26 km
850 hm
1550 hm
8.5 h
T3
Ich starte den Tag mit einem moderaten Bauchgefühl. Irgendwie soll es auf Mittag schon gewittern. Nach dem langen Tag gestern sind wir heute sicher nicht allzu schnell unterwegs, haben aber streckenmäßig eine der längsten Etappen vor uns. Ich wäre gerne wieder mitten in der Nacht losgelaufen – heute kriege ich das nicht durchgesetzt. Verständlicherweise. Mir fällt es trotzdem ehrlich schwer abzuschalten. Im Kopf die teils reale und teils konstruierte Verantwortung, die ich für die ganze Veranstaltung trage. Die Details der Planung und Wegführung liegen bei mir und im Notfall hätte ich vermutlich auch die meisten und am schnellsten anwendbaren Ressourcen. Ich merke, dass ich lernen muss gelassener an die Sache heranzugehen, wenn ich die Alpenüberquerung selbst auch genießen können will. Aber es fällt mir im Moment noch schwer. Vor allem mit den grauen Wolken im Nacken und dem Kopfkino von Blitz und Donner am höchsten Punkt. Eine Situation, der ich bislang akribisch aus dem Weg gegangen bin.
Wir kommen nicht drum herum an dieser Stelle mal wieder über die Planung & Logistik zu reden. In der heutigen Etappe überqueren wir die Mieminger Kette – ein schmales aber hohe und abweisendes Gebirge um in das dahinter liegende Inntal zu gelangen. Das Inntal ist sehr hübsch, wenn man es von oben sieht. Es liegt nochmal ein gutes Stückchen tiefer als die vergleichsweise hohen und kleinen Täler um das Wettersteingebirge. Nähert man sich aber – vor allem mit der Absicht schnell wieder in die Natur zu kommen – wird man vor einige Herausforderungen gestellt. Die Dimensionen sind größer und weiter als bisher gewohnt und man hätte leicht die Möglichkeit hier zwei oder drei Etappen durch die Dörfer und Hänge zu streifen. Für mich nicht allzu verlockend. Wir wollen die Alpen überqueren und nicht alle Bundesstraßen zwischen Telfs und Imst. Wobei das wahrscheinlich sogar die respektablere Leistung wäre.
Zur Pforte in die Stubaier Alpen, dem Skiort Kühtai, gibt es viele Wege und optional auch mit dem Pirchkogel einen fast 3000 Meter hohen Gebirgsstock zu über- bzw. umgehen. Ein Umgehung im Westen misst schlappe 35 Kilometer. Eine Umgehung im Osten misst 55 Kilometer. Entspannter wäre es also, den Gebirgsstock zu überschreiten – und wenn man mich fragt – an seiner schwächsten Stelle. Wirklich anlächeln tut mich der Pirchkogel nämlich nicht. Ich finde einen solchen Punkt am Sattele – der streckenmäßig kürzesten Überquerung nach Kühtai mit überschaubarem Abstieg und Gegenanstieg auf der Rückseite. Wenn wir keine zusätzliche Etappe durch’s Tal schlurfen wollen, verlangt diese Variante aber, dass wir uns nach der Überquerung der Mieminger Kette nicht in die nächstbeste Hütte oder Ortschaft einquartieren, sondern im Inntal bis unter das Sattele queren um hier am nächsten Tag mit einer vernünftigen Etappe wieder ins Gebirge zu gelangen.
Wir nehmen das Frühstück auf der Tillfussalm mit und treten um 7:30 bei leichter Bewölkung mit einigen Sonnenstrahlen vor die Tür. Mit uns startet auch ein Typ in meinem Alter mit dem wir am Vorabend schon gequatscht hatten. Er folgt auch dem L1 – teilweise alleine, teilweise in Begleitung. Wir laufen ihm noch einige Male über den Weg. Unser Ziel ist die Niedere Munde, ein sehr gangbarer Durchschlupf in der sonst schroffen und abweisenden Mieminger Kette. Sie trennt die Hohe Munde, einen etwas isolierten aber äußerst massiven Berg vom Rest des Gebirgsstocks und erlaubt das Inntal ohne bröselige Felsen und Kletterei zu erreichen. Die durchweg eher schweren Hauptgipfel dieses Gebirges liegen nicht auf unserem Weg. Auf meinem vermutlich schon. Aber längerfristig gesehen.
Kurzfristig plagen mich ganz andere Sorgen, den von Westen drückt schon dunkle und bedrohliche Bewölkung in das Tal hinein. Das kann man sich grundsätzlich mal merken, wenn man in der Ecke unterwegs ist. Das Wetter kommt fast immer von Westen. Wenn es im Westen doof ausschaut, dann auch für dich. Altes Indianersprichwort.
Wir schleppen uns die doch relativ direkten 700 Höhenmeter auf schmalen und stellenweise schlammigen Pfaden durch die Latschen. Nach dem gestrigen Tag durchaus ein Kraftakt. Ich dränge immer wieder auf Geschwindigkeit – am Horizont werden die Ammergauer Alpen schon von tiefhängenden Regenwolken geschluckt – und übersehe dabei, dass wir dadurch weder schneller werden noch bei Laune bleiben. Um es in Papa’s Worten zu sagen “wenn was kommt, kommt was”. Ich wünschte ich könnte es in dem Moment auch so entspannt sehen – vor allem weil sich gleich zeigen wird das meine Sorgen unbegründet waren. Tu ich aber nicht. Für mich haben wir Möglichkeiten, eine gewisse Agilität und unsere Planung zur Hand um genau solche Situationen zu vermeiden. Wenn wir hier schon anfangen alles als gegeben zu nehmen – was machen wir dann im Hochgebirge oder im schweren Gelände kommender Etappen? Es wird also nicht nur eine Reise nach Meran. Für mich wird es auch eine Reise zu mir selbst. Ich denke zu viel in Superlativen und mit einem Perfektionismus, der droht Abschnitte der Tour zu überschatten. Keine wirklich erstrebenswerten Aussichten.
Kurz – also 50 Meter kurz – bevor ich die Niedere Munde erreiche nimmt der Wind zu und ich spüre die ersten Tropfen auf der Haut. Lächerliches Timing. Ein kurzer Blick ins Inntal bestätigt die Befürchtung. Von rechts rauscht ein dichter, grauer Regenvorhang rein und ist vielleicht noch 10 Kilometer von uns weg. Ein Katzensprung für so einen Regenvorhang. Die gute Nachricht ist, dass es bisher noch nicht gedonnert hat. Und idealerweise fangen wir heute auch gar nicht damit an.
Wir werfen an der Niederen Munde unsere Regenponchos und Rucksackabdeckungen über. Eine leichte Alternative zur zweiten Regenjacke, die sich für uns sehr gut bewährt gemacht hat. Noch bevor der Regen uns so richtig erreicht sind wir schon wieder ein gutes Stück abgestiegen und auf dem teils rutschigen aber leichten Pfad über dem Straßberghaus unterwegs. Ich hatte schlimmeres befürchtet – ich kannte diese Ecke nur aus der Draufsicht vom gegenüberliegenden Karkopf – und hatte irgendwo etwas von T4 gelesen. Ein scharfe T4 kann bei Nässe durchaus sportlich werden. Ich finde beim besten Willen nichts, was auch nur im Ansatz in diese Richtung geht.
Ein Träumchen. Da darf es auch gerne regnen. Tut es jetzt auch. Habe ich überreagiert?
Und wieder Bremsen. Bloß diesmal quietschen wir und nicht die Gummiblöcke an Fahrradreifen. Und es sind nicht die mechanischen Vorrichtungen sondern die blutsaugenden Flatterviecher gemeint. Sobald wir den lichten Wald über dem Straßberghaus betreten, lege ich regelmäßige Sprints ein. Überall am Regenponcho kleben die Teile. Was ist denn hier los? Zu wenig Kühe gerade?
Über den Fahrweg erreichen wir Wildermieming, die erste Ortschaft auf dem Mieminger Plateau. Dieses wird seinem Namen übrigens wirklich gerecht – hier liegen ganze Städte auf einer Ebene mit Wäldern, Feldern und Seen die aber sauber angehoben nochmal 200 Meter über dem Inntal liegt. Zur Inntalautobahn bricht das Plateau mit senkrechten Felswänden ab. Wir sehen nichts davon und folgen den Landstraßen durch die Orte. Zivilisation, Regen, Brücken, Golfresorts. Irgendwie war es in den Bergen schöner. Von Wildermieming geht es nach Affenhausen, von dort über Obermieming nach Untermieming. Ich denke mir die Namen nicht aus.
Es hat mittlerweile aufgehört zu regnen und kleine Wolkenfetzen steigen aus den Wäldern und Hängen auf. Eigentlich ganz hübsch. Dazu die grünen Wiesen und goldenen Felder. Eigentlich ist das hier die perfekte Etappe für einen Regentag, die Strecke in der prallen Sonne wäre sicher wesentlich unangenehmer gewesen.
Am Locherboden, ein Eckpunkt des Plateaus mit einer weithin sichtbaren Kapelle, geht es an der Straße am Parkplatz vorbei und dann direkt links auf einem kleinen Pfad durchs dichte Buschwerk in die Ortschaft Mötz.
Ab jetzt geht es nur noch geradeaus. Okay ein paar Kurven sind dabei. Das liegt aber vor allem daran, dass wir uns in den Kopf gesetzt haben auf dem Weg in Silz schön essen zu gehen und einzukaufen. Die erste Pizzeria die wir ansteuern eröffnet uns, nachdem wir schon was zu trinken bestellt haben, dass die Küche noch zu ist. Nagut es ist Montag Nachmittag – dann wohl doch zum Bäcker. Und dann auf die Zielgerade zur Rafting-Alm Haiming, wo wir die Nacht verbringen werden. Eigentlich sieht es hier schon nach Süden und Italien aus – wir könnten auch einfach hier bleiben. Obstbäume, Zypressen und Sonne. Richtig Sonne am Regentag?! Die letzten Kilometer werden wir nochmal richtig geröstet. Hauptsache es wird nicht langweilig.
Die Nacht im kleinen Holzbungalow ist dann auch zum ersten Mal ziemlich erholsam – verglichen mit der kurzen Nacht vor der Zugspitze und dem Lager auf der Tillfussalm.
Strategische Punkte:
- Ab Überquerung der niederen Munde kein alpines Gelände mehr, Wetterumschwünge sind ab diesem Punkt gut verkraftbar
- Straßberghaus
- Im Inntal werden diverse Dörfer / Städte durchwandert und es kann hemmungslos sämtlicher Bumms gekauft werden
Schlüsselstelle und Schwierigkeiten:
Eine lange und etwas zermürbende, ab der niederen Munde aber permanent absteigende Etappe. Leichte Wanderpfade bis zur und kurz hinter der niederen Munde, danach nur noch Forststraßen und Landstraßen / Ortsgebiet. Vorsicht vor den Bremsen. Die sind fuchsteufelswild.
Theoretische Alternativen (Schwierigkeiten & Zeitbedarf beachten)
- Umgehung der Mieminger Kette über die Rauhütte nach Telfs (Achtung höhere Strecke und identischer Anstieg).
- (Schlechtwetter-)Abstieg nach Leutasch und mit Bus oder zu Fuß ins Inntal.
- Im Abstieg von der niederen Munde rechts auf dem Hintereggensteig halten um entweder ohne nennenswerte Mehraufwand über Alphütte und steinernes Meer (da liegen halt ein paar coole Steine rum) oder mit erneuten 800hm in alpiner aber landschaftlich eindrucksvollerer Variante über das Judentörl und die Judenköpfe nach Obermieming abzusteigen. Letzteres erfordert aber vmtl. eine zusätzliche Etappe und Stopp im Bereich Obermieming. Ansonsten nämlich sehr sportliche Angelegenheit.
- Im Inntal macht alles zwischen Stams und Haiming Sinn für eine Unterkunft. Zumindest, wenn man grob unserer Spur folgen will. Je weiter man im Osten bleibt, desto länger wird die folgende Etappe. Ihr seid alt genug.