2024 ist ein schräges Bergjahr. Bisher. Dass man nicht immer alles nach Plan abgehakt bekommt, ist ja logisch. Dass man sich zu Silvester einen Haufen zu viel vornimmt auch. Aber speziell dieser “Sommer” besteht gefühlt wirklich an einer Verkettung von Gewitterfluchten, Planänderungen und sehr spontanen Ausflügen. Das ist auf der einen Seite frustrierend, weil man doch noch ganz dringend Tour X auf dem Zettel stehen hat. Auf der anderen Seite, landet man dafür sehr willkürlich in Ecken und Perspektiven, die man bisher nicht hatte.
Der ursprüngliche Plan ist komplett ins Wasser gefallen, ein Sonntagvormittag besteht aus Regen und Wolken und wir sind über Nacht im Inntal gewesen. Auf dem Rückweg schweifen die Blicke links und rechts aus dem Fenster. Irgendwas tun wäre schon noch schön. Es ist zwar schon nach Mittag aber das Wetter soll über den Tag hinweg nicht mehr schlechter werden. Hell ist es sowieso lange.
Da gibt’s ja noch die Obere Wettersteinspitze, deren Ausgangspunkt beinahe auf dem Weg liegt. Die Wanderung habe ich schonmal 200 Meter unter dem Gipfel abgebrochen, weil ich einsehen musste, dass sie für eine Feierabendrunde doch halbwegs hoch und meine Form nicht zum schwindenden Licht passt. Mir ist sowas ja eh ziemlich egal, der Sonnenuntergang am Gamsanger war eine Wucht und das mitgebrachte Abendessen sowieso.
Da ich 95% der Tour aber kenne, komme ich rasch zu dem Schluss, dass das für einen Tag wie den heutigen doch eine feine Aktion sein könnte, die auch mit dem recht reduzierten Proviant in unserem Auto hinhauen könnte. Hannah war auch noch nicht auf diesem Berg und wir teilen den spontan entstandenen Wunsch, mal von diesem wenig markanten Eckpfeiler des Wettersteinmassivs hinunter zu gucken. Der Weg dorthin ist eine mittelschwierige Bergtour mit Passagen im I. Grad, guten Wegmarkierungen und einigen Stahlseilen.
Normalweg Obere Wettersteinspitze
Besagtem Weg folgen wir vom Klammstüberl aus. Es gäbe einen etwas eleganteren Startpunkt in einer kleinen Parkbucht direkt hinter der ersten Kehre beim Verlassen von Mittenwald nach Leutasch. Diese ist aber immer voll. Zumindest habe ich es bisher noch nie – auch nicht zu Feierabendtouren unter der Woche – geschafft hier zu parken. Sollte das jemals klappen, werde ich es voller Stolz hier vermerken und die Gelegenheit nutzen, Familienmitglieder und Freunde zu grüßen, die mich auf diesem langen Weg begleitet haben.
Mit unserem Ausgangspunkt gilt es also einen kleinen Rücken zu überschreiten. Danach steigt man einige Höhenmeter ab und eiert relativ lange in Richtung Westen über Lauter- und Ferchensee entlang. Alternativ kann man auch auf dem Rücken bleiben und den Grünkopf überschreiten – das ist vielleicht die etwas intuitivere Wegwahl, geht aber auch mit dem Verlust von Höhenmetern und Zeit einher, wobei der Gipfel selbst kaum lohnend ist. Und dann wäre da auch noch der Franzosensteig. Selbes Problem. Wir bleiben heute unten.
Rasch ist die erste Stufe erreicht, die unmissverständlich auf einem schwarzen Bergweg zur Oberen Wettersteinspitze zieht. Ein paar Serpentinen mit Drahtseilen, ein kurzes Schotterfeld, Schrofengelände, kurze, etwas exponierte Querungen und eine Rinne auf den Gamsanger.
Ich mag dieses fast unnatürlich symmetrische Plateau über Garmisch und Mittenwald. Knapp unter der 2000 Meter Grenze liegt hier ein Fußballfeld versteckt, welches aus dem Tal kaum auszumachen ist und zugleich ein wirklich geniales Brotzeitplatzerl zwischen Karwendel- und Wettersteingebirge ist.
Hier setzt auch der Gipfelaufbau der Oberen Wettersteinspitze an: knapp 300 Höhenmeter einfaches Kraxelgelände und alpines Steigen. Der Fels ist schön griffig und an den entscheidenden Stellen fest – nur ein Schotterfeld unterbricht den Genuss kurz. Die Markierungen sind recht üppig, die Aussicht herrlich. Wirklich exponiert ist der Weg nach meinem Empfinden nicht. Eine perfekte Bergwanderung für den Einstieg in etwas anspruchsvolleres Gelände in der Kragenweite T4.
Gipfel Obere Wettersteinspitze (2297m)
Hey da kann man nichts gegen sagen – auch in relativ dichter Bewölkung ist das ein wirklich schöner und lohnender Aussichtsgipfel. Man kriegt einen erstklassigen Einblick in das gegenüberliegende Karwendelgebirge. Und sowohl nach Norden wie nach Süden pfeift es ganz schön hinab. Ins Alpenvorland. Nach Leutasch. Man steht ja auch mitten auf einem Grat. Und genau dieser wird uns zum Verhängnis. Oder wenigstens unserer entspannten Wanderung auf die Obere Wettersteinspitze.
Was hier ansetzt ist der östlichste Teil des “Wettersteingrates”. Obwohl es ein Hand voll Grate im Wetterstein gibt, hat sich für die Skyline zwischen Mittenwald und (üblicherweise) der Meilerhütte dieser Name durchgesetzt. Im Vergleich zu seinen bekannteren Nachbarn wie Jubiläumsgrat und Blassengrat ist er vor allem in seiner Länge unübertroffen – mit Stellen im IV. Grad dürfte er aber auch in der reinen Kletterschwierigkeit und im Gesamtanspruch zu einer der ernsteren bergsteigerischen Unternehmungen in diesem Gebirge zählen.
Ich kann gar nicht richtig rekapitulieren, wie es zu dieser Entscheidung kommt, aber einen Wimpernschlag später stehen wir auf einem schmalen, brüchigen Gratabschnitt und lassen die Obere Wettersteinspitze – und damit den trivialen Rückweg ins Tal – hinter uns.
Beginn Gratübergang (II+)
Ich habe mich am Gipfel und mit Blick auf die kurz zwischen den Wolken heraustretende Landschaft daran erinnert, mal irgendwo einen lässigen Bericht über einen Abstieg nach Süden gelesen zu haben. Die Perspektive, nun also einen Teil des Grates anzugehen und nach Süden zum Auto absteigen zu können reicht aus, um uns an diesem Tag auf einen Grat zu locken, den wir überhaupt nicht geplant hatten. Die Spontanität dieses Momentes verblüfft mich nach wie vor – vielleicht ist es in relativ guter Verfassung, bei trockenem Fels und Aussicht auf stabiles Wetter aber auch die einzig logische Konsequenz gewesen. Wir peilen auf jeden Fall die Rotplattenspitze an schwingen uns auf den Wettersteingrat. Den – wenn man Berichten glaubt – allerleichtesten Abschnitt des Wettersteingrates.
Ziemlich direkt hinter der Oberen Plattenspitze führt ein schmaler, luftiger Felsgrat auf einen senkrechten Abbruch zu. Hier versteckt sich mit knapp 3 Metern Kletterstrecke die Schlüsselstelle des von uns heute begangenen Abschnittes. Eine etwas grimmige und leicht abdrängend-überhängende II+ ist an einer sehr luftigen Kante abzuklettern. Dem Fels – den man zuvor an anderen Stellen als wenig vertrauenswürdig präsentiert bekommen hat – muss man für zwei Züge doch etwas Vertrauen schenken. Nach unten hin löst sich die Stelle auf einem Absatz ganz gut auf – wir müssen aber anerkennen, dass wir Gelände in diesem Stil lange nicht mehr gemacht haben und hier vor allem mental gefordert sind. Wenn das so weitergeht, wird das eine spannende Sache.
Weiterer Gratverlauf (I-II)
Die Lage entspannt sich spürbar – es geht in einem regen Auf und Ab weitestgehend horizontal über den hübschen Grat. Uns stechen sogar einige Möglichkeiten ins Auge den Grat frühzeitig nach links zu verlassen. Das Gelände ist zwar auch dort steil, heikel und brüchig – ich finde aber dass ein Grat mit “Optionen” zur Seite sich immer ein gutes Stückchen entspannter anfühlt, als wenn man verbindlich auf die Gratschneide gefesselt ist.
Zu unserem heutigen Ausflug aus Kategorie “Lassmalnochdavorneschauen” passt das Gelände sehr gut. Nach der ersten, scharfen Kante schwindet das Gefühl ein nennenswertes Wagnis einzugehen oder sich auf Messers Schneide über den Abgründen zu bewegen. Der Grat entpuppt sich im Detail vielerorts doch als ziemlich breit, verschlungen und bietet zwischen seinen Türmchen und Scharten zahlreiche Varianten an. Es überwiegt alpines Gehgelände und wenige kurze Stellen an denen im I. oder selten II. Grad gekraxelt werden darf. Zumindest in unserer Wegwahl sind diese dann aber auch bei Weitem nicht mehr so exponiert, wie die Kante hinter der Wettersteinspitze.
Wir kommen gut voran, wobei sich im Labyrinth aus Scharten lange Zeit kein wirklicher Überblick gewinnen lässt. Aber wird schon gut sein. Wir machen keine Pausen und versteigen uns nicht. Jede Idee klappt intuitiv. Nur selten taucht die Rotplattenspitze in der Ferne auf und reichlich regelmäßig stellt sich direkt nach dem Umgehen oder Überklettern der nächste Aufschwung in den Weg. Wir umgehen Stellen, die wir nicht am Grat gehen überwiegend auf der Südseite, sehr selten bietet die steile Nordseite aber auch ein paar Bänder und gangbare Wege an. Es gibt einige Steinmänner und man freut sich, wenn man einem begegnet. Richtig navigieren lässt sich anhand dieser aber nicht – dafür ist das Gelände zu unübersichtlich.
Nach ziemlich genau einem Kilometer auf dem Grat nähern wir uns einer markanten Stelle – der Mittagsscharte. Man würde meinen, die kennt man doch aus dem Waxensteinkamm zwischen Zwölferkopf und Kl. Waxenstein. Ja aber nein. Gibt halt mehrere davon. Friss oder stirb.
Mittagsscharte
Beim Näherkommen schwindet der Mut nochmal kurz. Die Mittagsscharte schaut wild aus. Aus ihr zieht auf der gegenüberliegenden Seite eine in der Draufsicht kühne Kante empor. Das Ambiente mutet düster und brüchig an und die Scharte hebt sich ganz markant von dem ab, was wir bisher gesehen haben. Theoretisch soll man durch die nach Süden abfallende Rinne auch erneut absteigen können – da hier noch bizarre Schneefelder hängen ist das für uns heute keine wirklich reizvolle Option.
Den Zugang zu der Scharte finden wir im Angesicht eines steilen Abbruchs erneut auf der Südseite. Über einige Platten erreichen wir ein angenehmes Band und leicht absteigend das Gelände vor der Mittagsscharte. Wie so oft, entzaubert die Nähe den ersten Eindruck und der Abstieg zum tiefsten Punkt löst sich fein auf. Rückblickend ist das eine der wenigen Stellen, an denen sogar eine halbwegs üppige Pfadspur zu erkennen ist.
Aufschwung zur Rotplattenspitze (I-II)
Den Aufschwung auf der Gegenseite gehen wir von links an und folgen einer recht genüsslichen Schrofenrinne unmittelbar neben der Gratkante hinauf bis zu dem Punkt, an dem der direkte Grat wieder der leichteste Weg ist. Hingegen der Erwartung ist der Abschnitt von der Mittagsscharte auf den Gipfel der Rotplattenspitze die schönste und flowigste Passage unserer Wanderung. Der Fels ist gar nicht so übel und gut gestuft, das Ziel ist direkt gegenüber und rückt mit jedem Schritt näher und auf begeisternde Aufschwünge folgt vor allem flaches und festes Gehgelände.
150 Höhenmeter trennen uns am tiefsten Punkt der Mittagsscharte vom Gipfel der Rotplattenspitze und die vergehen nun wie im Flug. Die Wolken hüllen den Grat nochmal in ein surreales Licht und wir passieren ein paar kuriose Wechtenreste, die hier oben noch für einige Zeit der immer stärker werdenden Sommersonne trotzen.
Um den natürlichen Abbau des Altschnees zu beschleunigen, fange ich hier an Schneebälle zu snacken. Die heute nicht ganz auf den Umfang der spontanen Tour ausgelegten Wasserreserven sind kostbar und gehen zur Neige und der Grat ist schon längst entspannt genug um sich anderen Feldern der Bedürfnispyramide zuzuwenden.
Kurz vor der Rotplattenspitze gibt es nochmal einen kurzen Aufschwung, der aus der Ferne und durch die Wolkendecke hindurch schwer einzuschätzen war – er entpuppt sich als sehr gemütliche, griffige und nicht ausgesetzte Kraxelei Wenige einfache Gratmeter später erreichen wir den kargen Gipfel der Rotplattenspitze.
Gipfel Rotplattenspitze (2399m)
Obwohl dieser Gipfel, ähnlich wie auch die Wettersteinspitzen und die benachbarte Wetterwand, kaum erkennbar aus dem Wettersteingrat herausragt, bietet er eine wirklich hübsche Aussicht. Nach Süden fällt das Massiv ohne große Umschweife ins Leutaschtal ab. Im Norden trennen uns schroffe Abstürze vom tief unten erkennbaren Schloss Elmau. Öfelekopf und Leutascher Dreitorspitze begrenzen das zu dieser Jahreszeit noch mit reichlich Schnee bedeckte Leutascher Platt. Vor allem der Weiterweg sieht verlockend aus. Für uns steht fest:
Rotplattenspitze Südgrat (I)
Für heute geht es also an den Abstieg über den Südgrat der Rotplattenspitze und durch das “Kar im Flecken”, in welchem auch der südseitige Abstieg durch die Mittagsscharte mündet. Während wir die tollen Wolken bewundern und unserer Müsliriegel genießen ahnen wir noch nicht, dass das weglose und anhaltend anspruchsvolle Gelände uns noch eine ganze Weile beschäftigen wird. Denn eigentlich ist das Tal und das Auto direkt da unten. Großartige Strecken oder Hindernisse scheinen sich nicht in den Weg zu stellen.
Der Südgrat, zunächst ein weicher Grasgrat, lässt sich schön gehen. Pfadspuren oder Steinmänner sind fortan aber nicht mehr vorhanden – dafür hat man eine recht logische, natürliche Linie vor sich liegen. An der Stelle an der eine felsige und abweisende Rippe aus dem Grat hervortritt halten wir uns links und steigen in eine ziemlich steile Schrofenflanke ab. Bei Nässe möchte ich hier nicht stranden.
Plattenzone
Die Schrofenflanke verjüngt sich an ihrem Ende in ein kleines Schotterfeld und leitet in eine nun erkennbare und ziemlich interessante Plattenzone, an der mal ein gutes Stückchen Berg abgeglitten sein muss und bestimmt auch noch einiges folgt. Der geübte Geologe könnte hier sicher noch mehr erzählen – wir sparen uns die nähere Auseinandersetzung mit der Platte und steigen schon früher im steilen Gras auf ihrer linken Seite einige Höhenmeter ab.
Wir sind uns kurz uneinig, was die nun für uns richtige Wegwahl angeht. Steht man erstmal auf diesem Absatz, dann scheint es so als würde er in alle Richtungen in senkrechte Wände abbrechen. Eine kleine Insel im Chaos. Ich hatte mich bei den kurzen Blicken, die wir von der Oberen Wettersteinspitze auf den gegenüberliegenden Abstieg erhaschen konnten auf eine grasiges Band eingeschossen, welches die Wand recht hoch quert und in der Draufsicht flach und gangbar erschien.
Hannah möchte sich eher direkt vom Ende des Plateaus ins Kar durchschlagen – an einer Kante hinter der ich senkrechte Abbrüche oder ungangbare Schrofen vermute.
Schrofenbänder ins Kar (I-II)
Als wir über die Kante spähen muss ich Hannah Recht geben. Das sieht eigentlich ganz gut aus. Die Flanke ist viel gegliederter, als es in der Draufsicht den Eindruck machte. Zwar dürfen noch ein paar steile und heikle Stufen im nicht immer festen und vor allem feuchten Fels abgeklettert werden – dazwischen geht es sich auf grasigen Bändern aber recht angenehm. Wir wenden uns unserem eigentlichen Ziel – dem Tal – hier nochmal ab und traversieren leicht absteigend nach Norden auf die Wettersteinspitzen und das Kar zu. Nach und nach bildet sich eine ganz schwache Pfadspur aus und überraschend entspannt erreichen wir die ersten Schnee- und Schotterfelder sowie das Ende des Absturzgeländes.
Kar im Flecken
Gejagt von einem wütenden Mob an Schafen queren wir mittig in das Kar und suchen hier einen der Abstiegspfade, die von oben kommend noch halbwegs erkenntlich waren. Hier unten fällt das etwas schwerer. Das Kar im Flecken fließt rechterhand durch eine markante Schlucht bzw. Rinne hinab ins Leutaschtal. Diese ist wenig steil und früher im Jahr bestimmt mit Schnee gefüllt – vermutlich eine ziemliche Abkürzung. Heute bietet sich das weniger an und der Schotter in der Rinne wirkt nicht so, als wenn man ihn gut abfahren könnte. Wir halten uns also links der Rinne in einer von Latschenfeldern durchsetzen Flanke. Die Schafe sind dermaßen penetrant, dass wir uns kurz fürchten einen unbeabsichtigten Almabtrieb anzustiften und in Leutasch im Gefängnis zu landen.
Und sobald man der Schafsmeute Herr geworden ist sollte man sich auch von der Landschaft nicht täuschen lassen. (Ich tu es trotzdem).
Obwohl hier schon alles blüht, frohlockt, grünt und mäht ist der Weg ins Leutaschtal noch wirklich weit. Ich spüre, dass ich hier ein wenig zu sehr abschalte und mangels Konzentration beim immer noch weglosen Weiterweg immer wieder rutsche oder umknicke. Ist jetzt hier nicht mehr so dramatisch – optimal ist es auch nicht. Um die Zahlen sprechen zu lassen: ab dem Punkt, an dem wir mutmaßlich einfaches Gelände erreichen, sind noch 900 Höhenmeter abzusteigen. Das ist in manchen Breiten eine vollumfängliche Tagestour.
Übrigens. Während wir noch mit den Schafen diskutieren donnert hinter der flauschigen Herde ein recht erwähnenswerter Steinschlag aus der Wand und rauscht durch die Flanke, die wir gerade unter der Plattenzone gequert haben. Das mag nun in derartigem Gelände keine Überraschung sein – wir sind trotzdem beeindruckt und froh, dass wir nicht das höhere Band gewählt haben und jetzt auch nicht in der Schotterrinne unter dem Kar stehen, welche als Auslauf für das Spektakel dient.
Abstieg ins Tal
Der Abstieg zieht sich. Immer wieder meinen wir nun einen alten Steig gefunden zu haben, verlieren ihn dann aber in den unübersichtlichen Schrofenstufen wieder. Erst knapp 300 Höhenmeter tiefer stoßen wir auf etwas, was die Bezeichnung Pfad verdient hat und arbeiten uns hier weiter ins Tal. Dieser ist in manchen Karten sogar eingezeichnet. Es ist wirklich schön hier. Blühende Wiesen, unberührte Natur, ringsum wunderschöne Berge. Aber wir sind langsam aber sicher auch ziemlich durch und checken schon aus dem Latschendickicht heraus die Busfahrpläne. Die knapp 5 Kilometer Talhatscher könnte man sich ja ausnahmsweise mal sparen.
Am Ende sind wir zu Fuß schneller zurück am Ausgangspunkt als wir es mit Bus und den ländlichen Wartezeiten gewesen wären. Es war sogar noch Zeit auf dem Weg ein alkoholfreies Bier abzustauben.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Obwohl der Grat bis zur Rotplattenspitze einigermaßen kurz ist (ca. 1,5 Kilometer) fordert er gute Ausdauer und Entscheidungsfreudigkeit im weglosen Gelände. Die Schwierigkeiten im Fels nehmen von der Oberen Wettersteinspitze zur Rotplattenspitze langsam aber kontinuierlich ab, der Aufschwung ab der Mittagsscharte ist dann sogar wirklich überraschend angenehm und flowig. Geht man die Tour wie wir, so darf die Rotplattenspitze keinesfalls als Ende der Tour gesehen werden. Der Abstieg über den Südgrat verlangt sehr sicheres Steigen in unwegsamen, brüchigen und je nach Bedingungen auch feuchten Schrofen. Da die Wegwahl hier kleinräumig sehr unterschiedlich ausfallen wird, sollte man bestimmt mit Stellen im II. Grad und viel Erde und Gras im anhaltenden Absturzgelände rechnen. Am Grat gibt es einige Steinmänner, der Abstieg fühlt sich mangels solcher eher wie Pionierarbeit an und setzt wirklich routinierte und geschickte Wegfindung voraus. Man hat hier auf jeden Fall eine gute Chance, irgendwo in einer wirren Flanke zu blockieren oder sich viel länger als notwenig dem Steinschlagrisiko auszusetzen. Das trifft auch auf die zahlreichen, möglichen aber nicht minder anspruchsvollen Abstiege von der Oberen Wettersteinspitze, aus der Mittagsscharte oder vom Grat selbst nach Süden zu. Falls das Wetter umschlägt oder man in eine andere Notlage kommt (Schafattacke hehe) findet man sich schnell in recht ernster Lage in einer sehr abgelegenen Ecke des Wettersteingebirges wieder, aus der es keinen schnellen oder wirklich einfachen Ausweg gibt.
Zusammenfassung
Eine für uns sehr feine, einsame und ergiebige Verlängerung einer spontanen Wanderung. Lehrreich waren definitiv die langen Passagen im absolut weglosen Gelände. Dieses war zwar nicht per se schwierig, diente aber zu einer guten Erinnerung, dass egal wie “schwer” ein Berg ist – er mit Markierungen und einer schwachen Pfadspur grundsätzlich in einer sanfteren Liga spielt. T5 und II gibt es auch anderswo. Etwa an der Ehrwalder Sonnenspitze, am Wörner, am Hohen Gaif, an einem kleinen Waxenstein oder an den Arnspitzen. Der Anspruch dieser Touren liegt in meiner Wahrnehmung aber markant unter der heutigen Runde – obgleich das Gelände eigentlich sehr ähnlich ist.
Ganz schön großzügige Nachmittagstour, die Ihr da gemacht habt – Respekt! Ein sehr schöner Bericht noch dazu, wie ich sowieso Deinen ganzen Blog echt klasse finde.
Ich erlaube mir einen Link mit dem Hinweis, dass ich in besagter Kehre hinter Mittenwald tatsächlich schon mal geparkt habe. 😉 Allerdings bei Bedingungen, bei denen es nachvollziehbarerweise nur Wenige auf die umliegenden Gipfel zieht: https://www.deichjodler.com/2021/05/untere-wettersteinspitze/