprägtes Altschneefeld im steinernen Meer als Wasserquelle und speichert das aufbereitete Wasser dann in einem Tank im Dach. Besagter Tank ist genau über unseren Betten undicht und unsere Schlafsäcke nass geworden. Was dem Hüttenwirt extrem unangenehm ist endet für uns in einem Upgrade auf ein Einzelzimmer mit dicken Decken. Vielen lieben Dank für das spontane Angebot – es gibt wirklich schlimmere Schicksale. Unsere Schlafsäcke wandern in Rülpsi’s Reich im Trockenraum. In dem Zuge erkundige ich mich auch nach seiner Einschätzung zum Wetter und der Schönfeldspitze und bekomme ein klares Nein. Der Zeitaufwand sei nicht zu unterschätzen und die Hochebene in Gewitterwolken ein ziemlicher Hexenkessel. Ich glaube ihm. Wir haben auch ohne den Gipfel eine ordentliche Etappe vor uns, in der wir Wind und Wetter fast chancenlos ausgesetzt sind.

Vom Riemannhaus zur Wasseralm

Inspiriert von dieser Einschätzung stellen wir einen sehr frühen Wecker und wollen bereits im Dunkeln aufbrechen, um möglichst früh aus dem steinernen Meer raus zu sein. Als der Wecker klingelt, höre ich es draußen plätschern. Ein Blick aus dem Fenster bestätigt – es regnet in Strömen. Und wenn ich mich richtig an die paar wachen Momente der Nacht erinnere, war es da auch schon so. Hilft nichts. Wir versuchen uns zu dieser Zeit so leise wie möglich raus zu schleichen. Die Sonne geht erst in 1 1/2 Stunden auf und andere Frühaufsteher gibt es bei dem Wetter nicht.

Um 5:20 stehen wir vor der Tür und alles war umsonst.

MÄÄÄÄH

Rülpsi’s engelsgleiche Stimme hallt durch die Nacht. Erst ganz leise, dann immer lauter werdend. Und einige Sekunden später rauscht das kleine Lamm aus der Nacht herbei in der Hoffnung noch durch die Tür in die Hütte schlüpfen zu können. Wir holen unsere immer noch etwas nassen Sachen aus dem Trockenraum, Tami führt letzte Verhandlungen mit dem Schaf und als alles geklärt ist geht es hinaus in die schwarze Nacht. Schon nach wenigen Metern verschwindet das Riemannhaus hinter einer Felsstufe und wir sind wieder alleine. Wir hangeln uns von einer Markierung zur nächsten. Diese sind hier üppig vorhanden. Noch üppiger als im Rest von Österreich. Und wenn man bedenkt, wie schnell man hier im Nebel mangels natürlicher Orientierungspunkte verloren gehen kann, hat das bestimmt auch seine Berechtigung. Für uns passt das gut und wir arbeiten uns Stück für Stück durch das stetige Auf und Ab. Der Regen hat genau aufgehört, als wir losgelaufen sind. Stattdessen ist jetzt alles nass, dampfig und trüb. “So hätte die Schönfeldspitze bestimmt keinen Spaß gemacht” denke ich und bin nicht allzu traurig, als wir die Nordabbrüche des formschönen Gipfels queren. Als es langsam heller wird sehen wir die geschlossene Wolkendecke nur einige hundert Meter über uns Hängen. Teilweise kriechen dicke Nebelfelder aus Mulden oder Scharten hinauf in das Plateau. Ich hätte damit gerechnet, irgendwann andere Stirnlampen zu sehen, aber wie es scheint ist bisher keiner unterwegs. Der Tag ist sehr still. Wir sind es im Vergleich zu den letzten Tagen auch. Und so wirkt die Landschaft besonders intensiv aber auch etwas bedrückend.

Der Gegenanstieg in die Hochbrunnensulzenscharte ist bereits aus der Ferne zu sehen und beschränkt sich eigentlich nur auf einen, kurzen Aufschwung von knapp 200 Höhenmetern. Dieser hat es aber irgendwie in sich. Zumindest für uns an diesem Tag. Gegen Ende wird es einmal kurz sehr steil und sandig, man rutscht immer wieder im nassen Kies ein kleines Stückchen zurück. Als ich das Schild, welches den höchsten Punkt markiert vor mir auftauchen sehe jubel ich innerlich auf. Ein letzter Blick zurück in den westlichen Teil des steinernen Meeres, das Ingolstädter Haus am Horizont und die Schönfeldspitze. Wir werden all das auf der anderen Seite nicht mehr sehen, da uns ein im Mittel auf 2400 Metern liegender Kamm von der Ebene trennt. Hinter der Scharte steigt man in ein weiteres, ausgedehntes Karstplateu ab. Auf den ersten Blick alles sehr ähnlich – aber dann im Detail doch ganz anders, als die Landschaft an die wir uns in den letzten 2 Tagen gewöhnt haben. Wir staunen über die Dimensionen und die düstere Stimmung. Es gibt fast keine Anhaltspunkte für unseren Weiterweg. Wir kennen die Richtung und der Weg ist gut markiert, aber ein “erreichbares” Ziel lässt sich nicht erspähen.

Wie ungewohnt das völlige Fehlen von anderen Menschen ist, wird einem erst klar, wenn man es erlebt. Wir sind mittlerweile gute 4 Stunden unterwegs und haben niemanden gehört oder gesehen. Durch die stetigen Wechsel der Umgebung von nass zu trocken, dunkel zu hell und West nach Ost fühlt sich die heutige Etappe bereits jetzt schon unglaublich lang an. Wir haben heute schon eine Menge gesehen und bewegen uns trotzdem durch die monotone, felsige Leere und Stille.

Wir passieren eine rostige Fliegerbombe die in einem Spalt steckt. Eine eigenartige Markierung, die vermutlich ziemlich genau den Grenzübergang zwischen Österreich und Bayern bildet. Das Gelände ist wieder plattiger geworden und man muss an einigen Stellen über die Risse in den gewaltigen Plattenpanzern springen. Begleitet von leichten Kletterstellen verändert sich die Ebene ganz langsam und fließt zu einem immer deutlicheren Tal zusammen. In diesem verlieren wir mit jedem Schritt weiter an Höhe, bis wir am Eingang der Rosengasse zum ersten Mal mit neuen Eindrücken konfrontiert werden. Grün. Und Sonne.

Ganz langsam scheinen erste Latschenkiefern die karge Umgebung zurückzuerobern. Eine willkommene Abwechslung zu den traurigen Moosflächen im steinernen Meer. Jetzt haben wir also traurige Latschen. Die Rosengasse oder das Rosental ist eine kleine Senke – eingeschlossen zwischen eindrucksvollen, dunklen Felswänden – die mit Rosen erstmal wenig zu tun hat. Für uns stellt sie aber einen rosigen Wegpunkt dar, an dem etwa 3/4 der Strecke geschafft sind. Die Medaille hat aber auch eine Kehrseite: ein Großteil vom Abstieg steht noch bevor. Als wir nach einer kurzen Pause dem Talschluss entgegengehen, reißt es tatsächlich kurz auf und wir bekommen ein paar Sonnenstrahlen ab. Sieht doch direkt alles viel freundlicher aus. Grünes Gras, blauer Himmel, schwarze Wände. Was will man mehr. Hätten wir vielleicht doch die Schönfeldspitze mitnehmen können? An der Schäferhütte – einer kleinen Biwakschachtel neben der Ruine der vorderen Wildalm knickt der Weg nach links Weg.

Das steinerne Meer setzt zu seinem Finale an. So richtig gehen lassen will es uns noch nicht. Die kurzen Abschnitte durch die Wiesen im Rosental haben uns irgendwie suggeriert, das jetzt Schluss ist mit dem ewigen Hüpfen und Kraxeln. Ein paar Meter um die Ecke stellt sich auf jeden Fall schnell heraus, dass wir noch nicht abschalten können. Zumindest nicht, wenn uns unsere Sprungbänder am Herzen liegen. Landschaftlich ist das für mich nochmal eine der schönsten Ecken und die Einsamkeit, die sie ausstrahlt ist allgegenwärtig. An einer markanten Stelle kurz vor der “blauen Lache” endet das steinerne Meer. Zumindest fließen die Platten hier wortwörtlich aus der Hochebene und gehen in unübersichtliche Wiesen und Schrofenhänge über. Ich weiß nicht ob nur ich das sehe – aber sieht das nicht wirklich so aus, als wenn hier das steinerne Meer ausläuft?

Es wird erdiger und rutschiger. Und es zieht langsam wieder zu. Vielleicht doch keine Schönfeldspitze – alles richtig gemacht. Die blaue Lache ist eher eine grüne Lache und nicht weiter interessant. Ich mache ein Foto und wir wandern direkt weiter. Wir wollen an die Hütte bevor das Wetter doch noch kippt – vor allem weil hier immer noch 450 Höhenmeter steilerer Abstieg wartet und wir doch wieder einige Stunden auf den Beinen sind. Mit langsam mangelnder Konzentration werden die nächsten 2 Kilometer auch nochmal ordentlich heikel. Die teilweise überwucherten Pfade wechseln von absoluten Schlammbädern zu steilen Stufen mit moosigen Platten. Perfektes Gelände um sich auf mutmaßlich “einfachen” Wegen doch noch höllisch weh zu tun. Eigentlich keine Option. Dazwischen dornige Sträucher und schmale Latschengassen. Kurzum – es wird nochmal etwas zach und auch wenn wir es uns langsam anders wünschen würden, scheint der Tag noch lange nicht vorbei zu sein.

Endlich sehen wir unten auf einer Lichtung die Wasseralm. Während wir dem bewaldeten Talboden näher kommen, hört man pausenlos und laut Tiere durch das Tal brüllen. Die heiseren Rufe schallen von Wand zu Wand und ich komme zu einer messerscharfen Diagnose:

Ganz schön krasse Kühe haben die da

Ein Stück später wackelt 50 Meter unter uns am mittlerweile überwucherten und bewaldeten Hang ein junger Laubbaum. Aber nur der eine. Und ohne Wind. Krasse Bäume haben sie hier also auch. Ein bisschen gruselig ist es wirklich – irgendjemand oder irgendetwas macht da gerade ziemlich Radau und das genau zwischen uns und der fast schon greifbaren Wasseralm. Ich tippe auf Wildschweine – eine Begegnung die ich bisher immer gemieden hatte. Es kommt anders. Der Baum hört auf zu wackeln und eine Kurve vor uns bricht ein ausgewachsener Rothirsch aus dem Dickicht. Es gibt hier keine krassen Kühe. Aber unzählige, mit Hormonen zugeballerte Hirsche in der Brunft. Bevor Tami ihn sieht, ist er über den Pfad und irgendwo im Hang verschwunden und wir nutzen – wenn auch etwas beunruhigt – den nun freien Weg für die Flucht nach vorne.

Wasseralm

Die Wasseralm ist klein aber sehr familiär und besitzt ein (gefühlt) ziemlich neues, großes Bad und ein gemütliches Lager. Später am Nachmittag erreicht noch eine Schulklasse auf Abschlussfahrt die Hütte. Ohje. Ich erinnere mich an unsere Abschlussfahrt. Spätestens ab 22:00 wäre wohl jemand auf einem Hirsch um die Hütte geritten. So schlimm wird es nicht, was vielleicht auch am nicht ausreichend großen Alkoholvorrat der Hütte oder den erschwerten Bedingungen der Mitnahme zum Eigenbedarf liegt. Unsere Hüttenbekanntschaften vom Abendessen und Canasta spielen sind zwei Mädels, die am Folgetag auch zum Obersee absteigen wollen und ein Mann, der sich in einer etwas abenteuerlich klingenden Biwakaktion durch das steinerne Meer geschlagen hatte. Irgendwann verschwinden wir ins Bett.

Nach einem Frühstück brechen wir gegen 8:30 in den Nebel auf. Das Wetter ist jetzt wirklich gekippt, es ist etwas kälter und hat Nachts geregnet. Die Wolken hängen in dem Kessel in dem wir uns befinden und mangels Internet haben wir keine Ahnung wie es anderswo aussieht oder wie es sich über den Tag entwickelt. Uns steht eh nur noch ein kurzer, leichter Abstieg bevor. Vielleicht zwei oder drei Stunden zum Bootsanlegeplatz in Salet.

Abstieg zum Obersee

Den Abstieg habe ich als durchaus wild in Erinnerung behalten. Durch den konsequenten Nebel haben wir keine Möglichkeit abzuschätzen, wie steil es neben dem kleinen, rutschigen Pfad runtergeht. An ein paar Stellen vermute ich aber, das man hier besser nicht ausrutschen wollen würde. Dazu das ständige, laute und fast hypnotisierende Rauschen der Wasserfälle, die überall um uns herum aus der Wand brechen. Immer wieder ist der Weg überflutet. Immer wieder ist es irrsinnig rutschig. Und manchmal ist der Weg selbst zum kleinen Wasserfall geworden, die Stahlseile führen mitten durch das Wasser und auf den nassen Felsen angebrachte Trittstife verstecken sich unter kleinen, rauschenden Kaskaden. Wir sind mitten in der Wolke und alles schwimmt. So fühlt es sich stellenweise zumindest an. Ich bin heilfroh, dass wir uns für den leichteren Landtalsteig anstelle des Röthsteigs entschieden haben.

In einer Querung mischt sich ein Summen zu dem Rauschen der Wassermassen und im Nebel laufen wir in den Mann, der am Vorabend bei uns am Tisch war. Mit einem elektrischen Rasierer. Mitten in einem schmalen Quergang am Berg, irgendwo im Nebel und zwischen Felsen und Wasser. Es gibt Dinge, die nur in den Bergen passieren. Und vielleicht auch einfach dort bleiben sollten.

Irgendwann kommen wir unter die Wolkendecke und ein wilder Blick auf den Obersee offenbart sich und gleichzeitig sehen wir, dass es noch einige steile Höhenmeter zu überwinden gibt. Aber nach den letzten Tagen schockt uns eh nichts mehr, der Pfad wird nach unten hin immer leichter. Der nasse Fels wechselt zu Wald und bald stehen wir zwischen den (diesmal wirklich) Kühen an der Fischunkelalm. Geschafft.

Nachdem wir den See umrundet haben stehen wir inmitten der Traube von Menschen, die mit dem Boot hergekommen sind und den See fotografieren. Das kenn ich schon – ich war auch mal so. Und das ist auch gar nicht schlimm. Aber es ist bizarr wieder hier zu sein. Und dabei waren wir eigentlich nur einmal kurz ums Eck. Aber die Einsamkeit des steinernen Meeres steht in einem völlig absurden Kontrast zu der lauten, bunten Selfiestick-Armee am Obersee. In nur 10 Minuten auf den befestigten Wanderwegen nach Salet laufen wir noch in eine Baustelle mit Presslufthammer, die gerade den eh schon befestigten Weg noch fester macht. Nett hier. Aber waren Sie schonmal im steinernen Meer?

Wir erreichen die Boote, kaufen unser Ticket und sitzen lustigerweise mit der versammelten Mannschaft vom Tisch auf der Wasseralm im selben Boot. Der Mann mit dem Rasierer. Die beiden Mädels, die unter Zeitdruck noch das Halsköpfl mitnehmen wollten und sich dann in einer mutmaßlich wilden Erstbegehung irgendwo durch die Wände zum Königssee runtergeschlagen hatten.

Boah wir wären gerade fast gestorben!

Inspirierend. Und so treiben wir über den Königssee. Müde, glücklich und um ein paar gefühlt endlose und intensive Bergtage reicher.


Schwierigkeit

Eigentlich ist im Text alles gesagt. Ich habe den Watzmann als nicht wirklich schwer empfunden. Aber – und das Thema ist speziell beim Watzmann ohnehin emotional aufgeladen – es ist keine Wanderung. Der Watzmann ist ein wunderschöner Berg und der gut markierte Weg am Grat eine recht elegante, eindrucksvolle Überschreitung. Trittsicherheit, Erfahrung im II. Schwierigkeitsgrat und in leichten Klettersteigen und eine (vor allem als Tagestour) sehr gute Kondition für den Abstieg sind auf jeden Fall erforderlich, sonst befindet man sich sehr schnell in sehr ungemütlichen Situationen. Wer sich sonst in ausgesetzter Kletterei oder weglosen Bergfahrten z.B. im Karwendel wohlfühlt wird hier unter normalen Bedingungen kein allzu großes Bergabenteuer sondern eine überlaufene, präparierte Piste vorfinden. Für uns war der Watzmann das perfekte Sprungbrett ins steinerne Meer, welches mich persönlich viel mehr beeindruckt hat. Aber dafür muss man sich auch ein wenig umsehen. Und zum Sonnenuntergang vor die Hütte gehen. Grüße gehen raus ans Watzmannhaus.

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