Ein letzter Streich. Nach einer kletterlastigen Zeit auf Sardinien und Korsika neigen sich die verbleibenden Urlaubstage dem Ende. Wir haben am Fels der beiden paradiesischen Mittelmeerinseln fast alles gesehen – guten Kalk, schlechten Kalk, guten Granit, schlechten Granit, gute Absicherung, schlechte Absicherung, passende Schwierigkeiten, unpassende Schwierigkeiten. Was wir in all der Zeit nicht wirklich gemacht haben ist Bergsteigen. Obwohl es gerade auf Korsika, dem “Gebirge im Meer” extrem viele und abwechslungsreiche Möglichkeiten dafür gäbe. Es wäre eine Schande, diesen Bereich komplett auszusparen.
Ursprünglich hatten wir uns mal irgendwie in den Kopf gesetzt den höchsten Berg Korsikas, den Monte Cinto, mitzunehmen. Er ragt mit stolzen 2706 Metern über dem nur wenige Kilometer entfernten Meeresspiegel auf und reicht damit in einer gänzlich anderen Umgebung erschreckend nah an unsere heimische Zugspitze ran. In Berichten wird er der “König der korsischen Berge” genannt und wir so früh im Jahr bestimmt noch in Schnee gehüllt sein. Die ohnehin nicht gänzlich einfache Wanderung auf seinen Gipfel mit Stellen im I. Grad kann unter diesen Bedingungen bestimmt schon den etwas routinierteren (und für’s Mittelmeer eher untypisch gerüsteten) Bergsteiger fordern. Einen solchen, der sich auch mit Steigeisen, Pickel, Firn im steileren Gelände und freier und umsichtiger Wegwahl in je nach Schneemasse potentiellem Lawinengelände anfreunden kann. Der Plan stand. Wäre da nicht das Foto der gegenüberliegenden, noch markanteren Berggestalt.
Die Paglia Orba ist mit ihren 2525 Metern ein Stück kleiner geraten, gleicht dies aber durch ihre isolierte Lage und damit je nach Blickwinkel äußerst markante und abweisende Silhouette aus. Sie ist, wie es für Königinnen üblich zu sein scheint, auf ihrem Normalweg schwieriger zu besteigen, als der König. Ihr Name heißt übersetzt “Weißer Korb” und bezieht sich auf das im Winter und lange in den Sommer schneebedeckte Gipfelplateau. Für uns ist die Paglia Orba beinahe Liebe auf den ersten Blick. Ein etwas mystisches Ziel. Je nach Schneelage definitiv kein Selbstläufer. Wirklich gute Dokumentation der Tour ist rar, die Chance einen gespurten Anstieg vorzufinden rechnen wir uns als ziemlich gering aus und werden damit auch recht behalten.
Ich führe die Tour hier als Winterbesteigung. Darüber kann man sich Mitte April gewiss streiten. Für mich zählt aber, was den Weg für uns ausgemacht hat – und das werden absolut winterliche Verhältnisse sein, die einer wirklichen Winterbegehung im Wetterstein oder Karwendel um nichts nachstehen. Wir haben sogar noch richtiges Eis gefunden. Ab Beginn der Schwierigkeiten befinden wir uns durchgehend in Gelände, das stark an eine Hochtour der Größenordnung ZS erinnert: steiler Firn, eisige Gullys, Wechten, Fels und Mixed-Passagen.
Zustieg
Wir starten am “Le Fer á Cheval” – einer Haarnadelkurve mit einem kleinen Parkplatz in ihrer Mitte. Die Rucksäcke werden zum ersten Mal seit Beginn des Urlaubs gänzlich anders bestückt. Etwa mit Pickel, Biwaksack und Steigeisen. Ein hartes Kontrastprogramm zum Strandurlaub, der nur einen Steinwurf entfernt läge. Auf ein Seil verzichten wir heute und gehen damit ein gewisses Wagnis ein.
Nicht, weil wir uns ohne Seil am Normalweg zur Paglia Orba großartig in Gefahr begeben würden. Aber wir versteifen uns damit ziemlich auf einen Plan ohne die Verhältnisse dort oben zu kennen. Hätten wir ein Seil und rudimentäre Kletterausrüstung im Sack, stünden uns oben weitere Möglichkeiten offen, falls sich die Paglia Orba aus Gründen nicht ausgehen sollte. Auch die Option eines Biwaks und zwei Tagen im wunderschönen Hochgebirge verwerfen wir, um später festzustellen, dass wir das perfekt hätten eintüten können. Erschlagend viele Möglichkeiten, erschlagend viele Variablen. So ist wenigstens der Rucksack “leicht”. Der knochenharte Marsch zur Symphonie d’automne liegt noch nicht so lange in der Vergangenheit. Genau genommen war das Vorgestern.
Wir stapfen los und einem langen, erfüllenden Bergtag entgegen. Es hat in den aktuell immer wieder eintretenden Wetterwechseln bis kurz über unseren Ausgangspunkt hinab geschneit. Nur wenige Minuten nach unserem Start, treffen wir im Wald schon auf die ersten, kleinen Schneeflecken. Die hohen Berge sind magisch eingezuckert – wobei schwer abzuschätzen ist, wie viel davon in wenigen Stunden geschmolzen sein wird und was tatsächlich vorhandener Altschnee ist.
Uns kommen zwei Wanderer mit dicken Rucksäcken entgegen und wollen prompt Wissen, wo wir hinwollen. Der Name “Paglia Orba” scheint ihnen nichts zu sagen, aber sie wirken sehr sehr beruhigt. Sie kommen vom GR20 und warnen uns vor den gefährlichen Schneeverhältnissen. Wir bedanken uns höflich für den Hinweis, wünschen den beiden einen guten Weiterweg und stapfen weiter. Mit Pickel am Rucksack. Wohlwissend, dass wir etwas Ernsteres im Schilde führen.
Relativ rasch erreichen wir die Bergerie de Radule, eine kleine Schutzhütte auf 1387 Metern am Rande des GR20. Dann folgen wir diesem in das karge Hochtal.
Für mich geht es heute recht schleppend voran. Ich habe das Gefühl, dass ich von der letzten Tour noch nicht wirklich regeneriert bin und bereits jetzt im Notstrom laufe. Keine gute Aussicht. Nur die ringsum gute Aussicht wiegt das ein wenig auf. Je weiter wir in das unwirklich bunte Tal laufen, desto mehr Blicke erhaschen wir auch auf die frisch gepuderten und unwirklich fahlen Nordflanken an den umliegenden Gipfeln. Darunter sprudeln kleine Wasserläufe in das Tal und sammeln sich in einem zentralen Fluss. Die Kräuter, Moose und roten Felsen mit giftgrünen Flechten tauchen die Landschaft in eindrückliche Kontraste und wenig später erhaschen wir auch den ersten Blick auf unseren Berg. Von seiner unscheinbarsten Seite.
Vom “Matterhorn Korsikas” ist aus Süden kommend wenig zu sehen. Man sieht lediglich einen unförmigen, dunklen Rücken aufragen und aus dieser Perspektive scheint der Vorgipfel den fast nicht auszumachenden Hauptgipfel zu überragen. Motivieren tut mich der Anblick wenig. Irgendwie auch noch ziemlich weit weg. In dem langen Tal neige ich fast zu einem deplatzierten Anfall meines Stubai-Ötztal-Syndroms, welches mich immer ereilt, wenn es durch lange Täler auf langweilig aussehende Berge gehen soll. Eigentlich werden Berge beim Näherkommen ja größer. Hier ist es umgekehrt.
Ehrlich mühsam und kaum energetisch schleppe ich mich den letzten, steileren Anstieg zum Refuge de Ciottulu di i Mori hinauf, welches auf 1991 Metern im Sommer ein populärer Stützpunkt für GR20-Aspiranten ist. Mir tut’s beinahe Leid um Hannah, die mit mir heute einen ziemlichen Jammerlappen an der Backe hat, obwohl sie selbst in viel schnellerer und besserer Verfassung ist.
So. Ab jetzt aber nur noch positiv. Genau so ergeht es mir dann nämlich auch. Wir werfen ein paar Blicke in die verschiedenen Räume der Hütte, die teilweise offen sind. Das wäre sie gewesen, unsere Biwakmöglichkeit. Dann werfen wir einen Blick in Richtung der Scharte zwischen Capo Tafonatu auf der linken und Paglia Orba auf der rechten Seite. Von ihr trennen uns jetzt nur noch 600 Meter und 160 Höhenmeter. Das ist lösbar. Und dann wird sich zeigen, ob der Rest auch lösbar ist.
Die beiden Berge, die uns nun umringen sind sehr ungleich aber faszinierend. Während der Capo Tafonatu linkerhand schon etwas mehr Sonne abbekommen hat, zeigen sich seine Wände farbenfroh, steil und facettenreich. Paglia Orba, zu unserer rechten, ist noch in eine dünne Neuschneeauflage gehüllt und schwerer zu lesen. Zwischen der feinen und temporären Neuschneeauflage erkennt man im etwas weniger vertikalen Gipfelaufbau aber auch noch üppigen Altschnee, der unseren Weiterweg bestimmen wird. Aber nochmal kurz zum Capo Tafonatu.
Der Berg ist mit 2343 Metern bestimmt kein Gigant. Unter seinem Gipfel befindet sich aber ein rund 30 Meter messendes Loch im Berg, welches ihn zu einer markanten und sagenumwobenen Berggestalt macht. Bei bestimmten meteorologischen Konstellationen ziehen Wolken durch das Loch und es entsteht von der anderen Seite der Eindruck, der Berg würde rauchen. Zum Loch, welches ein beliebtes Fotomotiv ist und auf den Gipfel des Capo Tafonatu führen jeweils interessante, alpine Führen. So haben wir einen Grund wiederzukommen. Zurück zur Paglia Orba.
Auffällig ist der Fels an der Paglia Orba, welcher sich auch in der Kletterei als ein wenig ungewohnt herausstellen wird. Anders als der (gefühlte) Rest der Insel besteht die Paglia Orba nicht überwiegend aus plattigem Granit. Hier überwiegt ein an manchen Stellen begeisternd weinroter Konglomerat. Der Berg folgt damit auch ein bisschen weniger den klaren, harten Kanten vieler Granitgipfel und baut sich etwas diffuser mit Rinnen, Löchern, Kaminen und Bändern vor uns auf. Geht man mit dem Fels auf Tuchfühlung, wo man Sommer wie Winter nicht herumkommen wird, stellt man fest, dass das Gestein an den entscheidenden Stellen sehr fest ist. Dafür fallen Griffe und Tritte aber tendenziell kleiner aus. Für uns heute mit Steigeisen sogar eine relativ dankbare Konstellation. Mit einem einzelnen Frontzacken kann man ideal in die kleinen Dellen und Leisten steigen.
Einstiegskamin (II)
Wir erreichen den Col des Maures, die Scharte mit einem weiteren, markanten Felsfenster zwischen Paglia Orba und Capo Tafonatu. Knapp 400 Höhenmeter trennen uns vom Gipfel und diese werden ein gutes Stückchen spannender werden. Denn bisher war es – abseits der üblichen, konditionellen Wehwehchen – ein sehr entspannter Hatscher auf gemütlichen Pfaden.
Aufgrund der geringen Schneeauflage verzichten wir im ersten Moment noch auf die Steigeisen und Pickel und schwingen uns unter dem Felsfenster in einen rechts aufsteigenden, ziemlich offensichtlichen Kamin. Hier sind wir noch ziemlich d’accord mit dem üblichen und mit zahlreichen Steinmännern markierten Sommerweg. Es sei aber direkt erwähnt, dass wir im unverspurten Gelände einfach unsere intuitive Linie des geringsten Widerstandes suchen werden. Die Steinmänner sind hier oben teils so zahlreich, dass man praktisch überall gehen könnte. Es wird sogar gewarnt, dass nur drei oder mehr Steinmänner als valider Wegweiser anzusehen sind. Kurzum – als Idealweg für den Sommer taugt unsere Beschreibung bestimmt nicht – auch wenn ich viele Stellen in Berichten des Sommerweges wiederkenne und wir uns auch über jeden Steinmann am Wegesrand gefreut haben.
Der Einstiegskamin lässt sich gut klettern, die tückisch dünne Neuschneeauflage erschwert die teils plattigeren Tritte aber ein wenig und die Stelle fällt als ziemlich brüchig ein wenig aus dem Raster. Im Abstieg wird der Schnee hier unten verschwunden sein und eine recht gutmütige Rinne mit kurzen Unterbrechungen im II. Grad offenbaren.
Schrofen und Firnrampe (40°)
Wir erreichen einen breiten Schrofenrücken mit hübschen Blöcken und Türmchen und halten uns auf der leichtesten Linie und ohne nennenswerte Schwierigkeiten hinauf. Meine Lebensgeister erwachen wieder – während die Landschaft um uns herum zunehmend einfriert taue ich in dem interessanten Gelände auf.
Bevor wir auf die angebrachte Idee kommen, Steigeisen zu zücken muss ich noch mit Pickel ein hartgefrorenes, steiles Firnfeld hochflitzen. Der Auslauf nach links in 30 Meter tiefer liegende, vertikale Abbrüche lässt keinen wirklichen Spielraum und ich fühle mich mit geschlagenen Tritten im Altschnee einfach überproportional wohl. Das ist aber eine generelle Sache. Wo ich teilweise in für Hannah völlig trivialen Felspassagen im I. oder II. Grad blockiere und mich extrem unsicher fühle sind es für sie Altschneefelder, die mindestens zu Skepsis anregen.
Am Ende der Passage, auf einem schönen Absatz, wechseln wir auf die Steigeisen und damit in einen Flow, den wir bis zum Gipfel nicht mehr ablegen werden. Bereits jetzt verströmt die Tour eine ziemliche Gewalt und Größe. Wir sind völlig allein in dem Tal – vielleicht sogar in dem ganzen Gebirgszug. Und bereits jetzt zeichnen sich ein relativ anhaltender Anspruch, eine gewisse Komplexität in der Wegfindung und sehr wechselhafte Schneebedingungen am Horizont ab. Oh…und über uns türmt sich ein wildes Bollwerk an senkrechten Konglomerat-Mauern auf, aus denen sich wirklich noch kein leichter Weiterweg ableiten lässt.
Eisrinne und Klemmblock (ca. 60° und III)
Wir erreichen die erste von zwei Schlüsselstellen, denen wir heute begegnen werden. Sie erscheint uns aber als der einfachste und logische Weg durch einen etwas sperrenden Felsriegel, der hier den Berg durchzieht. Links von uns gäbe es auch ein steiles Firnfeld, welches aber erneut über die nordseitigen Abbrüche führen würde und reichlich steil aussieht. Da ziehen wir die einlullende Dreidimensionalität einer engen Rinne vor.
An einer gefrorenen Schneerippe im Rinnengrund geht es steil aber beherrschbar unter einen großen Klemmblock. Auf kurzer Strecke erinnert die Schneebeschaffenheit fast an leichte Eiskletterei. Am Ende der Rippe lässt sich eine gute Plattform treten von der ich in die dankbar kurze Kletterei über einen sperrenden Klemmblock einsteige. Dank guter Griffe über dem Block und guter Hooks für die Steigeisen geht sich das mit etwas spreizen aber ziemlich entspannt und ohne großartigen Kraftaufwand aus. Quatsch darf man hier trotzdem nicht machen – die Stelle wird sich schon irgendwo im III. Grad befinden und profitiert von der hohen Schneerippe in ihrem Grund. Mit bei geringerer Schneeauflage mehr Abstand zum Ausstieg über den Klemmblock ist man hier bestimmt nicht mehr auf dem leichtesten Weg.
Hannah meistert die Stelle ebenso souverän. Das Drytooling der letzten Monate macht sich bezahlt – auch wenn wir mit je einem Petzl Gully für mehr und anhaltenderes Gelände in diesem Stil schon fast wieder underdressed sind. Aber für die heutige Tour reicht es allemal.
Wir folgen dem weiteren Verlauf der vagen Rinne um einige Kurven auf einen flacheren Absatz unter einen markanten Turm. Gehgelände, steiler Schnee und ein paar kleine Blockpassagen.
Es ist nur relativ offensichtlich, dass es in dieser Richtung bald nicht mehr weiter geht. Einige Meter höher sperren gewaltige, dunkle Türme den breiten Westgrat sehr effektiv ab. Ein großer Steinmann am Eck und ein wenig Blick für gangbares Gelände führt nun nach rechts in Richtung Süden.
Querung (I-II)
Wir gehen eine leicht ansteigende Querung an. Ich hatte befürchtet, dass es hier sehr luftig zur Sache gehen könnte – die direkte Ausgesetztheit hält sich durch das gestufte Gelände und das doch relativ breite Band aber in Grenzen. Über eine Querung im steilen Firn erreichen wir ein kleines Eck, um welches ein wenig abdrängend und kleingriffig umklettert werden will.
Nach knapp 100 Metern macht nach links eine breite, ansteigende und mit knallroten Blöcken gefüllte Rinne auf, die aus der bisherigen Kletterei her nicht einzusehen war.
Lange Rinne (I und 30°)
Besagte, südwestlich ausgerichtete Rinne dominiert nun für eine ganze Weile das Geschehen und wirkt einigermaßen entspannend auf Körper und Geist. Am Horizont – in greifbarer Nähe – taucht das Meer und die Strände der Westküste auf. Die Absurdität dieses Anblicks ist schwer in Worte zu fassen. Zumindest wenn man noch nicht in Norwegen auf Skitour war und Winterbergsteigen und Meerblick für einen bisher räumlich und zeitlich unvereinbare Welten waren.
Im unteren Teil der Rinne überwiegt einfaches, recht festes Blockwerk im 1. Grad. Im oberen Teil hält sich dann ein weiteres Firnschild, welches dank zunehmender Sonneneinstrahlung schon ein bisschen weicher ist und sich sehr angenehm stapfen lässt. Einzig Steinmänner – unten in Heerscharen anzutreffen – werden hier ein wenig rarer und als die Rinne sich an einem Turm nach rechts in ein steileres Gully verabschiedet sind wir kurz unsicher, ob wir noch auf dem besten Weg sind.
Der Instinkt treibt uns dann trotzdem nach rechts in die etwas steilere Firnrinne. Hier ist der Auslauf in die Abbrüche der Nordseite auch wieder weniger ideal und der Ernst nimmt wieder ein wenig zu.
Gully nach rechts (40-50°)
Ich muss mal aufhören, jede steilere Anhäufung von Schnee direkt mit dem Westgully der Tiefkarspitze zu vergleichen. Aber mit meinem beschränkten Horizont ist das aktuell das Firngully des bayrischen Alpenraums. Und genau an diese Tour erinnert der Streifen an Schnee, der hier zwischen den Türmchen und Mauern in die Höhe führt.
Nach einigen Höhenmetern kommt das Gully auf knapp 2310 Metern zu einem relativ plötzlichen Ende. Es erfordert wenig Spürsinn um zu erkennen, dass die einzige rationale Möglichkeit des Weiterkommens auf der rechten Seite des Gullys über eine ansteigende Rampe gegeben ist.
Rampe und Wändchen am Ende des Gullys (II+)
Vom Gesamtanspruch finden wir hier wahrscheinlich die zweite Schlüsselpassage unseres Anstieges vor. Zunächst staunen wir aber nicht schlecht. Da hat sich in der rechten Begrenzung des Gullys doch tatsächlich kaskadenförmiges Eis gehalten. Klar – kein richtiger und kletterbarer Eisfall. Aber ein kurzer Eindruck von dem, was in unseren Breiten im vergangenen Winter eher Mangelware war. Weiterhin mit Meerblick. Absurd.
Direkt unter den hübschen Eisformationen erklettern wir eine kurze, sehr steile Firnstelle (ca. 60°) und erreichen eine schwach ausgeprägte Randkluft und den Einstieg auf die schmale Rampe. Erneut ist die Kletterei kaum ausgesetzt. Die Fallhöhe nach links ins Gully beträgt vielleicht 5 Meter. Eine Option ist das natürlich nicht – aber es sorgt für einen relativ freien Kopf für die kleine Crux am Ende der Rampe.
Hier gilt es den Übergang in die rechte Wand zu meistern. Mit reichlich Schneeauflage gar nicht so einfach – so richtig viele Kanten, Griffe und Strukturen wirft der Fels hier auf den ersten Blick nicht ab. Hannah und ich entscheiden uns für unterschiedliche Varianten. Sie verlässt die Rampe schon früher nach rechts und steigt den relativ plattigen Fels souverän auf. Ich folge der Rampe bis an ihr absolutes Ende, weil ich hier mehr Struktur erwarte und finde zu meiner Überraschung ein paar Quadratzentimeter Turf (= gefrorene Graspolster) vor. Gut genug, um den Pickel richtig gut und belastbar zu versenken. Gut genug, um die Stelle zu lösen. Wahrscheinlich war meine Wegwahl aber wie so oft ein wenig komplizierter als Hannah’s kurzer Prozess ein paar Meter tiefer. Und ein wenig luftiger war mein Eck auch.
In Summe aber eine nicht ganz triviale Ecke, die sich bei mir auch als kleines Fragezeichen für den Abstieg einbrennt.
Gully (40° und I)
Die kurze Felspassage spuckt uns wieder in einem sehr gangbaren, einfachen Gully aus, welchem wir stur folgen. Wir beschreiben eine leichte Linkskurve, überklettern erneut ein paar Blöcke und das gewohnte, kombinierte Gelände im I. Grad und erreichen dann eine Schulter wenige Meter unterhalb des Vorgipfels.
Hier – wieder nach Norden und in die “bösen” Abbrüche führend wartet das wahrscheinlich anhaltend steilste Firnstück mit ungünstigem Auslauf. Hannah hält sich geradewegs zum Grat hinauf und erreicht den Vorgipfel vor mir. Ich quere im steilen Schnee in blockiges Gelände auf der gegenüberliegenden Seite des Firnfeldes und kann dort auch entspannt zum Vorgipfel aufsteigen. Werden zwar auch nur so 40 – 45° sein – auf einigen Metern ist aber absolute Sicherheit gefordert.
Vorgipfel
Zum ersten Mal, sehen wir etwas anderes als den Blick nach Westen zum Capo Tafonatu. Im Süden die surreal gezuckerten Berge des Restonica-Tals. Fast in jeden Richtung ist das Meer zu sehen. Auch im Norden erkennen wir nun weitere Berge die wir um einiges überragen und dahinter Buchten, Städte, Klippen und Boote. Im Osten liegt der Gipfel der Paglia Orba – das Gipfelkreuz scheint aber noch extrem klein und weit entfernt zu sein. Hier handelt es sich aber um einen kleinen, optischen Streich dankbarer Natur: das hölzerne Gipfelkreuz misst nur knapp einen Meter und ist damit äußerst klein. Die schwierigsten Abschnitte liegen nun auf jeden Fall hinter einem unter der Weiterweg ist nicht mehr allzu lang oder kompliziert.
In einigen berichten wird hinter dem Vorgipfel nochmal eine extrem exponierte Querung beschrieben, vor der uns gar Angst und Bange war. Bisher, sind wir in den zahlreichen Rinnen und Rampen eigentlich ziemlich entspannt durchgekommen. So viel Mühe wir uns auch geben – wir finden diesen Quergang nicht und haben auch keine wirkliche Theorie, wo er sich verstecken könnte.
Absteigende Rinne nach Süden (II)
Da der Übergang direkt am Grat ein wenig zu scharf erscheint, steigen wir vom Vorgipfel nach rechts in südlicher Richtung 30 Höhenmeter in einer gestuften Rinne ab. Verkraftbarer Aufwand – denn damit erkaufen wir uns den Zugang zu den flachen, südseitigen Schneefeldern, in denen wir das scharfe Gratstück einfach und sicher umgehen können.
Hier gibt es viele Möglichkeiten wieder zurück auf den Grat zu gelangen. Wir wählen im Aufstieg eine Spur durch kompakten Fels – im Abstieg flitzen wir aber einfach im Schnee hinab zu unseren Spuren. Hat man den Grat nach der Querung wieder erreicht, stellt man fest, das er kein solcher mehr ist.
Gipfelplateau
Auf dem flachen und ebenen Gipfelplateau geht es dem kleinen Gipfelaufbau entgegen. Der Rundblick ist gigantisch – die isolierte und prominente Lage der Paglia Orba macht sich hier bereits bemerkbar und wird am Gipfel ihren Höhepunkt erreichen. Wir fühlen uns wirklich wie auf Hochtour. Das Meer und das Tal scheinen unfassbar weit entfernt, der Abstieg dorthin kompliziert und anspruchsvoll. Die wenigen Wolken ziehen auf unserer Höhe durch und die Grenze von Meer und Himmel am Horizont ist so fließend, dass man aus dem Augenwinkel immer wieder über die bizarre Optik stolpert.
Wenig später erreichen wir das minimalistische Gipfelkreuz der Paglia Orba. Gegenüber baut sich der Monte Cinto auf. Bestimmt auch schön. Bestimmt auch wild. Aber wir sind uns heute ziemlich sicher zu richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Nach einer nicht zu ausladenden Gipfelrast treten wir den Rückweg an. Wir haben etwas Respekt vor der inzwischen kräftigen Mittagssonne und ihrer Wirkung auf den Schnee. Alles, was wir aufgestiegen sind müssen wir genau so auch wieder absteigen und abklettern. Wir sind der Meinung im Aufstieg bereits die sicherste und leichteste Wegführung gefunden zu haben und damit steht auch schon fest, was im Abstieg im Detail auf uns zukommt.
Abstieg
Die Magie der vorhandenen Spuren nimmt viele Wegfindungsfragen des Aufstiegs aus der Gleichung. Nach nur 45 Minuten stehen wir wieder am Col des Maures und damit im sicheren und einfachen Gelände – eine Zeit, die man für den Aufstieg auf die Paglia Orba Winter wie Sommer definitiv nicht ansetzen sollte.
Stressig ist nur, dass der inzwischen nasse Schnee mächtig stollt. Vor allem unter meinen schon etwas ramponierten und verbogenen Steigeisen sammelt sich alle paar Meter ein Haufen Schnee und raubt jeden Halt. Zum Glück überwiegen im Abstieg die felsigen Passagen, in denen sich der Schnee rasch wieder abschütteln lässt. Die Gullys sind natürlich weiterhin mit Altschnee gefüllt – aber die interessanteren Stellen im Fels haben inzwischen viel von ihrer Schneeauflage verloren und präsentieren sich im Abstieg ein wenig übersichtlicher. Ohne nennenswerte Abweichung zu unserer Aufstiegsroute spulen wir das Programm rückwärts wieder ab und als der Klemmblock im Abstieg gelöst ist, fällt auch die Anspannung ab.
Wir erreichen das Refuge – in gänzlich veränderter Landschaft, rasten kurz, trauern nochmal um unsere Biwaknacht und die verpasste Möglichkeit am Capo Tafonatu zu klettern und gehen dann den langen Hatscher ins Tal an.
Die kurzen Tage machen sich bemerkbar. Im unteren Teil des Tals angekommen ziehen die umliegenden Giganten aus Granit schon lange Schatten und die sonnenseitigen Wände präsentieren sich bereits im warmen Licht eines fortgeschrittenen Nachmittags. Ich heule mich wieder ein wenig über den Komfort meiner Kat. D Stiefel aus aber das ist meckern auf höchstem Niveau. Wir hatten einen unvergesslichen Bergtag an dem wir ein letztes Mal vor Sommerbeginn unser Repertoire an Fertigkeiten im Winterwandern zücken und ausspielen durften. Ein in der Form nicht reproduzierbares Abenteuer auf einem einsamen und abenteuerlichen Berg. Und ein würdiger Abschluss einer ganz schön intensiven Reise über die beiden Mittelmeerinseln.
Als wir aus dem Tal hinaus und zurück in unser geliebtes Corte fahren, fehlt die Wolkendecke, die bei der Anfahrt die Paglia Orba verdeckt hatte. Was für ein Berg. Nicht wirklich greifbar, dass wir dort gerade raufgewandert sind. Zum Glück von der anderen Seite.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Die Tour wird meines Wissens nach auch als Skitour mit spannendem Finale gemacht, was ich mir gut vorstellen kann. Wir waren wahrscheinlich genau auf der delikaten Grenze unterwegs, wo die Skitourensaison lange vorüber ist und dem gemeinen Wanderer noch viel zu viel Schnee liegt. Egal wie man es dreht und wendet. Die Paglia Orba ist im Sommer ein machbares aber anspruchsvolles Bergziel, über dessen Schwierigkeit im Netz durchaus debattiert wird. Am Ende des Tages reiht sie sich für meinen Geschmack relativ nahtlos in die Kategorie von Bergen ein, die zwar außerhalb der Komfortzone von vielen Wanderern aber stets innerhalb der Komfortzone routinierter Bergsteiger liegen. So wie es eine Ehrwalder Sonnenspitze, ein Wörner oder ein Waxenstein auch tun. Entsprechend spannend fällt eine Winterbesteigung aus, die bei o.g. Bergen kaum üblich sind und stark von den vorherrschenden Bedingungen abhängen. Unsere Eindrücke und Entscheidungen im Gelände können also auch nur als vage Momentaufnahme betrachtet werden.
Die Schwierigkeiten sind moderat aber anhaltend – Erfahrung und Routine in steilem Firn und leichter Mixed-Kletterei vorausgesetzt. Mit Steigeisen sollte im oberen II. Grad sicher geklettert werden können, um hier wirklich Spaß zu haben. Was mich aber überrascht hat, ist dass das nicht immer einfache Gelände vielerorts recht sorglos und kaum exponiert angehen lässt, was die Begehung definitiv erleichtert. Je nach Wegwahl dürften die Schwierigkeiten auf ganz kurzen Passagen den III. sonst den I. – II. Grad nicht überschreiten. Der Firn ist im Mittel selten steiler als 30 – 40°, es gibt aber ein paar markante Ausreißer nach oben. Ab dem Vorgipfel lassen die Schwierigkeiten spürbar nach.
Wir haben vor Ort kein fixes Material gefunden. Schlüsselpassagen lassen sich bestimmt mobil absichern – was den Anstieg aber sehr lang, zäh und unübersichtlich machen dürfte. Die exakte Schneequalität sollte mit Vorsicht beurteilt werden. Es gibt kein Lawinenbulletin, dennoch sind viele der Hänge, Querungen und Rinnen in ihrer Steilheit einwandfreies Lawinengelände mit oft darunter liegenden, senkrechten Abbruchkanten. Durch die exponierte Lage der Paglia Orba spielt Wind definitiv eine Rolle – Spuren dessen konnten wir auch im stellenweise aufgewehten Altschnee auch beobachten. Wir hatten LVS, Steigeisen, einen Pickel pro Kopf dabei. Je nach Wegwahl wäre ein zweites Eisgerät sogar auch ganz lustig gewesen – vermissen würde man es in vergleichbaren Verhältnissen und im harten Altschnee bestimmt nicht.
Zusammenfassung
Das perfekte Finale einer wilden Zeit im Mittelmeer – in einem absolut untypischen Stil.