Ehrwalder Sonnenspitze (2416m) Überschreitung (T5, II+)
Ehrwalder Sonnenspitze (2416m) Überschreitung (T5, II+)

Ehrwalder Sonnenspitze (2416m) Überschreitung (T5, II+)

2021 in meinem ersten großen Bergsommer in Garmisch hatte ich eine kleine Liste mit Touren, die ich unbedingt machen will. Ganz unten auf der Liste “schwere Touren”. Überwiegend solche, denen ich mich noch nicht gewachsen fühle – was meistens an der Wegfindung, Angst und mangelndem Selbstvertrauen in den abverlangten “Kletterstellen” lag. Mit dem Wörner in Mittenwald konnte ich mir im September 2021 einen großen Punkt von dieser Liste streichen. Andere “schwierige” Wanderung, wie die Überschreitung der Ehrwalder Sonnenspitze blieben aber stehen und wurden souverän nach 2022 vertagt.

Nun haben wir aber 2022 und es hat sich dermaßen viel getan, dass das Ende der Liste einfach leergefegt wurde. So fielen die Arnspitzen Überschreitung, die Überschreitung der Dreitorspitzen und viele andere meiner Wanderlust zum Opfer. Und an einem mystisch-regnerischen Tag im Juli auch die Ehrwalder Sonnenspitze. Gar nicht so wie ich dachte.

Mit 2416 Metern ist die Sonnenspitze wahrlich kein Riese, ihre gerade von Ehrwald und aus dem Schwärzerkar sehr markante Form hat sie aber zum Matterhorn von Ehrwald gemacht. Eigentlich ist das aber auch nichts besonderes, denn irgendwie ist der jeweils spitzeste Berg einer Region das Matterhorn von irgendwem. Außer das Matterhorn selbst. Das Matterhorn ist der Kofel von Zermatt.

Zustieg

Der Wecker geht um 2:40 Uhr. Ich check im Bett nochmal den Wettbericht – für den Tag war kein Unwetter vorhergesagt und auch die Regenwahrscheinlichkeit ist gering. Es soll trotzdem unbeständig werden. Etwas windig, etwas wolkig und ab Mittag durchweg ungemütlicher. Wir stürzen uns also auf ein vermeintliches Wetterfenster um den Sonnenaufgang herum.

Über den, in der Nacht etwas dampfig und rutschigen, Hohen Gang erreichen Marina und ich in bis heute ungeschlagener Rekordzeit den kleinen Kessel um Seeben- und Drachensee. Durch Gondeln, zu Fuß und per Mountainbike sehr leicht zu erreichen, ist dieser wunderschöne Fleck bestimmt kein Geheimtipp mehr. An den meisten Tagen des Jahres tummeln sich hier Massen an Besuchern, die Bremsen von Fahrrädern quietschen, Kinder schreien. Aber an diesem grauen Morgen sind wir völlig alleine und der Seebensee liegt still und dunkel vor uns. Nur eine schwache Stirnlampe am Daniel und ein paar Lichter auf dem Weg zum Gatterl zeugen davon, dass wir nicht die Einzigen hier draußen sind.

Als wir die Coburger Hütte erreichen dämmert es langsam – es ist aber einer dieser Tage, an denen es einfach subtil Stück um Stück heller wird und man nie wirklich weiß, ob es nun noch heller wird oder einfach so bleibt. Tatsächlich wird uns die nächsten Stunden eine etwas bedrohliches Dämmerlicht begleiten und im Verlauf des Tages auch nicht abreißen. Aber davon ahnen wir noch nichts und der Blick auf die Uhr zeigt, dass wir heute mehr als gut in Form sind. Denn bis hier – gute 1000 Höhenmeter über Ehrwald – ging es wie im Flug und die folgenden 400 Höhenmeter Klettergelände hätten auch genauso gut im Tal stehen können. Keine Sorge – das ist kein Standart. Ich habe die Coburger Hütte auch schon kriechend erreicht. Aber heute stimmt alles – und vielleicht ist das der Grund, warum wir fast instinktiv in eine Tour einsteigen, der ich im letzten Jahr grundsätzlich den Rücken zugekehrt hätte. Und wenn ich ehrlich bin: Hätte die Fitness an diesem Tag nicht mitgespielt wäre ich in dieser bedrohlichen Kulisse auch nie auf die Idee gekommen weiterzugehen.

Einstiegsrinne (II)

Wir passieren die noch stille Coburger Hütte, queren unter der Nordwand des Drachenkopfs und erreichen im steilen aber kurzen Schotterfeld unter der Sonnenspitze schnell die Einstiegsrinne. Diese ist am Ende des Schotterfelds etwas weiter links und höher als man von unten kommend zunächst erwarten würde – zumindest habe ich direkt eine Rinne gesehen in der man hätte klettern können und wäre instinktiv dort hin gelaufen.

Der Anstieg durch die Südwand der Sonnenspitze ist zwar schwach markiert – mal mit blassen roten Punkten, mal mit einigen Bohrhaken oder Standplätzen und an wichtigen Stellen auch sehr üppig mit Pfeilen – vieles spielt sich aber doch in relativ weglosem Gelände ab. Ein gewisses Gespür für die leichteste und logische Linie oder eine grobe Idee vom Routenverlauf ersparen einem vermutlich den einen oder anderen unangenehmeren Verhauer. Die Einstiegsrinne ist aber noch absolut entspannt, die Wegführung offensichtlich und die Kletterei leicht und kontrolliert. Ein perfekter Einstieg in den Felsteil der heutigen Tour. Nach vielleicht 30 Metern macht die Rinne langsam auf und führt in etwas unübersichtlicheres, weites Schrofengelände.

Schrofenhang (I-II)

Von hier geht es in leichter Kletterei (I – II) etwas rechtshaltend auf eine Schrofenflanke. Es hat mir tatsächlich mächtig geholfen, mal ein YouTube-Video gesehen zu haben, in dem auf den nächsten Stand gezeigt wird – er liegt ein gutes Stück höher an einem Felsblock und ist schon relativ früh aus dem Schrofengelände heraus zu erkennen.

Der Weg hierhin kann frei gewählt werden und Marina und ich sind in recht unterschiedlichen Spuren unterwegs. Am Ende des Tages habe ich – wie so oft – wohl die blödere Variante gewählt. Bei mir wird es bröselig, steil und grasig – weil ich mich irgendwie entlang einer schwach ausgeprägten Rinne orientiert habe. Manchmal macht es auch Sinn einfach den richtigen Weg zu nehmen als nach irgendwelchen ästhetischen Linien zu suchen. Das Ergebnis bleibt aber das Selbe: hinter dem Standplatz zieht sich das Gelände in ein einziges, logisches Band zusammen, welches relativ schmal und ausgesetzt nach links führt. Für mein Empfinden, kann man sich darauf am Matterhorn Ehrwalds sogar fast verlassen. Die Kletterei – teils doch ganz ordentlich im II. Grad angesiedelt – ist nie wirklich ausgesetzt. Die Quergänge zwischen den Klettereien absolut. So ergibt sich aber ein fast schon angenehmer Kompromiss, in dem man gefühlt nie so richtig ausgesetzt klettern muss und trotzdem auf eleganter Linie durch eine steile und abweisende Wand steigt. Eine kleine Ausnahme dieser Regel ist lediglich der letzte Meter vor dem Gipfel. Aber dazu später mehr.

Zweite Rinne (II+)

Das Band führt an die zweite Rinne heran, die dem Namen auch deutlich gerechter wird als die Einstiegsrinne. Für mich die unangefochtene Schlüsselstelle der Tour – der man im Vergleich mit anderen ähnlichen Touren auch gut eine III hätte geben können. Man ist zwar wieder relativ angenehm in Felsen gepackt und hat keine wirkliche Exposition zu verarbeiten – für mich fühlt sich das Stück aber definitiv nach ernsterer Kletterei an, in der man sich auch durchaus mal versteigen kann. Wir arbeiten uns konzentriert die steile Rinne hinauf und können an ihrem Ende zum Glück wieder entspannen.

Stahlseilquerung, Schrofen und Anstieg zum Vorgipfel (I-II)

Nach links führt das einzige Stahlseil der Tour ausgesetzt aber versichert weiter. Wir bleiben also dem Muster treu. Kletterei nicht ausgesetzt, Quergang auch hier ausgesetzt aber “leicht”, da entschärft. Der Weg dreht dann wieder nach rechts, es folgt ein weiteres sehr schmales Band und eine nochmal etwas anspruchsvollere Rampe, bevor man einen markanten, breiteren Pfad erreicht. Dieser endet links im Südgrat und den fast senkrechten Abbrüchen nach Biberwier und gibt einen wilden Blick auf die knapp über uns hängende, bleierne Wolkendecke frei. Weit unten, noch grau und still, liegen die Felder, Straßen und Gebäude von Biberwier.

Es ist ziemlich logisch, dass es hier nicht weitergeht. Der Blick ist nur ein kurzer, lohnender Abstecher an die Seite des Berges – der Pfad zieht nach rechts deutlich ausgetreten ein Stück um den Berg herum. An einigen Kurven gibt es nochmal spektakuläre Tiefblicke auf den Seebensee und ins Gaistal, an dessen Ende goldene Sonnenstrahlen die Wolkendecke durchbrechen. Und plötzlich sehen wir die ersten Tropfen auf den Steinen.

Och nöö…

Ich werde unruhig. Und bin mir nicht ganz sicher, wie viel tatsächliche Kletterei noch vor uns liegt – vom kurzen, super schmalen Grat vorm Gipfel mal abgesehen. Letztes Jahr wäre ich bei diesen Bedingungen niemals losgegangen und eine solche Situation hätte einem absoluten Worst-Case-Szenario geglichen. Zum Glück bleibt es bei wenigen Tropfen und als wir nochmal etwas auf’s Tempo drücken und links einen vergleichsweise flachen Schrofenhang hinaufsteigen, sehe ich wie unberechtigt meine Sorgen waren. Wir waren nur 50 Meter vom Gipfel entfernt. Direkt vor mir, vor den offenbar sonnigen Ammergauer Alpen steht das etwas vorgelagerte Gipfelkreuz.

Gipfelgrat

Von ihm trennt uns nur noch ein etwas bröselig anmutender Grat, der sich zunächst langsam zusammenzieht und an seiner schärfsten Stelle nur aus einigen schmalen, senkrechten Felsnadeln besteht. Das Stück ist wirklich kurz. Aber auch wirklich scharf. Vielleicht 2 Meter am Grat. Vielleicht weitere 2 Meter etwas exponierterer Aufschwung zum Gipfelplateau. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass hier schon für den einen oder anderen Schluss war. Irgendwo habe ich das auch mal gelesen.

Mein Lieblingszitat an der Stelle kommt von Marina, die die Sonnenspitze über diese Route eigentlich schonmal gemacht hatte:

Hä? Da bin ich letztes Mal drüber?

Verdrängung ist also auch ein valides Mittel am Berg. Letzten Endes kommen wir aber gut drüber und obwohl der Grat schon sehr ausgesetzt ist, spielt sich der meiste Spuk auf der linken Seite an den Westwänden nach Ehrwald ab. Diese wirken von oben gesehen nahezu senkrecht und scheinen sich fast zu überschlagen. Die zum Seebensee führende, steile Schotterrinne auf der rechten Seite ist zwar auch eindrucksvoll – löst aber wesentlich weniger Schwindel aus und man klettert am Grat eher auf dieser Seite. Also alles prima. Alles Komfortzone. Wahnsinn wie viel sich in nur einem Jahr mit etwa hundert Bergtagen tun kann.

Gipfel Ehrwalder Sonnenspitze

Am Gipfel angekommen fällt einige Abspannung ab und mit einem erstaunten Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass ich die Sonnenspitze in vielen ihrer Dimensionen maßlos überschätzt hatte. Wir waren nichtmal eine Stunde am Fels – gefühlt ist die Kletterei wie im Flug vergangen und merken tu ich davon auch noch nichts. Komischer Tag, komisches Wetter, aber geiler Berg. Die Kraxelei fühlte sich dermaßen kontrolliert und angenehm an, dass es mich in den Fingern juckt zeitnah nochmal eine Begehung hinterherzuwerfen und zu gucken ob diese ähnlich läuft. Sonst muss ich leider davon ausgehen, dass ich einfach nur einen unnötig guten Tag hatte. Psychisch wie physisch.

Und schon hier frage ich mich, was ich wohl aus dieser Tour mitnehme. Ich habe keinesfalls den Anspruch, dass jede Wanderung oder jeder Tag in den Bergen irgendeine tiefgreifende Erkenntnis mit sich bringt. Vieles macht man auch einfach zum Spaß oder zur sportlichen Betätigung. Aber die Sonnenspitze habe ich mir anders vorgestellt. Größer. Fordernder. Weiter in der Zukunft. Lehrreicher. Und so musste ich feststellen, dass wir diesem Berg heute anders begegnet sind, als ich es erwartet hatte. Vielleicht neigt man dazu, manche Ziele überzubewerten und sollte, ohne den Respekt zu verlieren, ein wenig Abstand von den ganz großen Symbolen nehmen. Zumindest möchte ich das versuchen. Das Abenteuer liegt oft im Kleinen und Unerwarteten und überhaupt nicht dort, wo man es erwartet. Dann wäre es auch kein Abenteuer sondern ein Plan. Und die Sonnenspitze war mir offenbar zu einem Symbol geworden. Zu einem Stellvertreter für die Angst vor alpinen IIer-Klettereien. Und diese Angst war nur in meinem Kopf daheim. Nicht auf der Sonnenspitze. Ich habe sie zumindest nicht gefunden. Es ist bestimmt gut, auf sie zu hören, wenn sie da ist – aber gleichzeitig muss man sie auch nicht erwarten.

Und so bleibt das Matterhorn von Ehrwald – wenn auch komplett gefühllos und bei objektiv schlechten Bedingungen weggebraten – am Ende doch eine sehr spezielle Tour in der unser Kopf und Vertrauen in unsere Fähigkeiten weit größer waren als der Berg selbst.

Abstieg nach Norden

Nach einer kurzen Gipfelrast geht es an den Abstieg. Das Wetter wirkt nach wie vor etwas bedrohlich und lädt nicht wirklich zum verweilen ein. Und der Abstieg sollte nicht unterschätzt werden – das habe ich gelesen – und jetzt sehe und spüre ich auch warum. Die Nordflanke und der schwach ausgeprägte Nordgrat der Sonnenspitze erinnert mich etwas an den berühmt-berüchtigten Abstieg von der Südspitze am Watzmann. Die Dimensionen sind natürlich andere, aber das Gelände fühlt sich ähnlich an. Mit der stellenweise notwendigen Vorsicht und Konzentration kommt man plötzlich nur noch langsam voran und so steht der Abstieg in einem ziemlichen Kontrast zu dem flüssigen und schnellen Aufstieg. Da dieser Weg wieder an den Seebensee, den unteren der beiden kleinen Bergseen heranführt, machen wir hier auch gute 300 Höhenmeter mehr als im Felsteil nach der höher gelegenen Coburger Hütte. Das verstärkt den oben beschriebenen Eindruck. Und sollte in der Kräfteeinteilung berücksichtigt werden.

Durchsetzt von kleinen Felsstufen, die sich einem in den Weg stellen und nochmal ein oder zwei kurze Kletterbewegungen erfordern, präsentiert sich die Nordseite der Sonnenspitze sandig, bröselig und steil. In der Mieminger Kette keine Seltenheit. Aber eine perfekte Symbiose aus “zu leicht zum klettern” und “zu schwer zum rumalbern”. Katastrophe. Aber nicht heute – wir kommen gut, schnell und trocken runter – und stellen nur fest, dass der Abstieg wahrscheinlich zach ist. Über den Hohen Gang erreichen wir, am Ende joggend, schnell wieder das Auto und sind für gefühlt viel zu früh aus den Bergen zurück.


Schwierigkeit

Eine durchaus machbare aber dennoch ernste Bergfahrt. Die Kletterstellen empfinde ich stellenweise eher im oberen II. Grad, es gibt nach meinem persönlichen Gefühl wesentlich leichtere Touren in der Kategorie “Alpin und II”. Die für die Art der Tour sehr guten Markierungen und die geringe Exposition der Kletterei nehmen aber merklich den Anspruch raus und man geht fast nie ein nennenswertes Risiko ein. Es handelt sich definitiv um keine wilde Bergtour abseits der Wege sondern um einen anspruchsvollen Normalweg auf einen wunderschön markanten Berg. Die Dimensionen der Tour und vor allem die tatsächliche Kletterei halten sich in Grenzen. Alles weitere passiert im Kopf.

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