Ich mach mir nicht allzu viel aus Geburtstagen – die Zeiten, in denen man jeden Anlass für Alkohol genutzt oder große Parties geschmissen hat, sind eh vorbei. Wenn ich mir anschaue, wie ich meine Freizeit mittlerweile verbringe, bin ich da auch gar nicht so traurig drum. Ein bisschen komisch ist es trotzdem im November 2022 mal einen drastisch anderen Geburtstag zu verbringen, an dem ich auch für meine Familie nur wenig bis gar nicht erreichbar bin. Nur mit Hannah in den frisch eingeschneiten Bergen der Mieminger Kette. Im Gepäck die Aussicht auf eine sehr kalte Nacht im Winterraum der Coburger Hütte und einen sehr unkonkreten Zettel mit möglichen Bergzielen.
Der Winter steht in den Startlöchern und über 1800 Meter hat es schon ordentlich Schnee gegeben – für Lawinenlageberichte ist es aber noch zu früh im Jahr. Generell. Eigenartig dieses weiße Zeug da oben. Das ist man nach einem so langen und intensiven Bergsommer 2022 gar nicht mehr gewohnt. Von unten lässt sich auch überhaupt nicht abschätzen, wie viel es nun geschneit hat. Bei der Einfahrt nach Ehrwald verspricht ein Blick auf die Westwände an der Zugspitze eine minimale Schneeauflage – übersieht aber ein kleines Detail. Die Wände hier sind zu steil für Schnee. Drumherum könnten 3 Meter Schnee liegen und die imposante Wand wäre überwiegend “schneefrei”. Aber so schlau müssen wir erst noch werden und für einen Moment freuen wir uns über den wenigen Schnee und die wilden Bergabenteuer, die er uns durchgehen lassen wird.
Unser Standartweg zur Coburger Hütte führt über den hohen Gang. Er ist eine fantastische Symbiose aus kurzer Strecke mit steilem Anstieg und dabei aber einfach genug, um schweres Gepäck mitzunehmen. Ein solches Gepäck haben wir heute nämlich durchaus dabei.
Im Rucksack ist wirklich jede Form von Sinn und Unsinn zu finden – er wurde ebenso unkoordiniert gepackt, wie unser Bergwochenende geplant ist. Den Talkessel kennen wir gut und haben uns einige Optionen zurecht gelegt. Um nur einige zu nennen: Winterbegehung Tajakante, Ehrwalder Sonnenspitze, Vorderer Drachenkopf. Ich habe mir für den Folgetag außerdem eingebildet, dass es super pfiffig wäre, den Klettersteig an der Wankspitze quasi von hinten aus der Grünsteinscharte kommend zu überfallen. Und so umfasst der Rucksack neben reichlich Klamotten und Verpflegung für eine Nacht in einem uns noch unbekannten Winterraum auch Grundausstattungen Fels (Karabiner, Schlingen, Keile), Eis (Pickel, Steigeisen) und ein Halbseil für eventuelle Abseilmanöver und Notfälle. Von der Ausstattung her würde man uns wohl eher an den 4000ern der Westalpen vermuten. Aber wir wollten uns eben alle Optionen offen lassen und zunächst die Coburger Hütte ansteuern und Gewicht abladen. So schlimm ist der Plan gar nicht.
Schon beim Umrunden des Seebensees – bereits im pulvrigen Neuschnee – wandert der Blick in die umliegenden Hänge. Die Sonnenspitze sieht in der Draufsicht durchaus wild aus. Aber das tut sie das ganze Jahr über. Die Tajakante wirkt ihrer Steilheit und Ausrichtung geschuldet relativ schneearm. Der Drachen…Moooment. Da ist ja jemand in der Tajakante?!
Während wir an dem Schild “Klettersteig Tajakante gesperrt” am Südufer des Seebensees vorbeilaufen haben wir schon die tollsten Theorien entwickelt. Denn nach einer Begehung sieht das, was die rote Silhouette da treibt nicht aus. Die Person steht über Minuten still in der Wand. Nur wenige Meter über den Einstieg in den Klettersteig. Von meiner Tour vor einem Jahr weiß ich, dass es hier zwar eine kurze, steile Stufe zu überwinden gibt – danach aber eigentlich ganz gemütlich weitergeht. Die rote Figur geht ein Stück tiefer. Dann wieder ein Stück hoch. Für mich ist die Sache klar:
Zumindest gibt es eine solche Praxis an anderen bekannten (Sport-)Klettersteigen um die Menschheit vor ihrer eigenen Blödheit und/oder die Bergwacht vor kalten Wintereinsätzen zu bewahren. Da die bekannteren Sportklettersteige ja in irgendeiner Form schon als Touristenattraktion und Sportgeräte durchgehen, gibt es oft auch verantwortliche Stellen die diesen betreuen und seine Sicherheit gewährleisten. An der Tajakante hätte ich das nicht erwartet. Es gehört dann doch eine gewisse Spur Wahnsinn und eine gute Portion sorgfältiger Selbsteinschätzung dazu, überhaupt auf die Idee zu kommen hier im Winter einzusteigen. Und dann sind da auch noch zwei weitere Personen, die am Zustiegspfad zur Tajakante auf und ab gehen. Wird schon alles seine Richtigkeit haben hier.
Fasziniert beobachten wir das Spektakel an der formschönen Kante, während wir durch den etwas sehr gleichförmigen Latschenhang den letzten Anstieg auf die Coburger Hütte bestreiten. Dort angekommen packen wir schnell alle nicht benötigten Gegenstände ins eiskalte und im Dach des kleinen Nebengebäudes liegende Lager. Dann geht es wieder vor die Tür. Wir haben heute schließlich noch was vor.
Unser Ziel ist die Ehrwalder Sonnenspitze. Einfach mal gucken. Als Ass im Ärmel schleppe ich das Seil mit – im Weg auf die Sonnenspitze hängen einige fixen Sachen, auf die man im Notfall zurückgreifen könnte und die einen raschen Rückzug ermöglichen (sollten). Wir stapfen also das kurze Stück von der Coburger Hütte nach Westen und bahnen uns einen Weg durch die verschneiten Latschen. Der kleine Pfad, der im Sommer in das steile Schotterfeld führt ist heute nicht zu erkennen. Ich knicke ständig um. Vor einigen Wochen bin ich im Klettergarten etwas härter in die Wand gesprungen und habe meinen rechten Knöchel damit minimal überfordert. Das rächt sich jetzt. Die “großen” Steigeisen an den zwar steigeisenfesten aber extrem weichen Superleicht-Bergstiefeln (jaja ich hab draus gelernt) sind ein wackeliges Konstrukt. Darunter der unebene und durch den Schnee nahezu nicht abgefederte Untergrund mit Felsen, Geröll und Wurzeln. Es könnte besser laufen. Ich könnte besser laufen.
Über dem Schotterfeld ist die Aussicht auf die winterlichen Mieminger zwar hübsch, das Vorankommen wird aber auch immer abenteuerlicher und steiler. Schon vor der eigentlichen Einstiegsrinne im leichten Schrofengelände wird klar – das ist zach. Zu zach für den heutigen Nachmittag. Die feine Pulverschneeauflage sorgt für kniffligste Bedingungen und wir sind diese Saison noch nichts mit Steigeisen gekraxelt. Der Schnee verdeckt alle Felsen, Strukturen, Tritte und Griffe unter sich – bietet aber gleichzeitig keinen Halt und keine Abkürzung. Manch eine im Sommer bröselige Rinne lässt sich auf kompaktem Schnee im Winter wesentlich schneller und leichter ersteigen. Auf sowas brauchen wir heute nicht setzen. Wir werden jede Stelle in ihrer schlimmstmöglichen Form vorfinden und der Tag ist auch schon fortgeschritten.
Wir machen eine Rückzieher. Schotterfeld wieder runter – diesmal etwas direkter und schneller und dann gegenüber hinauf. Denn wir sind noch nicht fertig mit den Bergen heute. Unser nächstes Ziel ist der vordere Drachenkopf – ein logisches Downgrade nach dem Rückzug an der Sonnenspitze. Im Sommer ein guter Einstieg in alpinere Touren mit einem kurzen aber schönen Gipfelgrat und einigen leichten, teils brüchigen Kraxelstufen im 1. Grad. Ich bin ihn bisher auch nur einmal gegangen – im Herbst 2021. Wie das im Winter aussieht keine Ahnung. Aber eine etwas unverbindlichere Tour als die Sonnenspitze dürfte es auf jeden Fall werden und zeitlich geht sich der kurze Anstieg trotz teils hüfthohem Pulverschnee vielleicht auch noch aus. Wir kämpfen uns durch das Kar hinauf. Es gibt keine Spur, wir scheinen die Ersten seit Wintereinbruch zu sein. Die Schneeauflage misst mal einige Zentimeter und mal einen Meter – immer wieder brechen wir tief ein.
Den Drachen bezwingt man auf seiner Südseite über einen markanten, scharfen Felsgrat, der an einer Stelle in einem kurzen Sattel sehr dicht an das Schotterfeld absinkt. Hier lässt sich in einem kurzen Schrofenaufschwung von etwa 40 Höhenmetern der Grat erreichen, der nach links ansteigt und markiert auf den vorderen Drachenkopf führt.
Es ist mehr ein Schwimmen als Klettern oder Steigen. Ich vermisse meine Poolnudel, der Pickel ist auf jeden Fall weitestgehend überflüssig. Schnee wegschiebend und Stufen suchend geht es den kleinen Aufschwung hinauf. Unten im Schotterfeld folgen uns tatsächlich auch noch zwei Bergsteiger. Das macht dann wieder 2,50€ für’s Spuren. Oben angekommen zeigt sich der verschneite, zackige Grat auf den Drachenkopf. Das Gelände ist zwar leicht aber durchaus abenteuerlich – gerade wo ich mit meinem Knöchel und Schuhwerk heute ohnehin etwas wackeliger unterwegs bin. Die bröseligen, eisigen Kletterstellen benötigen schon ein wenig Konzentration und ein kurzer, schmaler Quergang auf der Ostseite des Grates ist mit nicht ganz verlässlichen Schritten dann doch ziemlich luftig. Hält man inne und schaut zurück, kann man kaum glauben, dass die kleine Spur zwischen den winterlichen Felszacken zu einem selbst gehört. Viel zu steil, abweisend und kalt sieht es aus. Es ist mein erstes Mal richtiges Winterbergsteigen. Nicht nur in diesem Jahr sondern generell. Die kleine Schneeauflage schraubt den Anspruch einer Tour doch ein gutes Stückchen nach oben.
Nach dem kurzen, aber abenteuerlichen Grat erreichen wir den Gipfel des vorderen Drachenkopfs auf 2302 Metern. Eine wilde Wolkenstimmung haben wir erwischt. Tiefe, dichte Wolken rauschen von Westen in die Mieminger Kette, werden aber gerade noch an der Sonnenspitze und dem Wampeter Schrofen gestoppt und lassen einige Sonnenstrahlen der goldenen Nachmittagssonne durch. Gegenüber haben wir nun einen sehr detaillierten Einblick auf die Sonnenspitze. Ich bin froh, dass wir es bei einem müden Versuch belassen haben. Das ist aktuell noch eine Hausnummer zu groß – zumindest bei diesem Schnee. Ich bin auch froh, dass wir die Zeit noch für den leichteren Drachenkopf genutzt haben – denn jetzt sind wir aus Versehen zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Aus Versehen knipse ich das wahrscheinlich schönste Bergbild, dass mir bislang untergekommen ist. In den tief hängenden Wolken und bedeckt vom frischen Schnee, gibt die Sonnenspitze einen unglaublichen Anblick ab. Ich bin froh, dass wir relativ früh von einem Besteigungsversuch abgesehen und die Zeit für den leichteren Drachenkopf genutzt haben – zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort:
Die beiden, die wir unter uns gesehen haben sind bereits umgedreht. Den Spuren zufolge sind sie bis zum Sattel auf den Grat gelangt und haben es sich dann anders überlegt – wahrscheinlich haben die nun immer stärker hereinziehenden Wolken auch ihren Teil dazu beigetragen. In episch-dramatischer Wolkenstimmung folgen wir unserer Spur über den winterlichen Grat zurück zum kleinen Sattel. Diesen erreicht geht es wieder nach rechts auf das Schotterfeld und dort – unserer Spurarbeit sei Dank – wesentlich schneller und leichter zurück in die Coburger Hütte.
In der Hütte haben wir Mitbewohner bekommen. Einer entpuppt sich als die Gestalt aus der Tajakante. Er hatte, anders als von uns vermutet, keine Stahlseile abmontiert sondern einen Versuch an der Kante nach einigen Metern wegen vereisten Platten wieder abgebrochen. Ein Pärchen ist auch noch da und möchte am Folgetag die Sonnenspitze oder den Drachenkopf angehen (es wird letzteres). Allesamt aber eine doch sehr lustige Runde und beim Abendessen lesen wir die fast schon filmreife Schlammschlacht im Hüttenbuch des Winterraums, die auf einige Unstimmigkeiten mit den Heizmöglichkeiten und durchaus vorhandenen Alkoholpegel der Autoren schließen lässt. Irgendwo zwischen Ebay-Kleinanzeigen und Kommentarspalte bei Spiegel-Online wurden hier manche Gespräche über Jahre hinweg ausgetragen und fortgeführt.
Irgendjemand beschwert sich, dass er den Schlafsaal auf nur 24° geheizt bekommen hat. Keine Ahnung wie der Kollege das geschafft hat. Selbst wenn man das Haus mit Benzin überschütten und anschließend anzünden würde, wäre eine solche Temperatur nicht erreicht.
Für den Folgetag nehmen wir uns die Wankspitze über den Klettersteig vor. Nachdem unser Winterraum-Mitbewohner uns glaubwürdig vermittelt hat, dass die Tajakante ziemlich zach ist, suchen wir nach einem Plan B. Schade, dass ich zu diesem Zeitpunkt den Südgrat auf den hinteren Tajakopf noch nicht auf dem Schirm hatte – das wäre die perfekte Tour für diesen Tag gewesen.
Das Wetter am Folgetag soll so lala werden und unsere Route, wenn man sie überhaupt so nennen darf, ist gewiss nicht von Meisterhand geplant. Um die Wankspitze zu erreichen müssen wir von der Coburger Hütte zunächst 400 Höhenmeter in die Grünsteinscharte aufsteigen. Hier kann – in einer eindrucksvollen, schmalen Felsschlucht – der Hauptkamm der Mieminger Kette relativ einfach überwunden werden. Hinter der Scharte würden wir wieder 400 Höhenmeter absteigen, nach links abbiegen und wieder 200 Höhenmeter zum Klettersteig aufsteigen. Von hier führen gute 200 Höhenmeter über den Klettersteig auf die Wankspitze, die wir prinzipiell nur nach Süden ins Inntal einfach verlassen können. Wir steigen hier also ab und dann wieder 700 Höhenmeter in die Grünsteinscharte auf, um zurück zur Coburger Hütte zu gelangen. Man braucht bestimmt keinen Taschenrechner, um die Umsetzbarkeit dieses Plans zu überschlagen. Wirklich pfiffig war das alles nicht. Aber der Weg ist ja das Ziel.
Nach einer rustikalen und kalten Nacht im Winterraum starten wir in die einsame Winterlandschaft hinaus. Wir sind erst nach Sonnenaufgang unterwegs – denn so richtig etwas sehen soll man von diesem heute eh nicht. Durch die weißen Weiten, die ohne Spur und in tiefhängende Wolken gehüllt viel ungangbarer wirken, wühlen wir uns hinauf. Wir halten uns oft auf abgeblasenen Kämmen und Grasrippen. Drumherum ist das Vorankommen zu zäh. An geeigneter Stelle zweigen wir nach rechts in das große Schotterfeld vor der Grünsteinscharte ab. Später stelle ich fest, dass wir mit erschreckender Präzision die Spur der Skitour “Grünsteinumrahmung” getroffen haben.
Das Gelände ist zwar nicht schwer oder kritisch aber wir stecken bis zur Hüfte im Pulverschnee. Mit wirklich letzter Kraft schleppen wir uns in die von eisigen Winden gebeutelte Grünsteinscharte. Wir machen ein hastiges Frühstück. Das war jetzt dann doch einiges zäher als gedacht. Wir waren bis hierher 2 Stunden unterwegs. Eigentlich das doppelte der geplanten Zeit.
Wir schauen hinab ins Inntal und das verschneite Tal, dass wir nun wieder absteigen und später aufsteigen wollen. Dazwischen läge ein anspruchsvoller, nur teilweise versicherter Klettersteig. Uns ist beiden klar, dass es hier heute nicht mehr wirklich weiter geht. Hannah spricht es aus. Bei unserer Winterbegehung der Wankspitze zwei Monate später müssen wir auch feststellen, dass wir an der Stelle unwissentlich den richtigen Riecher hatten.
Wir drehen also das zweite Mal an diesem Wochenende um. Durch die wirklich wunderschöne Winterlandschaft steigen wir wieder in Richtung Coburger Hütte ab. Wir waren ohne Bergziel und für “nur” 450 Höhenmeter über 3 Stunden unterwegs in denen wir um fast jeden Schritt gekämpft haben. Eine gute Übung, für das was kommt. An der Hütte angekommen sammeln wir unsere Sachen ein und begeben uns auf den altbekannten Weg zurück ins Tal. Wir haben an diesem Wochenende zwar keine ganz großen Bergabenteuer erlebt aber viele Weichen gestellt. Mit dem vorderen Drachenkopf ist uns eine eindrucksvolle Winterwanderung mit Kletterpassagen im etwas exponierteren Gelände gelungen, an der Sonnenspitze und Grünsteinscharte haben wir nochmal gelernt, was es heißt sich im Winter im Gebirge zu bewegen. Wir haben gelacht und gefroren und ein paar nette Bekanntschaften im Winterraum gemacht. Und drumherum – wunderschöne, stille und dramatische Landschaften in einem unvergesslichen Wochenende am Berg.