Ich weiß gar nicht mehr genau wann ich auf das Tiefkarspitze Westgully gestoßen bin. Auf jeden Fall zu früh. Also viel viel zu früh. Bevor ich das erste Mal auf Steigeisen stand. Bevor ich das erste Mal einen Pickel geschwungen habe. Bevor es ein relativ detailreiches Video von der Tour gab.
Aber irgendwie war ich halt in einem nächtlichen Hikr-Exzess vom Wörner (ein Berg der für mich in meinem ersten zaghaften “Bergjahr” 2020 die absolute Grenze meiner Träume darstellte) dann doch über dessen Nachbargipfel gestolpert. Der pyramidenförmige und markante Berg fühlt sich ein wenig wie ein blinder Fleck in der Skyline über Mittenwald an. Denn während es auf den Wörner linkerhand einen nicht ganz einfachen aber bestens markierten Normalweg gibt und die Karwendelgrube rechts mit Brauerei, Gondelstation und Klettersteigen mehr als üppig besucht ist, dürfte an der Tiefkarspitze die meisten Tage im Jahr gähnende Leere herrschen. Als ich feststelle, dass der Berg mit T6 und Kletterschwierigkeiten bis in den III. Grad auf dem leichtesten Weg nichts für mich ist, habe ich damals das Handy weggelegt und geschlafen.
Bloß leider nicht, ohne einen vagen Bericht über den vermeintlich einfachen Winterweg aufzuschnappen. Die vergängliche Schwachstelle in einem sonst eher rauen Kraxelgipfel. Eine Rinne, die bei passenden Bedingungen einen schneeweißen Pfad direkt unter den Gipfel aufspannt. Ich war mehr als fasziniert. 400 Meter Firn durch die raue, bröselige und zerklüftete Westwand der Tiefkarspitze.
Es passieren Dinge, die teilweise auch über meine Berichte hier nachvollziehbar sind. Den großen Traum vom Wörner erfülle ich mir im September 2021 und stoße damit die gefühlte Tür zu etwas kniffligeren Bergtouren auf. In Klettersteigen ringe ich mir die recht regelmäßigen Panikattacken ab, die meiner Faszination für die wilde Natur da draußen im Weg stehen. Ein Jahr später ziehe ich fast nur noch mit Seil los und suche die faszinierenden Felsformationen in der Vertikale. Und zwei Jahre später stapfe ich mit Skiern am Rucksack in Mittenwald in den Wald.
Wir meinen ja. Ich hab relativ akribisch auf einen solchen Tag gewartet. Es ist Ende Dezember 2023 nicht allzu warm aber mit vielen sonnigen Tagen hat sich eine fast schon frühlingshafte und extrem harte Altschneedecke geformt. Allerdings liegt vom massiven Schneefall dieser Saison auch noch eine ganz schön viel Schnee. Das aber auch nur ab einer bestimmten Höhe. Darunter hat der Regen das allermeiste weggefressen. Hier sei gesagt, dass man das Westgully theoretisch auch mit Skiern abfahren kann. Das wollen und können wir aktuell nicht. Und das setzt andere Bedingungen voraus, bei denen man sich vermutlich einem höheren Lawinenrisiko aussetzen muss. Ich habe mir diese Tour immer als winterliche Bergtour ausgemalt. Also mit festem, harten Trittfirn.
Wir haben zwei Tage zuvor auf einer westlich ausgerichteten Skitour genau solchen Schnee erlebt und rechnen uns gute Chancen aus, das Gully ähnlich stabil vorzufinden. Das absolut vorherrschende Gleitschneeproblem aus den letzten Wochen des Jahres 2023 bewerten wir in der Rinne mit Felsunterlage, einer gewissen Höhe und viel Schatten als weniger relevant. Auch ringsum konnten wir in den letzten Tagen kaum Anzeichen von Gleitschnee beobachten – dafür muss man schon rüber in die Ammergauer oder Lechtaler Alpen. Da geht’s ab.
Ich wage hier mal das Lawinenbulletin vom Tag unserer Tour zu zitieren:
“Es besteht eine “mäßige” Gefahr (Stufe 2) von Gleitschneelawinen, vor allem an steilen Ost-, Süd- und Westhängen unterhalb von rund 2600m. (…) Ältere Triebschneeansammlungen können an extrem steilen Schattenhängen im Hochgebirge vereinzelt und meist nur mit großer Zusatzbelastung ausgelöst werden. Diese Stellen sind sehr selten und für Geübte gut zu erkennen. Auf der harten Schneeoberfläche besteht im Steilgelände Absturzgefahr.”
Der letzte Satz ist der Schlüssel. Genau das will ich. Also nicht abstürzen. Aber den ganzen Rest. Die harte Schneeoberfläche.
Zustieg zur Dammkarhütte
Wir starten ungemütlich früh am Parkplatz hinter der Karwendel-Kaserne und latschen mit recht belastenden Rucksäcken in den hier völlig schneefreien Wald. Klingt doof – dürfte aber notwendig sein, da sich das Gully sobald die Sonne den oberen Teil erreicht in ein ordentliches Kanonenrohr verwandeln soll. Einleuchtend. Brüchiger Berg, schneegefüllte Rinne ohne Schutz und Frost, der die Felsen bei Nacht hält und beim Auftauen wieder freilässt. Ich habe Respekt.
Man liefert sich den Launen des Berges mehr aus als gewohnt. Natürlich ist das an und für sich keine komplett neue Situation für uns. Hier fühlt sie sich aber sehr real an und wir stellen uns auf eine sehr innige Umarmung mit der Tiefkarspitze ein. Und versuchen trotz des schweren Gepäcks ein brauchbares Tempo an den Tag zu legen und im Zeitplan zu bleiben. Was war der nochmal? Zum Sonnenaufgang am Einstieg oder so.
Zum Sonnenaufgang erreichen wir die Dammkarhütte. Den Sinn unserer Tourenski bezweifeln wir schon seit 400 Höhenmetern – die Schneedecke ist dermaßen hartgefroren, dass ich mit der Jahreszeit überhaupt nicht angemessenen Zustiegsschuhen keine nennenswerte Angst um meine Socken haben muss. Auf der ganzen Strecke breche ich vielleicht 2-3 Mal ein kleines Stück ein, ansonsten ist die Schneedecke komplett tragend. Wir sind auf dem schwach gespurten Sommerweg viel schneller als mit Tourenski. Wie lohnend die Abfahrt wird ist eine Frage für spätere Stunden – zunächst beschließen wir aber die Skier hinter der Hütte zu packen und zu Fuß und mit leichterem Gepäck weiterzugehen. Ich wechsel zudem auf meine recht wendigen Tourenskischuhe, da ich sonst nur leichte Zustiegsschlappen dabei habe. Hannah ist direkt mit steigeisenfesten Bergstiefeln unterwegs und hat ihre schweren Skistiefel mitgeschleppt.
Beide Strategien führen auf jeden Fall zum selben Ergebnis, das von der dünnen und knallharten Schneedecke getragen wird: ein Weiterweg mit Steigeisen.
Aufstieg zur Rinne (30-35°)
Das Stück bis zum Einstieg der Rinne habe ich unterschätzt. Von der Dammkarhütte aus gesehen scheint die Westwand der Tiefkarspitze direkt nebenan zu liegen und rasch erreicht zu sein. Dem ist nicht so – das steile Schneefeld hinauf zum Einstieg entpuppt sich als beinahe zähester Abschnitt, den man bei besserem Schnee mit Skiern bestimmt eleganter lösen kann. Hier zahlen wir den Preis für die perfekten Bedingungen, die wir in der Rinne vorfinden werden. Immerhin fast 300 Höhenmeter wollen hier in einem anhaltend steilen Hang überwunden werden, den wir sehr direkt angehen. Theoretisch kann man auch ein Stück am Boden des Dammkars bleiben und noch an der kleinen Bergwachthütte etwas höher im hinteren Dammkar vorbeischauen. Einen großen Vorteil kauft man sich damit aber nicht. Auch von dort ist der Hang steil. Auch von dort ist der Hang lang.
Den hartgepressten Schnee lange zurückliegender Lawinenabgänge nutzend halten wir auf den gut erkennbaren Einstieg zu. Zwei Wegpunkte sind dabei hilfreich – das eigentliche Gully ist im Aufstieg nämlich kaum auszumachen. Zum einen peilt man einen ovalen Felsriegel an, der etwas tiefer ins Dammkar reicht als die umliegenden Felswände. Zum anderen tut sich oben am Grat rasch eine schmale, kerzenartige Felssäule auf welche über lange Strecken wegweisend ist.
Einen anstrengenden aber stetigen Anstieg später erreichen wir den Übergang in die Felsen. Das Gelände steilt ordentlich auf und kleine bis faustgroße Felsen im Schnee zeugen davon, dass wir uns unter einer unübersichtlichen und brüchigen Wand befinden. Ich deponiere meine Stöcke und wir zücken die Eisgeräte. Jeder von uns trägt nun ein Nomic in der einen Hand, ein Gully in der anderen.
Einstieg ins Westgully
Wir finden die Rinne vage gespurt vor. Es ist definitiv nach dem letzten Schneefall schonmal jemand hier hoch gepickelt. An vielen Stellen wurden die Spuren aber schon wieder überweht oder sind nur noch als hauchzarte Dellen auszumachen. Eine grobe Richtung geben sie trotzdem vor. Das tut die Wand aber auch von selbst.
Wir steigen in die steile Flanke ein und folgen einer kurzen Kurve nach rechts zwischen die Felsen. Der Schnee ist perfekt. Die Eisgeräte heben super, die Tritte sitzen und wir sinken nirgends ein. Mir wird schnell klar, dass heute der Tag ist und das hier genau meine Welt ist. Obwohl ich nach dem Aufstieg und den vielen langen Touren der letzten Tage schon ziemlich fertig war und im steilen Hang über der Dammkarhütte einen kurzen Anflug von Lustlosigkeit hatte, kicken plötzlich Reserven. Und zwar die Art von Reserven die aus purer Begeisterung entspringen und einen an fantastische Orte zu tragen vermögen.
Der gleichmäßige, feste Schnee fühlt sich unglaublich sicher an und der stetige Ganzkörperkontakt mit dem Berg versetzt mich schnell in einen Flow, wie ich ihn zuletzt am Jubiläumsgrat erleben durfte. Es ist steil und anstrengend. Aber wunderschön.
Die Rinne biegt nach links ab und führt nun geradewegs auf die markante Felskerze zu. Hier stoßen von rechts über einen steileren Aufschwung auch nochmal ein paar subtile Spuren zu uns. Nimmt sich nicht viel. Aber hier kommt man vermutlich raus, wenn man weiter ins Dammkar aufsteigt und sich dann von Süden etwas weniger direkt dem Einstieg nähert.
Wir halten uns ziemlich nah rechts an der roten und spröden Wand und steigen konzentriert im hier vermutlich 50° steilen Schnee höher. Der Tiefblick wird rasch beeindruckender. Gegenüber zieht das Viererkar mit der Eleganz einer Gletscherzunge hinauf und die sanften Berge des Estergebirges sehen unvorstellbar weich aus neben den schroffen Nadeln die uns umgeben.
Breite Passage
Die Rinne macht ein wenig auf und flacht kaum wahrnehmbar ab. Wir schlagen uns einen hübschen Quergang in den formbaren Schnee, wechseln aus den Felsen weiter nach links in die Mitte der Rinne und steigen dort weiter auf die Felskerze zu.
Das Gefühl, dass ich dabei habe ist schwer zu beschreiben. Wir sind mittendrin. Ein Teil des Berges. Es fühlt sich auf eine Art ausgesetzt an. Aber anders als auf einem Grat oder in einer Wand. Nicht so konkret und erklärbar. Es ist nicht ein einfacher Tiefblick oder eine Kletterstelle die ausgesetzt ist. Mehr ist es unsere Position in einem großen Berg, im großen Ganzen. Wir sind hier einfach Teil einer bizarren Welt und können wenig machen als die erprobte und immer gleiche Bewegung abzuspulen, die uns sicher am steilen Firn hält.
À propos steiler Firn. Zwei Eisgeräte waren schon sehr angenehm. Man kommt bestimmt bei passenden Bedingungen auch weit weniger bewaffnet auf die Tiefkarspitze. Etwa mit Stöcken, einem Pickel oder puristischem Schneeboxen. Aber gerade das Nomic, das mittels Krümmung die Hand über dem Schnee belässt, macht einen genialen Job.
Schlucht zum Ausstieg
Es wird wieder etwas steiler und das Westgully zieht sich unmittelbar unter der Felsnadel zusammen und beschreibt eine schwache Linkskurve. Der einzig logische Weiterweg führt also nun durch diese zwischen wilden Felstürmchen tief eingeschnittene Schlucht aufwärts.
Der Tiefblick ins Dammkar verschwindet hinter der Ecke und weicht den fantastisch schroffen und gezackten Felsnadeln, die die Rinne umrahmen und die nur hier drinnen überhaupt wahrnehmbar sind. Alles ist so weit weg. Der Berg hat uns endgültig geschluckt und in unserem kleinen Universum arbeiten wir uns monoton auf den Ausstieg zu. Hannah, heute wesentlich gamsiger unterwegs als ich, hält gute 50 Meter Vorsprung und verschwindet rasch vor einer sperrenden Wand in den schmalen Schlauch nach rechts. Die Kerze ist hier übrigens nicht mehr zu suchen. Sie ist einer der kleinen Türmchen über uns. Einfach der Nase nach. Verlaufen beinahe unmöglich.
Also fast. Der Ausstieg liegt vielleicht 30 Meter über mir und das nochmal steilere und vergleichsweise felsdurchsetzte Stück fällt meiner puren Begeisterung für diesen Tag zum Opfer. Im Rücken das verschneite Wettersteingebirge mit Zugspitze und Alpspitze. Ringsum herrlich bunter, gelbroter Fels. Im Sommer wäre das die Hölle. Alles ist Bruch. Und hier sind wir. Auf einem weißen Faden der Perfektion mitten im Chaos. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Diesmal ganz wörtlich, denn man könnte hier auch wirklich zur falschen Zeit am falschen Ort sein.
Und das war’s auch schon. Ich erreiche den Ausstieg, an dem mich Hannah strahlend erwartet. Vielleicht war es für sie keine Traumtour, die sie jahrelang gedreht und gewendet hat. Aber ich spüre, dass sie begeistert ist. Dass heute anders ist.
Der Ausstieg ist eine Wucht. Kaum über die Kante, fällt das Gelände auf der anderen Seite ins winterliche Karwendeltal ab. Der Blick reicht über all die Größen des Hauptkammes, das Karwendelhaus und die Falkengruppe. Der Tiefblick im wild-winterlichen Ambiente ist berauschend, der umliegende und vom verwehten Schnee übergossene Fels schön und schrecklich zugleich. Vielleicht ist es die Tatsache, dass wir heute noch keine Sonne gesehen haben. Vielleicht ist es der enorme Kontrast zum schattigen Gully in dem wir uns nun eine Weile aufgehalten haben.
Euphorisch starte ich nach links in einer steilen Flanke in Richtung Gipfel. Hier ziehe ich wieder an, nachdem Hannah sich so stark und konsequent durch das Gully gebissen und das Tempo oben gehalten hat. Sie ist, so nehme ich es zumindest wahr, von der steilen, luftigen und der Sonne ausgesetzten Schneeflanke im ersten Moment etwas eingeschüchtert. Der Schnee ist hier aber gleichermaßen griffig und hart und scheint trotz gänzlich anderer Ausrichtung nicht weniger vertrauenswürdig als der Traumfirn im Gully. Das ist wichtig. Denn hinter uns saust es ganz gewaltig ins Tal hinab und die Schneestufe fällt nochmal ein Stückchen senkrechter aus als die steilsten Abschnitte im Westgully.
Nächstes Mal nehm ich ein Geodreieck mit. Oder Wasserwaage. Oder so.
Am Ende der steilen Schneeflanke, es sind nur wenige Meter in diesem Stil zu überwinden wartet der einzige Felskontakt des Tages. Auf einem Meter müssen wir kurz eine winzige Verschneidung im Fels kraxeln die im vielleicht I. oder maximal II. Grad absolut nicht nennenswert ist. Trotzdem dachte sich irgendwer, dass es sinnvoll wäre davor einen Haken anzubringen – wofür genau der da ist habe ich aber nicht verstanden. Wäre da nur nicht der unfassbar brüchige Fels. Ein kleiner Vorgeschmack auf den Sommer. Oder zumindest ein Beweis dafür, welchen Luxus wir hier gerade genießen.
Wenige Schritte über der kleinen Felsstufe flacht der Grat ab, ich werfe einen Blick über die Ecke und hab das Gipfelkreuz der Tiefkarspitze direkt vor der Nase.
Vom Ausstieg zum Gipfel sind es bei feinen Bedingungen allerhöchstens 5 Minuten. Das Gully endet wirklich fast schon obszön nah am Gipfel. Wir hatten uns auf Schlimmeres eingestellt und man kann am Ausstieg des Gullys nur schwer abschätzen, wie weit man noch am Grat rauf muss. Den Gipfel sieht man wirklich erst, wenn man auf ihm steht. Und der Weg ist wirklich nicht weit.
Tatsächlich nehmen wir uns hier mal die Zeit ins Gipfelbuch zu schauen und zu schreiben. Ein paar Riegel gehen über den Tisch, die umliegende Bergwelt wird studiert. Hannah liebäugelt direkt mit dem blockigen Nordwestgrat der hier von Mittenwald raufzieht – der etablierte Sommerweg auf die Tiefkarspitze.
Ich stelle wieder fest wie verknallt ich in all das hier bin. Diese Tour hatte mich lange beschäftigt und war für irgendwann gedacht. Für eine andere Zeit und einen anderen Jan. Aber das ist offenbar jetzt. Denn das Gully war vor allem eines. Perfekt. Perfekt in seinen Bedingungen über die wir und vor allem ich mir den Kopf zerbrochen hatte. Und perfekt für uns, unser Können und unsere Kondition. Eine gute Art einen Punkt ans Jahr 2023 zu setzen. Denn morgen ist Silvester.
Abstieg
Den im Couloir drohenden Steinschlag im Kopf verlieren wir nicht allzu viel Zeit. Wir steigen rasch am Grat zurück, klettern die kurze Felsstufe ab, stapfen die steile Flanke hinab und biegen in die immer noch schattige Welt der Westrinne ab, die uns gerade erst ausgespuckt hat. Hinab geht es viel schneller. Und Steinschlag sehen wir heute gar keinen. Und so arbeiten wir uns Tritt um Tritt wieder hinab.
Wir kommen gut voran aber es liegt eine gewisse Anspannung in der Luft, die Rinne zeitnah zu verlassen. Zusammen aber auch jeder für sich. Die Geduld und Konzentration, die ich dabei aufrecht halte ist im etwas die selbe, die mich über den Jubiläumsgrat getragen hat. Es kann eigentlich nichts passieren – man darf aber auch keinen Scheiß machen. Der harte Schnee, der einen wahrscheinlich nahezu im freien Fall beschleunigen lassen würde ist, tut einem nichts. Sofern man ihn nicht lässt. Im Abstieg sehen einige Passagen, gerade im unteren Teil mit Blick ins Dammkar, wesentlich steiler aus.
Wir queren aus der breiten Passage wieder an die Felswand, rauschen dort die steilen Meter hinab und erreichen schnell mein Stockdepot am Felsriegel zu Beginn der Rinne. Immer noch kein Steinschlag. Was hat es denn, das Kanonenrohr?
Eine irre Bergfahrt geht zu Ende. Aber auch ein irres Bergjahr und ein bisher ziemlich aufregender Winter in dem ganz bestimmt kein Platz für Winterdepressionen war. Könnte man eigentlich öfter so machen. Völlig befreit sprinten wir das steile Schneefeld hinab. Ich lasse es mir nicht nehmen, einige Stücke abzurutschen. An der Dammkarhütte ist der Tag gelaufen. Ich muss erstmal telefonieren und klären welche Snacks und Getränke ich für Silvester im Tal noch kaufen muss. Saufen die Leute doch wirklich Fanta. Wir räumen unser Zeug zusammen, schnallen die Skier an. Die knüppelharte und eisige Dammkarabfahrt rechtfertigt heute keine Mitnahme der Skier. Sie waren lediglich Trainigsgewicht und ein Poporutscher hätte es auch getan.
Aber das Stück zur Materialseilbahn können wir noch runterbrettern. Und sogar noch ein paar Kurven auf der Forststraße nach Mittenwald mitnehmen bis das Geröll der Forststraße überwiegt. Wir schultern die Skier und spazieren in der angenehmen Mittagssonne gen Tal.
Die eigentliche Herausforderung des Tages wartet aber noch auf uns und zwar in Form eines Dilemmas.
Kurzum – wir sind mental und psychisch weit mehr gefordert als an jeder Stelle an der Tiefkarspitze. Denn die Forststraße auf der wir sind spuckt uns 1.94km neben unserem Parkplatz an der B2 aus. Das ist okay. Das haben wir auf der Karte gesehen. Aber es gibt ja einen Pfad, der rechts neben der B2 direkt hinüber zum Parkplatz für und der kleine Hatscher geht sich jetzt schon auch noch aus.
Naja. Rechnung ohne die Gemeinde Mittenwald gemacht. Denn der besagte Weg ist im Winter gesperrt. Irgendwas mit Geldstrafen und Naturschutz. Die Umgehung ist mit 2.56km genau 620 Meter länger und hat auch nochmal 37 Höhenmeter Gegenanstieg. Ganz knappe Nummer. Aber wir entscheiden uns für die Legalität und für ein Leben ohne Gefängnis. Das Gute siegt. Wir latschen zähneknirschend runter in die Ortschaft und in einem regen Auf- und Ab zurück zur Kaserne. Was schauen wir behämmert aus – mit Skiern und Eisgeräten im sonnigen und absolut schneefreien Mittenwald. Aber die Jungs und Mädels sind ja Kummer gewohnt.
Nur wenige Tage später haben Bekannte von uns am Beginn der Rinne wegen üppigem, frisch eingewehtem Triebschnee umdrehen müssen. Diese Tour funktioniert nur, wenn der Berg mitspielt. Für uns hat er das.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Eine bestechende Wintertour auf einen einsamen und unfassbar schönen Berg in noch schönerer Umgebung. Das Gully ist konstant zwischen 45° und 50° steil. Die wenigen flacheren Stellen sind kaum als solche wahrnehmbar. Die Wegfindung empfand ich als sehr einfach und naheliegend – vorausgesetzt man hat sich ein bisschen damit beschäftigt wo es in das recht verdeckte Westgully rein geht. Die eigentliche Crux werden im Hochwinter die ziemlich weiten und steilen Hänge im Dammkar unter dem Einstieg sein, die ganz offensichtlich lawinengefährdet sind. Inwiefern diese Hänge überwacht oder mittels der vorhandenen Sprenglifte ausgelöst werden konnte ich vorab nicht richtig in Erfahrung bringen. Das Dammkar ist aber natürlich auch kein Geheimtipp, sodass man hier auch gespurte und sicherere Verhältnisse vorfinden kann und wird.
Ansonsten ist die Tour – etwas Ausdauer in den Waden, gute Bedingungen und sicheres Gehen im steilen Schnee vorausgesetzt – nicht grundsätzlich schwer. In Summe kommt aber doch ein umfangreicher, ausdauernder und facettenreicher Bergtag zusammen und irgendwo in die selbe Kerbe von mittelschweren Hochtouren bzw. schweren Skitouren schlägt und dem Aspiranten einiges an Eigenverantwortung abverlangt. Ich war sehr froh mit unserer Entscheidung, die frühlingshaften Bedingungen mit harter, gesetzter Schneedecke abzuwarten. Ich würde mich hier nicht hochwühlen wollen.
Steigeisen und zwei Eisgeräte waren optimal. Helm ist eh Pflicht. Ein Seil hätten wir nicht sinnvoll verwenden können. Das Gelände muss halt sitzen. Irgendwas abseilen, Stände bauen o.ä. macht in meinen Augen nirgends wirklich Sinn. Umso sicherer sollte man sich mit den Bedingungen, dem Wetter und der Zeitplanung und Ausdauer im steileren Schnee sein.
Fazit
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Eine der ganz wenigen Touren, die mir vorher, währenddessen und danach unendlich viel bedeuten und an dich ich oft mit einem Grinsen zurückdenke.