Alpenüberquerung L1 – Etappe 9: Von der Martin-Busch-Hütte zum Rifugio Bella Vista (T4+, I-II)
Alpenüberquerung L1 – Etappe 9: Von der Martin-Busch-Hütte zum Rifugio Bella Vista (T4+, I-II)

Alpenüberquerung L1 – Etappe 9: Von der Martin-Busch-Hütte zum Rifugio Bella Vista (T4+, I-II)

12 km

1280 hm

950 hm

7.5 h

T5, I

Langsam aber sicher angeschlagen geht es in die letzte nennenswerte Etappe. Ich habe über Nacht auch die ersten gröberen Erkältungssymptome bekommen und die Energie von der Extrarunde am Vortag ist vergessen. Auch Tami ist fertig. Spoiler – wie so ziemlich der Rest der Hütte haben wir hier bereits COVID-19. Wissen tun wir das mangels Schnelltests noch nicht und wirklich auffallen tun wir inmitten röchelnder Bergsteiger auch nicht.

Die Entscheidung die letzte nennenswerte Etappe noch zu gehen steht aber fest. Ich kann nicht in Tami reingucken, fühle mich selbst aber fit genug um die Überschreitung des Saykogels in einem entspannten Tempo durchzuziehen. Wir hatten durchaus Alternativen diskutiert:

  • Mit weniger Höhenmetern direkt zur Similaunhütte und runter nach Vernagt? Dann stünden wir aber irgendwann am späten Nachmittag ohne Unterkunft in Meran. Wie erholsam das letzten Endes wäre ist fraglich.
  • Abbruch, zurück nach Vent latschen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück nach Garmisch kloppen? Auch nur mäßig reizvoll. Verbindungen zwischen 5 Stunden und 17 Stunden sind ernstgemeinte Vorschläge von Google.

So erscheint uns die Flucht nach vorne am reizvollsten. Bett und Halbpension am Rifugio Bella Vista, ein kurzer Abstieg nach Kurzras am Folgetag und von dort eh nur noch mit Bus nach Meran, wo wir ein AirBnB gebucht haben in dem wir uns notfalls auch auskurieren können.

Aufstieg (I+)

Ich stapfe vor die Tür, wo irgendein mittelalter Mark gerade einen astreinen Vlog abdreht und lautstark Grüße von der “höchsten Berghütte der Alpen” in seine GoPro schickt. In der Capanna Margerita fällt inzwischen ein Sack Spaghetti um. Da soll nochmal wer sagen Gen Z ist komisch, vielleicht habe ich aber auch einfach Kopfweh und finde die durchaus intensive Szene und die vorgetragenen wilden Stories deshalb so grotesk. Vor allem weil es den unüberhörbaren Schilderungen zufolge heute nur bis zur Similaunhütte gehen soll, die irgendwie ziemlich offensichtlich 500 Meter höher liegt als die “höchste Berghütte der Alpen”. Ach keine Ahnung. Es ist ja 2022. Solang es sich richtig anfühlt.

Wir starten in die schöne, aber auch reichlich karge und weitläufige, Bergwelt der Ötztaler Alpen. Für uns gilt es heute den Kreuzkamm zu überqueren – eine Bergkette die das Niedertal (unseres) vom Rofental (noch nicht unseres) abtrennt. Gut, die eher sanften Schotterhügel könnte man mehr oder weniger angenehm sicher überall überqueren. Aber der einzig offizielle Weg führt mittig über den Kreuzkamm und überschreitet dabei den 3355 Meter hohen Saykogel. Dieser ist eine der kleinsten Erhebungen im Kamm und nicht zu sehr von Gletschern eingebettet. Ohne Eiskontakt geht es durch die Ostflanke von der Martin-Busch-Hütte hinauf und dann auf flachen und einfachen Westgrat wieder hinab ins Rofental.

Sounds like a plan

Wir sind heute langsam unterwegs und jeder kämpft seinen eigenen Kampf. Tami und ich vor allem mit den anrollenden oder schon solide vorhandenen Symptomen. So geht es Schritt für Schritt und ohne nennenswerte Spitzen im Puls durch das grobe Blockgelände. Vertretbar ist es wahrscheinlich schon – so richtig Spaß macht’s aber nicht. Es ist für mich der erste 3000er. Ich hab Kopfweh und mir ist schwindelig. Und ich gehe nach ihm davon aus, dass ich recht heftig auf die dünne Luft reagiere. Erst über ein Jahr später, kann ich den hier entstandenen Irrglauben abwenden.

Nun aber wieder zum Positiven. Die Landschaft ist wild und karg. Eine Mondlandschaft in Ampelfarben. Unten grüne Weiten, oben rote Blöcke mit gelben Flechten. Und dazwischen die grellen Gletscher, die an allen Seiten an den Bergen hängen. Viele sind bereits vollständig aper. Es war in Kombination aus Hitze und Saharasand ein ganz mieses Jahr für das nicht mehr so ewige Eis. Wir erreichen auf gut markierten Pfaden den Grat und halten uns noch kurz nach Rechts in Richtung Saykogel. Das Gelände ist nicht schwer – vielleicht mal im I. Grad eine Stufe oder einen Block übersteigen. Geklettert werden muss eigentlich nicht und wirklich luftig geht es auch nicht zur Sache. Der perfekte Genesungsspaziergang eigentlich. Ich finde generell, dass in den steilen Blockflanken ein wenig das Gefühl für Höhe und Steilheit verloren geht. Da sind unsere Kalkwände in Wetterstein und Karwendel um ein vielfaches direkter und einschüchternder.

An einer Abzweigung wird der Gipfel südseitig untergequert und man gelangt auf die andere Seite zum Abstieg über den Westgrat. Mama, Papa und ich folgen dem kleinen Pfad auf den kreuzlosen Gipfel und nehmen diesen (vielleicht 50 Höhenmeter von der Abzweigung) noch mit. Tami bleibt unten am Kamm. Ich kann nur erahnen, wie es ihr gehen muss.

Wir machen ein kurzes, obligatorisches Gipfelfoto und ich werfe ein paar neugierige Blicke auf die Gletscher unter uns und die Grate, welche hier hinauf führen. Naja – nicht jetzt. Und vielleicht auch nie. Wir steigen wieder ab und sammeln Tami ein.

Abstieg (I-II)

Dann geht es auf einem schmalen Pfad querend auf die Westseite und der Blick ins Niedertal verschwindet hinter uns. Vor uns liegt nun das Rofental mit Gletschern, Schmelzwasserseen und das gegenüberliegenden Gletscherplateau rund ums Brandenburger Haus. Der Grat ist zu beiden Seiten von den Eismassen von Kreuzferner und Hochjochferner umrahmt. Zu sehr können wir im ersten Abschnitt den Blick nicht über die Gestalten von Weißkugel bis Wildspitze schweifen lassen – der Grat ist für wenige Minuten etwas schärfer und von einer feinen aber rutschigen Schicht überzogen. Überall wo die Sonne noch nicht hingekommen ist hat sich ein Film Reif gebildet, der über Nacht gefroren sein muss. So sind zwei von drei Blöcken trocken und gut auf Reibung zu treten, während der dritte einem ungefragt den Fuß wegziehen will.

Entsprechend konzentriert überwinden wir die sonst einfachen Stellen im maximal II. Grad. Leichter als das Atterkarjöchl allemal. Und der Grat wird rasch wieder breiter, weitläufiger und von einem breiten und ausgetretenen Weg überzogen. Alles fein. Der Markierung dienen auch hier rote Punkte – gelegentlich helfen aber auch Steinmänner weiter, da ein roter Punkt auf rotem Fels eine eher subtile Angelegenheit sein kann.

Wir verlassen den Grat in eine weitläufige Schotterwüste im Endbereich der Gletscher und folgen den rauschenden Schmelzwasserflüssen zu einer Metallbrücke, die auf 2470 Metern die rauschenden Wassermassen im Talgrund überwindet. Und dann biegen wir links ab und folgen dem Weg nach Süden zum Rifugio Bella Vista. Ein zarter Gegenanstieg von 400 Höhenmetern und 4,5 Kilometern liegt noch vor uns. Nirgends schwer, nie steil. Aber zäh und ausdauernd in der prallen Sonne.

Wir erreichen das Rifugio. Die Etappe war okay – es gab keine gröberen Ausfälle und weder Tami und ich waren gesundheitlich komplett am Anschlag. Eine gewisse Anspannung und Ungewissheit fällt von uns ab – alles was jetzt kommt ist bombensicher, der Alpenhauptkamm liegt hinter uns und die Alpenüberquerung ist geschafft. Bestimmt hätte ich die raue Landschaft gesund noch mehr zu schätzen gewusst – aber auch so bleibt der erste 3000er markant in Erinnerung. Vielleicht sogar gerade deshalb. Zumindest klingt “erster 3000er mit Corona” viel fahrlässiger und dramatischer als es sich unterwegs angefühlt hat.

Das Rifugio Bella Vista ist übrigens eine lustige Mischung. Einerseits eine sehr urige und schöne Berghütte, die aber ihrerseits mitten zwischen Skiliften, Baustellen für solche und recht albernen Gletscherkonservierungsmaßnahmen (zum drauf Rumrutschen im Winter) liegt. Gemischte Signale, gemischte Gefühle. Dafür gibt es eine Sauna, die ich in meinem Zustand eh nicht nutzen kann.


Strategische Punkte:
  • Hinter dem Saykogel kann im Bereich der Brücke bei drohendem Unwetter auch das etwas nähere Hochjoch-Hospiz aufgesucht werden (120 Höhenmeter und 2km). Das ist aber exakt die falsche Richtung und muss nach dem etwaigen Abstecher wieder zurückgegangen werden.
Schlüsselstelle und Schwierigkeiten:

Alpine aber nicht wirklich schwere Überschreitung einer eher unscheinbaren Erhebung im Kreuzkamm. Wie viele Ötztaler ist auch diese Ecke von eher weichen, weiten Geröllflanken dominiert. Das größte “Risiko” geht wahrscheinlich vom umknicken oder abrutschen auf losen Blöcken aus. Der Aufstieg bleibt über weite Teile etwas leichter als der Abstieg, ab Erreichen des Grates wird das Gelände etwas schärfer und ein paar Stellen erfordern ganz leichte Kraxelei. Für meinen Geschmack ist man hier aber wesentlich entspannter unterwegs als am Atterkarjöchl. Ausgesetzte Stellen beschränken sich auf einige wenige Stellen am Grat und die Querung unter dem kleinen Gipfelaufbau zum Abstieg. Der Abstieg auf einem längeren Grat nach Westen ist zunächst etwas schwieriger, gestufter und wird gegen Ende immer breiter – bleibt aber dennoch gut markiert und ohne nennenswerte Kletterei zu begehen.

Theoretische Alternativen (Schwierigkeiten & Zeitbedarf beachten):
  • Über die Similaunhütte direkt nach Vernagt rauslaufen – eine gangbare “Abkürzung”, welche eine Etappe einspart und den Saykogel auslässt
  • Für hochtourenaffine Begeher lassen sich diverse direkte Varianten nach Meran durch’s Hochgebirge spinnen, die nach Osten weg und in die Bergwelten zwischen Gurgler Eisjoch, Hochwilde und Seelenkögel zielt.

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