Also ich. Ohne BergpartnerIn. Zumindest ist das etwas, was inzwischen extrem selten vorkommt und wenn dann nur im Umfang kleinerer Feierabendtouren. Das ist auch überhaupt nicht schlimm. Außer man vergisst dabei mit der Zeit, wie anders sich das alleine gehen anfühlen kann und wie viele mentale Reserven man einplanen muss, um in absoluter Einsamkeit in Gelände zu agieren, dass in gewohnter Begleitung ein Selbstläufer wäre. Eine kleine, dankbare Notiz dafür ist meine spontane Tour auf einen einsamen Trabanten des imposanten Grünsteins. Bei – so wage ich zu behaupten – beinahe Idealbedingungen.
Ich habe bereits beim Westgully der Tiefkarspitze, einer der eindrücklichsten Touren meiner bergsteigerischen Neuzeit, ein wenig ausgeholt. Dass es ziemlich faszinierend sei, wie man manche Berge über Firnrinnen vergleichsweise einfach ersteigen kann. Wie spannend es sei, mit dem richtigen Timing einen sonst brüchigen oder heiklen Gipfel beinahe geschenkt zu kriegen. Und wie befriedigend das Ergebnis sei, wenn es mal wirklich so kommt.
Die Marienbergspitzen sind möglicherweise solche Kandidaten. Eingebettet in den unvorstellbaren Bruchhaufen der Mieminger Kette sind sie von keiner Seite wirklich nahbar. Gut – der Dunstkreis an Interessenten dürfte ohnehin relativ klein sein. Die Berge sind auch aus beinahe keiner Perspektive nennenswert markant oder ansprechend und gehen fast immer als unförmige Graterhebungen des Grünsteinmassivs unter.
Die meisten Besuche bekommt die östliche Marienbergspitze wahrscheinlich im Winter als schwere Skitour aus dem Schwärzkar heraus. Eine ausdauernde Runde mit ordentlichem Finale in einer steilen Rinne, bei der die Lawinenlage passen muss. Im Hochsommer, ist vor allem der Westgrat auf die Marienbergspitzen eine dokumentierte und etwas abenteuerlichere Bergfahrt mit Kletterei bis in den III. Grad. Anfang Juni und direkt nach einer Woche Chamonix scheint mir aber ein Mittelweg als reizvollste Variante – die nördlich ausgerichtete Rinne aus dem Schwärzkar, die per Webcam von der Zugspitze aus einsehbar ist und noch mit reichlich Altschnee gefüllt zu sein scheint.
Seeben-Klettersteig (D/E)
Um schnell auf das Plateau mit Seeben- und Drachensee zu gelangen verwende ich den Seeben-Klettersteig, der zu früher Stunde noch halbwegs leer ist. Für die aufgerufenen Schwierigkeiten kommt mir diese Steiganlage nach wie vor äußerst einfach vor – ich muss aber auch erneut anerkennen, dass Klettersteige überhaupt nicht mehr meine Welt sind. Die Wegführung ist teils sinnlos gezwungen über arschglatte Platten, die Sturzweite und das Sturzgelände kommen mir inzwischen mit dem direkten Vergleich zum Klettern reichlich gruselig vor. Am Limit möchte ich hier nicht unterwegs sein – und staune dann immer nicht schlecht, wenn ich feststelle, dass die meisten Aspiranten es sind und sich dabei pudelwohl fühlen.
Zustieg
Der Rest ist erstmal feines Wandergelände in hübscher Kulisse. Seebensee und Sonnenspitze wecken Erinnerungen. Auf der anderen Seite die schon gut besuchte Tajakante, die zwar auch eine andere Welt ist, mir vor einigen Jahren aber als selbsterdachter Meilenstein enorm viel bedeutet hat. Dahinter der Drachenkopf, den ich inzwischen vor allem mit einer stimmungsvollen Winterbegehung an meinem Geburtstag in Verbindung bringe. Dahinter die Mauern von Grünstein und Grießspitzen, die noch ziemlich unbeschriebene Blätter sind.
An der Coburger Hütte schlüpfe ich am Rummel vorbei und flitze direkt weiter in Richtung Drachenkopf. Der Wanderweg biegt links ins Schwärzkar ab und führt hier in die Höhe, wobei die Zivilisation immer mehr aus dem Blick verschwindet und sich wieder eine allgegenwärtige Ruhe einstellt.
Ein paar wenige Bergsteiger kommen mir noch am Normalweg zum vorderen Drachenkopf entgegen, doch als dieser in das Schotterfeld unter dem Grataufschwung führt halte ich mich rechts ins weglose Gelände und verschwinde hinter den zahlreichen Hügeln. Abseits von ein paar Schafen bin ich hier hinten nun völlig alleine. Vor mir eröffnet sich erstmals ein Blick auf die Rinne an der östlichen Marienbergspitze und das umliegende Gelände. Rasch habe ich einen schneefreien Pfad im Schotter unter den Abbrüchen des Wampeter Schrofen entdeckt, den ich als dessen Normalweg ausmache. Im hinteren Teil des Schwärzkars war ich bisher noch nicht – muss aber feststellen, dass das hier ein ziemlich hübsches und zugängliches Kolosseum aus rauen Bergen ist.
Obwohl die Schotterquerung nicht wirklich einladend und das Gelände reichlich steil scheint entpuppt sie sich als wirklich angenehm. Der vage Pfad ist zwar nicht markiert aber ausreichend ausgetreten und der recht grobe Schotter bietet guten Halt. Viel zu schnell stehe ich am beinahe höchsten Punkt des Schotterfeldes und damit auch vor einer Entscheidung. Ich hatte mir für den Fall, dass die Rinne zu wenig einladend aussieht auch den Normalweg zum Wampeter Schrofen zurechtgelegt, der hier über ein schmales Band in die wirren Wändchen führt. Direkt daneben setzt die Schwärzrinne an, die im Winter eine der legendären Steilabfahrten der Zugspitzarena ist. Und dann wäre da noch meine Rinne. Die wirklich fein aussieht. Wenn man sie denn erreicht. Die 100 Meter durch wechselnd Schotter, morschen Altschnee und einen steilen Hang dürften in der Draufsicht nämlich der anspruchsvollste Abschnitt sein. Hier wäre mir eine durchgehende Schneedecke sogar lieber gewesen. Deshalb sind die Bedingungen auch nur “beinahe ideal”.
Als ich gerade aufbrechen will donnert es und ein knapp einen Meter messender Felsblock fliegt vor mir aus der Wand der westlichen Marienbergspitze und poltert durch die Querung, die ich gerade inspiziere. Das ist insofern spannend, als dass ich speziell hier eher faustgroße Geschosse erwarten würde, die im Schotter aber ohnehin nicht allzu weit kommen. Der Kollege hier erinnert aber eher an das, was wir zuletzt im instabilen Granit von Chamonix reichlich beobachten durften. Da ich unter der Schwärzrinne relativ sicher stehe, kann ich es mir leisten kurz zu erstarren und abzuwarten. Abzuwarten, ob da mehr folgt. Abzuwarten, ob ich etwas spüre oder das Bedürfnis habe umzudrehen.
Nordrinne (~45°)
Man könnte sich nun wirklich lange aufhalten und darüber sinnieren, wie knapp das nun war. Ob man nicht vielleicht schon 30 Meter weiter hätte sein können, ob der Stein einen dann erwischt hätte und ob das dann sehr schlimm gewesen wäre. Für den Moment fühlt sich das aber nicht wichtig an. Der Stein ist weg und ich bin hier. Die Situation verschwindet im Rückspiegel wie der LKW, der auf der Autobahn auf die linke Spur ziehen wollte.
An der Rinne angekommen inspiziere ich diese kurz. Das Firnfeld ist in seiner Mitte locker einen Meter mächtig, oben sieht es nach noch mehr aus. Der Untergrund ist rau und schroff, es fließt kein Wasser. Ich habe nicht das Gefühl, hier ein unterspültes Häufchen zu erklettern, welches sich unter der Zusatzlast ins Tal verabschieden könnte. Seit einem ungefährlichen aber beeindruckenden Erlebnis am Kraxengrat, bin ich da etwas argwöhnischer geworden.
Mit einem Pickel bewaffnet geht es empor. Steigeisen habe ich in der Erwartung von relativ weichem Schnee zu Hause gelassen. Das passt auch – das Gelände ist gangbar und es lassen sich schöne, tragende Tritte treten. Dennoch wäre es mit Steigeisen wahrscheinlich angenehmer gewesen. Und irgendwie stresst mich jetzt mit etwas Verzögerung der eben beobachtete Steinschlag. Die Rinne ist an ihrer steilsten Stelle nur knapp 45° steil und relativ kurz – es gibt aber auch keine wirklichen Ausweichmöglichkeiten und so fühlt sich das stetige Treten und Steigen plötzlich relativ exponiert an. Ich weiß gar nicht gegenüber was man hier exponiert wäre. Es ist einfach das Gefühl, dass alles fein ist, solange man das tut, was man gerade tut. Tut man das aus irgendeinem Grund nicht mehr, ist aber auch nicht alles fein. Seufz.
Die Felsrippe, die die oft nur 10 bis 20 Meter breite Rinne nach rechts begrenzt ist übrigens gnadenlos brüchig. Ich entdecke hier ein wenig fixes Material, Schlingen, Schlaghaken. Offenbar gibt es hier auch einen Zu- bzw. Abstieg, der ohne Schnee aber ordentlich rustikal sein dürfte. Ich bin zumindest sehr froh, mich damit heute nicht weiter auseinandersetzen zu müssen.
Nach einer vagen Linkskurve taucht bereits das Ende der Rinne auf, die westliche Marienbergscharte, welche zwischen den beiden Marienbergspitzen liegt. Anhaltend steil erreiche ich die Randkluft, bouldere kurz zwischen Bruch und Schnee hinauf und erreiche die Sonne, den Blick nach Süden und das vorläufige Ende der Schneetreterei.
Gipfelaufschwung (I-II)
Nach Süden fällt eine weite Schotterrinne ab. Ich hatte irgendwo von einer Abstiegsvariante gelesen, die hier durch führt. Obwohl ich gerne noch andere Optionen als die Firnrinne gehabt hätte, verwerfe ich den Plan sofort.
Der Gipfel ist dann schnell erreicht, wobei auf dem Weg ein bisschen splittriger Fels im I. Schwierigkeitsgrad weggedrückt werden darf. Erinnert doch stark an die eine oder andere Karwendeltour – obwohl die Kletterei nicht schwer ist, möchte man nicht zu fest an den vielen Griffen ziehen und nicht jeden Tritt voll belasten. Am Gipfel führt ein kurzer, fester Grat zu dem etwas südlich vorgelagerten Gipfelkreuz.
Man erhält einen irren Blick auf den gegenüberliegenden Grünstein, welcher zum Greifen nah scheint. Auch der Grat mit den beiden Drachenköpfen erhält hier eine neue, spannende Perspektive. Die Sonnenspitze geht als nahezu perfekte Pyramide fast hinter den kühnen Zacken von Wampeter Schrofen und westlicher Marienbergspitze unter. Ich beobachte zwei Bergsteiger, die gerade das Band zum Wampeter Schrofen einsteigen.
Abstieg
Da ich noch den Abstieg im Nacken sitzen habe und das Wetter auf den Nachmittag schlechter werden soll, fällt die Gipfelrast relativ kurz aus. Ich kann mich ohnehin nicht entspannen, wenn ich von einem etwas schwierigeren Berg wieder runter muss.
Die Rinne entpuppt sich aufgrund der nun vorhandenen Tritte im Abstieg als viel einfacher und entspannter. In wenigen Minuten erreiche ich das Schotterfeld an ihrem Auslauf. Auf die Querung habe ich keine Lust mehr und fahre den idealen, feinkörnigen Schotter ins Schwärzkar ab, Wechsel auf ein großes Altschneefeld und erreiche den Grund des Kars mit seinen hübschen Blöcken und Wiesen.
Der Rest ist Formsache. Zurück zum Drachenkopf, zurück zur Coburger Hütte. Hinab zum inzwischen gut besuchten Seebensee und weiter auf dem Hohen Gang zurück nach Ehrwald. Es wird bestimmt nicht die letzte Skitour gewesen sein, die ich im Frühsommer gelaufen bin. Abseits kleinerer Krisen, die die Einsamkeit in mir ausgelöst hat, gefällt mir dieser Stil auf Berge zu kommen enorm gut. Man könnte beinahe von einer Mini-Hochtour sprechen – bloß ohne dafür an den Arsch der Alpen fahren zu müssen.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Umfangreiche aber bei guten Bedingungen nicht wirklich schwere Bergtour für etwas anspruchsvollere Berggeher. Eine gewisse Erfahrung in vergleichbarem Gelände ist notwendig – durch die anhaltende Steilheit, den “Knick” in der Rinne und das später im Jahr ungute (weil apere) Auslaufgelände eignet sich die Rinne zur Marienbergspitze nicht wirklich als Übungsgelände. Ein Großteil der Tour folgt dennoch gemütlichen Wanderwegen in bekanntem Gelände – gewürzt mit einem kurzen, rauen und kombinierten Finale auf einen einsamen Gipfel.
Helm und Pickel halte ich für obligatorisch, Steigeisen schaden nicht. Die Rinne bekommt an ihrem steilsten Stück kaum Sonne ab und kam mir für die vorherrschende Temperatur ziemlich eisig vor.
Zusammenfassung
Eine Mini-Hochtour im Nahbereich, ein vitalisierender Alleingang und eine abwechslungsreiche Runde durch diverse Bergsportdisziplinen in großartiger Kulisse. Herz was willst du mehr.