Nach unserer Runde in den Mieminger Bergen und der sehr lässigen Winterbesteigung des vorderen Drachenkopfs schweift unser Blick zu anderen Zielen. Am besten eine Tour, die man aus dem Sommer schon kennt und sich im Winter gut vorstellen kann. Ich muss nicht lange überlegen – da war doch diese geile Runde in den Ammergauer Alpen mit grandioser Aussicht, vergleichsweise wenigen Höhenmetern, einem eindrucksvollen aber leichten Grat und sonst relativ unproblematischen Wegen. Im Herbst 2021 war ich hier schonmal alleine unterwegs und sehr beeindruckt.
Es soll also auf die Ammergauer Hochplatte gehen. Wir befinden uns immer noch in den ersten, kläglichen Versuchen eines Winters und sprechen weiterhin von einer stellenweise zwar ordentlich tiefen aber auch reichlich pulverigen, strukturlosen Neuschneedecke. Einen Lawinenlagebericht gibt es noch nicht.
Relativ leicht bepackt starten wir an der Ammerwald-Alm. Im Rucksack ist heute nicht wirklich viel – nur Steigeisen und ein Pickel, ein paar Snacks und Trinken. Es wird ein makelloser, sonniger Tag – da waren sich diesmal wirklich alle einig. Bereits bei der Fahrt durchs Graswangtal sind wir erstaunt, wie winterlich es hier noch ist. Nagut – die Sonne dürfte viele Stellen des Tals gar nicht oder nur sehr kurz erreichen. Kein Wunder, dass sich hier einiges von dem Winterwonderland gehalten hat, das in Garmisch schon längst wieder Geschichte ist.
Wenige Minuten hinter dem Parkplatz erreichen wir das, was ich Hannah als Schlüsselstelle der Tour prophezeit hatte. Vom Sommer erinnere ich mich an eine schmale, kippelige Metalleiter über einen tosenden Fluß. Wie eine Gletscherspalte am Everest, balanciert man hier frei stehend und bei jedem Schritt um sein Leben bangend über das gnadenlose Gelände. Im Winter und mit Eisglasur, würde diese kleine Leiter ein noch wilderes Hindernis darstellen. Keine Ahnung, was ich damals geraucht hatte. Der Fluß ein trauriges Rinnsal, die Leiter maximal einen Meter lang und zwischen großen Felsblöcken völlig obsolet. Nagut. Dann könnte das ja heute fast etwas werden mit der Hochplatte.
Hinter der unspektakulären Leiter zieht ein kleiner und für uns sehr schneefreier Pfad durch das Tal hinauf. Immer wieder überquert er kleine Bäche und Wasserfälle, die sich etwas tiefer im Roggentalbach sammeln und von dort ihren Weg ins Graswangtal finden. Mit den Serpentinen und kurzen Stufen erreicht relativ rasch eine Wegkreuzung, hinter der sich die plattige Südwand der Hochplatte präsentiert. Hier gibt es zwei Möglichkeiten zur Hochplatte zu gelangen. Rechts über das Weitalploch. Etwas leichter mit einem direkten, steilen und sandigen Aufschwung auf ein kleines, bewachsenes Karstplateau und von dort durch Latschen und entlang eines kurzen, stahlseilversicherten Grates auf die Hochplatte. Links zum Roggentalsattel und von dort über ein Felsenfenster und den für eine normale Wanderung durchaus ausgesetzten Südwestgrat zum Gipfel. Kombiniert ergibt sich eine wunderschöne und eindrucksvolle Überschreitung – die natürlich auch unser Ziel ist. Es geht also nach links in das schmale Roggental hinein.
Am Schild treffen wir ein Pärchen aus München die verdächtig normal gekleidet sind und mit gewöhnlichen Winterstiefeln gerade drauf und dran waren den Weg in das Tal zu spuren. Gut – man muss jetzt nicht immer im Dynafit-Ganzkörperkondom in die Berge. Aber ein gewisser Kontrast zu unserer Ausrüstung und vor allem meinem Pickel am Rucksack besteht schon. Und trotzdem haben wir heute das gleiche Ziel.
Wir wechseln uns mit dem Spuren ab und verlieren das Pärchen einige hundert Meter später an eine Brotzeit auf einem sonnigen, schneefreien Vorsprung. Kein Wunder eigentlich – der Weg durch das Tal ist eine unvorstellbare Wühlarbeit. Wir sind ja von den vorherigen Touren schon Kummer gewohnt, aber heute ist es besonders schlimm und mit der zunehmenden Sonne wird der liebliche und unberechenbare Pulverschnee nach und nach zu einer zähen, nassen Masse. Im Schneckentempo stapfen wir durch das Tal. Bis zum Sattel sind es 1,5km und über 400 Höhenmetern. Im Sommer ein Katzensprung – heute eine gefühlt endlose Tortur. Und all das führt dazu, dass der Blick immer wieder vom Weg abweicht. Rüber zur Südwand der Hochplatte. Zu den geneigten und schneearmen Platten und Schrofen. Egal erstmal weiterstapfen.
Okay die Wand lächelt uns wirklich an.
In ihren Schwachstellen scheint sie auf breiten, schneearmen Bändern über das Tal zu queren. Und so fruchtet eine Idee.
Wir hatten den selben Gedanken und nur wenige mühselige Meter später sind wir bereit, ihn in die Realität umzusetzen. Wir spuren also steil nach rechts an den Wandfuß und an eine Stelle die einen flachen und einfachen Zugang zu den breiten, grünen Bändern verspricht. Das gestaltet sich wie so oft doch steiler und unangenehmer als vermutet. Immer wieder ziehe ich mich an nassen Grasbüscheln hoch, die ich beim Einbrechen in die Schneedecke freigelegt habe. Der Pickel macht seinen mittelmäßigen Job und greift abwechselnd in weichem Schnee, nasser Erde oder wahlweise auch gar nicht. Das ist hier aber auch überhaupt nicht schlimm und so bouldern wir fluchend durch den weichen Schnee und die nasse Wiese empor. Wandern im Winter – saudoofe Idee einfach.
Ich schnappe mir das erste kletterbare Stück Wand und behalte es. Ein faustgroßer Griff – der erste den ich anfasse – bricht ohne Vorwarnung aus der Wand und fällt in den Schnee. Das fängt ja toll an. Hannah ist ein paar Meter weiter rechts eingestiegen. Mich lächelt eine deutlichere Verschneidung vor mir an, die schöne Griffe und Tritte (minus 1) zu haben scheint. In ihr komme ich 2 – 3 Meter über den Schnee. Und stelle dann fest, dass sie sich in einer abschüssigen und grasigen Platte verläuft, aus der zu den Seiten auch kein wirklich gut gangbares Band abzweigt. Die wenigen und kleinen Tritte wirken bröseliger als von unten gehofft. Ich versuche einige Züge und balanciere hin und her.
Kurzum – ich verklettere mich komplett und blockiere. Die Stelle ist nicht schwer – vielleicht eine kurze III. Immer Sommer sicher schnell auf Reibung zu lösen. Aber steil, nass, brüchig und ungesichert ist das einzige was sich löst meine Motivation weiterzuklettern. Ein Sturz würde nur wenige Meter weiter unten im Schnee enden – vermutlich sogar so weich und ungefährlich wie nie sonst. Trotzdem sehe ich keinen Weg mehr von den kleinen Tritten und Griffen auf die ich mich befördert habe weiterzukommen. Eigentlich wäre es nur ein Zug oder ein hoher Tritt auf einen verschneiten Absatz. Oder ein Wuchten auf den steilen, plattigen Absatz vor mir. Es wäre aber auch keine saubere Dreipunkttechnik mehr. Es wäre impulsiv und dynamisch. Ein Griff ins Ungewisse – so bewege ich mich normalerweise nicht. Würde ein weiterer Fels ausbrechen oder sich der Tritt als rutschiger erweisen, gäbe es kein kontrolliertes Zurück mehr. Mich erwischt kurz das Gefühl, das Gelände nicht im Griff zu haben. Ein sehr unschönes Gefühl, wie ich finde. Vor allem am Berg. Vor allem ungesichert.
Für mich ist diese Wand an der Stelle gestorben – wenn es oben so weitergeht ist das ein Gelände und eine Situation in die ich mich heute nicht begeben will. Dafür ist der Schnee noch zu gutmütig und der Weg zu Scharte zu kurz. Ich bin froh, als ich meinen bisherigen Verhauer wieder abgestiegen kriege und denke nichtmal dran Hannah’s Einstieg zu probieren. Der Kopf ist einfach nicht mehr dabei.
Nach einigem Hin- und Her steht es immer noch unentschieden. Hannah fühlt sich mit dem Weiterweg im Tal nicht wohl und will kraxeln – ist überzeugt, dass es oben leicht weitergeht. Ich will nach diesem Einstieg nicht weitermachen und Höhe gewinnen, bei der eine erneute Blockade dieser Art akut ungesund enden könnte. Und so zeichnet sich eine Situation ab, in der sich unsere Wege trennen. Darf man das? Beginnen so Bergsteigerdramen? Auf der anderen Seite würde jeder von uns auch alleine zu dieser Tour aufbrechen und individuell Entscheidungen treffen. Wir sind nicht vom anderen abhängig.
Und so trennen sich hier unsere Wege. Für eine längere Zeit als gedacht und für zwei sehr unterschiedliche Varianten. Abgesprochen ist nur, dass ich mich beim erreichen des Roggentalsattels melde, da Hannah ja auch versuchen würde diesen einige Meter höher über ein Band in der Wand zu erreichen. Und dass wir im Falle eines Absturzes laut “Penis” rufen. Das ist unreif und familienunfreundlich – passt also perfekt zu unserer heutigen Wanderung.
Ich spure weiter durch das Tal. Hannah verliere ich schnell aus den Augen. Ganz hinten im Tal sehe ich zwei Schneeschuhgänger, die unserer Spur folgen. Was die sich denken müssen. Bestimmt sehen sie aus ihrer Perspektive gut, wie ich mich Richtung Sattel kämpfe während Hannah irgendwo rechts in der Wand hängt. Naja – andere Sorgen. Einholen werden uns die beiden eh nicht. Ich verlasse das Tal etwas früher als der Normalweg über eine schmale Rampe an der Südwand. Hier ziehe ich auch meine Steigeisen an und der Pickel erweist mir erstmals einen guten Dienst. Ich spare mir hier in eisiger, griffiger Wiese bestimmt 100 Meter steile Wühlerei zum Sattel, der auch etwas überwächtet und abweisend aussieht und komme einige Meter über ihm raus. Alles halb so wild.
Wie vereinbart rufe ich Hannah an. Sie geht nicht ran.
An dem sonnigen Tag ist es doch eigenartig so plötzlich alleine unterwegs zu sein. Auch hier oben am Sattel bin ich in einer völlig makellosen, ungespurten Winterwelt. Mein Handy klingelt.
Ja ich bin jetzt irgendwie schon relativ weit oben, da geht gar kein gutes Band rüber zum Sattel. Aber ich sehe oben schon den Grat, ich denke ich geh da einfach direkt hoch und warte auf dich?!
Ja lässig. Dann passt ja alles und ich muss nur noch auf den Grat kommen. Im Sommer geht es nun einige hundert Meter flach um den Berg herum um den Grat am tiefsten Punkt zwischen Hochplatte und Krähe zu gewinnen. Mich lächelt eine Rinne an, die direkt über dem Sattel hinaufführt. Rinnen mag ich eh. Und schon pickel ich mich die verschneite Rinne hinauf. In der Mitte finde ich einen Meter Blankeis und der Pickel kriegt zum ersten Mal richtig was zum beißen. Total geil! Das hält! Ich habe hier richtig Spaß, haue die Frontalzacken in den gefrorenen Kies unter der dünnen Schneeschicht, stemme mich an einigen Ecken am Rinnenrand höher. Der Ausstieg beinhaltet dann zwei kurze, exponierte Züge über eine Stufe und schon stehe ich auf einer Flanke, die sich vor mir zum Grat verjüngt. Und dort wo der Grat so richtig beginnt sehe ich auch Hannah sitzen. Ganz schön weit oben?
Während ich zu ihr hochstapfe wundere ich mich. Hier ist keine Spur. Rechts neben mir pfeift die Wand runter ins Roggental. Wo genau soll sie da jetzt hochgekommen sein?
Und dann sehe ich eine Spur. Mitten durch die verschneite Wand. Eine Perlenkette aus Schritten, die sich durch die weiße Weite schlängelt und in direkter Linie vom Talboden hier rauf zieht. Hannah hat – nur mit ihren Steigeisen bewaffnet – einen Direktanstieg durch die steile und gut 200 Meter hohe Wand gewählt. Nach eigenen Aussagen einige IIIer Stufen überwindend und ein verrücktes Felsentor durchsteigend. Wie gut, dass ich davon nichts wusste. Ich hätte wesentlich weniger Spaß in meiner Rinne gehabt, wenn ich gewusst hätte wo Hannah sich gerade befindet.
Wir erzählen uns kurz von unseren Abenteuern der letzten Stunde, wobei ich das von Hannah noch nicht richtig verarbeitet bekomme. Dafür sieht die Wand von oben zu steil und wild aus. Bis heute weiß ich nicht, ob das in dieser Form überhaupt schonmal gemacht wurde. Und tue mir schwer zu beurteilen, wie ich dazu stehe. Vielleicht sollten wir da nochmal drüber reden?
Der Grat liegt ungespurt vor uns – die Schneeauflage ist auch hier hoch genug um die Konturen unter ihr zu verbergen und gleichzeitig zu subtil um Halt zu bieten. Jeder Schritt wird sorgfältig geprüft – stolpern sollte man hier nicht. Ich kämpfe ein wenig mit meinem Schuhwerk, den Steigeisen und der Tatsache, dass ich vor einigen Wochen bei einem Sturz beim herbstlichen Sportklettern meinen Knöchel etwas strapaziert habe. Gepaart mit meinen sehr minimalistischen Bergschtiefeln eine etwas wackelige Angelegenheit – der rechte Fuß und seine Schritte wirken alles andere als vertrauenswürdig. Hannah geht vor. Wer die Südwand durchsteigt kann auch den Grat vorgehen. Ich hab die Regel nicht gemacht.
Die “Schlüsselstelle” des Grates ist eine kurze, nordwestliche Querung einen Meter unter dem Grat relativ zu Beginn. Hinter einem rauscht die plattige NW-Wand gute 400 Meter in den Kessel zwischen Hochplatte, Krähe und Geiselstein und die Tritte sind vorsichtig zu setzen. Als wir über den kleinen Aufschwung wieder auf den Grat geklettert sind wir es übersichtlicher. Der Weiterweg zum Gipfelkreuz dürfte nun fast keine Überraschungen mehr bereit halten. Wir sind eigentlich schon auf der richtigen Höhe, wirklich angestiegen wird nicht mehr. Der Grat ist zwar homogen schmal, verfügt aber über keine nennenswerten Klettereien, die sich uns noch in den Weg stellen könnten. Eine kurze, weitere Abkletterstelle unter den Grat und eine darauf folgende, südseitige Querung ist mit Stahlseilen entschärft und voraussichtlich entspannter.
Und so kommt es. Über den schönen und fotogenen Grat erreichen wir schnell die Zielgerade zum Gipfelkreuz. Die Aussicht ist an dem kristallklaren Wintertag phänomenal, die Emotionen der vergangenen Stunden intensiv und der Grat genau die richtige Mischung aus Anspruch und Leichtigkeit. Wirklich aufhalten kann uns nichts mehr und wir erreichen das Gipfelkreuz der Hochplatte, welches nicht nur die erste Rast des Tages sondern auch das Ende der Schwierigkeiten markiert.
Der Abstieg bleibt zwar dem Schema “viel Schnee” treu – mich schockt aber nichts mehr. Wir rauschen den Gipfelabbau hinab, stampfen durch das tief verschneite Plateau. Ich versteige mich nochmal in einem katastrophalen Latschendickicht von dem ich komplett durchnässt und leicht ramponiert wieder ausgespuckt werde und dann wir es endlich einfacher und übersichtlicher. Ziemlich durch aber auch ziemlich aufgedreht erreichen wir wieder die Kreuzung, an der wir vor einigen Stunden ins Roggental abgebogen sind. Ohne zu wissen, was für ein wilder Tag das heute noch werden wird. Nun sind wir ein gutes Stück schlauer aber auch ein gutes Stück müder und cruisen die letzten Kilometer auf dem vom Aufstieg bekannten Pfad hinab ins Graswangtal.
Schwierigkeit
Ich – ganz persönlich – finde die Hochplatte als “normale Wanderung” im Sommer schon eher intensiv. Der Grat ist zwar einigermaßen kurz, ich habe mich nach meiner Sommertour 2021 aber doch gefragt, wie der Watzmann so berüchtigt sein kann, während solche Grate in den Ammergauern frei herumlaufen dürfen. Natürlich sind die Berge an und für sich nicht vergleichbar – durch die recht makellose Wand im Nordwesten ist mir die Hochplatte aber stets viel eindrucksvoller und gruseliger vorgekommen. Im Winter ändert sich daran wenig. Der Grat ist in großen Teilen frei zu begehen. Es gibt keine wirklich schweren Einzelstellen oder Klettereien. Die Herausforderung liegt eher darin, dass man auf der Hochplatte den Großteil der Strecke direkt auf der Gratschneide läuft und wenige sinnvolle Alternativen oder Strukturen findet. Der Grat ist konstant vermutlich einen Meter breit und damit sicher nicht irrsinnig scharf – Platz für Albernheiten ist aber auch nicht und von der Gratschneide abweichen ist auch kaum möglich. Im Winter bei nicht zu hoher Schneelage und vorhandener Spur sicher eine gute Möglichkeit einmal in die Welt der etwas schwereren Winterwanderungen einzutauchen. Eine ordentliche Portion Trittsicherheit mit Steigeisen und Schwindelfreiheit vorausgesetzt. Wenn sich am Grat Wächten gebildet haben ist das bestimmt nochmal eine ganz andere Hausnummer – dann würde ich aktuell niemals einsteigen.
Da wir nach uns noch zwei oder drei Gruppen am Grat gesehen haben, scheint die Hochplatte ein eher häufig frequentiertes Ziel zu sein – auch im Winter. Ob man sich diese Tour auf den Zettel schreibt, hängt wohl stark von den Bedingungen ab – machbar ist sie. Wenn man nicht solch alberne Zustiegsvarianten wie wir verwendet, beschränken sich die Schwierigkeiten (Lawinengefahr außer Acht gelassen) auch vollständig auf die ca. 500 Meter am Grat zwischen Fensterl und Gipfel. Diese verzeihen dann aber wirklich gar keinen Fehler.