Über das Restonica-Tal lagen uns relativ diffuse Meldungen zu Sperrung, Unpassierbarkeit und katastrophalen Zuständen nach einem Unwetter im Oktober 2023 vor. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Planung der anvisierten Kletterei, der “Symphonie d’Automne”, die über dem Lac de Capitello ganz am Ende des vermeintlich unerreichbaren Tales klemmt. Klar ist nur – egal wie wir es anstellen werden wir wohl kaum unter 30 Kilometern Gehstrecke und 1400 Höhenmetern im Auf- und Abstieg auskommen. Und wofür das Alles?
Nah für eine auf dem Papier wunderschöne Kletterei über einem gefrorenen See im Hochgebirge. Was denn auch sonst.
Restoniwas?
Das Restonica-Tal ist vermutlich ein Paradebeispiel für stark erschlossenes Hochgebirge. Fairerweise habe ich es in dieser Form nie kennengelernt und der Besuch im April 2024 war mein Erster. Die Tatsache, dass es einen Bus gab um die Parkplätze am Talschluss zu entlasten und in der Hauptsaison täglich PKWs im höheren 4-stelligen Bereich ihren Weg in das Tal gefunden haben, spricht Bände. Eine Schranke am Eingang des Tales soll an besonders schlimmen Tagen den Zugang geregelt haben.
Die Faszination kann man schon nachvollziehen. Vom Ortsausgang von Corte überwindet die für jedermann befahrbare Straße eine Distanz von 16 Kilometern und über 1000 Höhenmetern in die Wildnis und endet knapp über der Waldgrenze in (heute) einsamer Bergidylle. Das Gegenstück wäre eine Straße von Garmisch durch das Reintal auf das Zugspitzblatt, welche die Besteigung der Zugspitze zu einem erschwinglichen Spaziergang á 1 1/2 Stunden degradieren würde. Lange Rede, kurzer Sinn. Sehr erreichbare Bergwelt.
Am Ende der Straße warteten Wasserfälle, Einkehrmöglichkeiten und die Gelegenheit über eine relativ kurzweilige Wanderung die fotogenen Bergseen Lac de Melo und Lac de Capitello zu erreichen, die wohl das korsische Äquivalent zu Seebensee und Drachensee sein dürften.
Im Oktober 2023 hat ein Unwetter mit Hochwasser diesen Zustand marginal geändert. In einer offiziellen Meldung heißt es, dass das Tal ab dem Campingplatz Tuani kurz hinter Corte nicht passierbar ist. Gilt das auch zu Fuß? Wie schaut es im Tal aus? Nach viel hin und her entscheiden wir uns, es einfach darauf ankommen zu lassen und uns ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Bewaffnet mit der Kondition des einen oder anderen Karwendelmarsches und der Motivation uns von einem kaputten Tal nicht vorschreiben zu lassen, ob wir an seinem Ende klettern dürfen oder nicht. Angetrieben von der Aussicht auf eine Gnocchi-Bowl im besten Restaurant des Universums, in dem wir am Vorabend offenbar das falsche bestellt haben. Zumindest kam es uns so vor, als die imposanten Konstruktionen aus Pizzateig und Gnocchi an uns vorbeigetragen wurden. Und nachdem selbst das falsche Gericht eine Wucht war, haben wir für heute den eisernen Willen, das Richtige zu tun.
Nachdem wir am Vortag ein Stück auf der gesperrten Straße in das Tal gewandert sind schultern wir noch vor Sonnenaufgang die schweren Rucksäcke und schlüpfen an der Schranke vorbei auf den langen Hatscher gen Westen.
Unser Auto haben wir am Wendehammer vor dem Camping Tuani gelassen – zur Nebensaison geht sowas bestimmt und der Campingplatz ist ohnehin geschlossen. Vor uns liegen zunächst lange Straßenhatscher, eine kaum planbare Spur der Verwüstung und wiederum sehr planbare Menschenleere.
Das verwüstete Tal
Unser erstes Ziel ist das Restaurant “Chez Cesar”, welches ebenfalls geschlossen ist und im Normalzustand wahrscheinlich auch eher selten zu Fuß erwandert wird. Führt doch eine perfekt ausgebaute Straße hin. Landschaftlich ist das zwar schon alles recht hübsch hier – uns wurmt aber ein wenig, dass die Strecke hier definitiv nicht beschädigt ist und offensichtlich täglich von (einheimischen) Ausflüglern befahren wird. Ich bin aber auch ein wenig zu deutsch, um mich ihnen anzuschließen.
Ob man das so machen muss, sei jedem selbst überlassen. Wir sind die Strecke gelaufen, haben die Sperrung berücksichtigt und uns im Auf- und Abstieg zusammen nochmal 10 zusätzliche Kilometer auf den Zettel gepackt. Direkt am Chez Cesar werden Parkplätze gebaut – vielleicht ist das schon ein Teil der zukünftigen Ideen oder Übergangslösungen? Ab jetzt wird es auf jeden Fall rustikaler. Denn als wir nach unserem Aktivierungsmarsch das “Chez Cesar” passieren, steht endlich das erste erwähnenswerte Hindernis im Weg. Beziehungsweise es steht nicht mehr. Und wir dadurch zum Hindernis.
Die Ponte Tragone fehlt nach dem Unwetter und der Flut komplett. Eine wirkliche Lösung oder Baustelle ist nicht zu erkennen. Wir steigen über Blockwerk ab und suchen uns über Trümmer und Baumstämme den leichtesten Weg über den im April dank Tauwasser relativ schwungvollen Fluss. Das geht sich aber überraschend gut aus und als wir einen gangbaren Pfad durch die steile Böschung auf der Gegenseite finden und wieder auf der Straße stehen, sind wir uns ziemlich sicher, dass es das schon war. So Brücken sind halt kritische Infrastruktur. Wir waren herrlich jung und naiv.
Man tut ganz gut daran, jeden Anspruch auf Komfort und Passierbarkeit am Restaurant zu parken. Das müssen auch wir einsehen, als wir unmittelbar hinter der Ponte Tragone eine surreale bis apokalyptische Szenerie betreten, die wir nun für viele Kilometer nicht wirklich verlassen werden.
Nur 400 Meter hinter der Ponte Tragone gelangen wir – der mit spektakulären Trümmern übersäten Straße folgend – zu einer zweiten, kleineren Brücke. Der Anblick mit der zerborstenen und abgebrochenen Straße und umgestürzten Bäumen ist filmreif und die halbe Brücke fehlt. Wir finden mit einigen Sprüngen und etwas Kraxelei eine Umgehung links der Brücke über die großen Granitblöcke im Flussbett.
Unsere Gespräche während dem langen Marsch in das verwüstete Tal drehen sich, anders als sonst, nicht ums Abendessen sondern um die Eindrücke, die hier auf uns einprasseln. Wir sind uns ziemlich sicher, dass das Tal in seinem “alten” Sinne nicht wieder befahrbar wird. Zu groß und zu absurd die Schäden an manchen Stellen. Zu unübersichtlich der Aufwand. Zu reproduzierbar das Ereignis – vor allem in Zeiten des Klimawandels.
Ein bisschen nagt auch bereits hier schon die Last der Umstände am Unterbewusstsein. Wir entfernen uns mit jedem Schritt von der Zivilisation und dem Mobilfunknetz – auf welches man hier besser nicht angewiesen sein sollte. Und wir betreten ein Tal, in dem wir mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit die einzigen sind und auch für Tage bis Wochen bleiben würden. Das trifft zwar auf viele etwas exotischere Touren zu und ist in dieser Form etwa im Karwendelgebirge rasch reproduzierbar. Dennoch – einen Bein sollte man sich hier nicht brechen. Von einem Wildschwein gefressen werden auch nicht. Und überhaupt – der Raum für Fehler ist noch ein wenig kleiner als sonst und in solchen Situationen spürt man es. Die explizite Umgebung wirkt heute lediglich als Katalysator.
Abgestürzte Straßenabschnitte
Für eine Weile (1-2 Kilometer) geht es nun trotzdem recht sorglos an der Straße entlang – die Zerstörung rückt sogar für einen Moment in den Hintergrund und die drohenden Wildschweinattacken wieder in den Vordergrund. Es folgen allerdings noch zwei markante Abschnitte, in welchen die Straße komplett vom Hang abgerutscht ist und wir staunen nicht schlecht, als wir uns dem ersten von ihnen nähern. Wir fühlen uns wie in einem Weltuntergangsfilm und das grotesk im Schotter stehende Parkverbotsschild und der Wasserfall aus einem gebrochenen Rohr untermalen die gespenstische Stimmung.
Wir steigen zum Fluss ab und passieren die Stelle unter dem marode wirkenden Wall aus Sand und daraus vermutlich zahlreich abbrechenden Granitblöcken. Wirklich fest ist hier nichts. Wenn man direkt am Fluss oder auf dem tiefer liegenden Waldstreifen bleibt, kann man der zweiten Abbruchstelle souveräner begegnen. Wir steigen hier aber durch die Geröllrinne hinter dem Abbruch in sandiger und nicht überall fester Kletterei wieder zur Straße auf. Nur um wenig später festzustellen, dass wir wieder absteigen müssen.
Wir sind übrigens nicht die ersten hier. Gerade in den Umgehungen weisen schwache Pfadspuren den leichtesten Weg hinab zum Fluss und es findet sich auch schon der eine oder andere Steinmann. Prinzipiell ist man in den Umgehungen aber auf ein wenig Spürsinn und Initiative für den leichtesten Weg angewiesen und befindet sich definitiv nicht im sicheren Gelände.
Ponte de Grotelle
Wir nähern uns der Baumgrenze und passieren die alten Parkplätze. An einer Stelle ist ein unterspültes “überhängendes” Straßenstück zu passieren, welches mit einer Gerölllawine bedeckt ist. Das Wasser und seine Spuren sind zahlreich und eindrucksvoll. Die Ponte de Grotelle ist – alle guten Dinge sind drei – ebenfalls zerstört, lässt sich aber vergleichsweise einfach umgehen. Danach gibt es nur noch Geröll und Flüsse und zu diesem Punkt fast schon gewohntes Gelände bis zur Bergerie de Grotelle. Die Verwüstung bleibt aber allgegenwärtig.
Bergerie de Grotelle
Ab der Bergerie de Grotelle endet die Straße und damit auch der Angriffsvektor für die Naturgewalten. Wir schlüpfen an den leerstehenden Häusern vorbei, die auf Tafeln noch mit ihren Gerichten aus der letzten Saison werben. Für uns geht die eigentliche Tour hier erst los. Nun aber in friedlicherem Gelände.
Zustieg
Wir folgen dem gelb markierten Weg hinauf in Richtung Lac de Melo. Endlich gewohntes Gelände, endlich normaler Zustieg. In der Karte gibt es hier relativ viele Varianten und Pfade die zum selben Ziel führen. Wir entscheiden uns in der Draufsicht für die wahrscheinlich etwas felsigere, rechte Variante. Diese ist aber anders als die linke Seite des Restonica-Flusses, welcher die beiden Wege voneinander trennt, schneefrei. Über einige hübsche Platten, leichte Kraxelei und ein paar Eisentreppen erreichen wir rasch den Lac de Melo auf 1708 Metern. Wir halten kurz Inne. Menschenleere. Kein Empfang. Kalter Wind. Von Westen drücken dichte Wolken in die hohen Lagen, die Richtung aus der das Wetter kommt ist nicht einsehbar. Schnee ab rund 1800 Metern. Die Fragezeichen zu unserer heutigen Tour sind nicht weniger geworden. Die Kraft in den Waden nach einer bereits jetzt zahlenmäßig “ausdauernden Tagestour” aber schon.
Wir biegen nach rechts ab und halten auf die bereits sichtbare Steilstufe zum 200 Meter höher liegenden Lac de Capitello zu. Auf einer mit Steinmännern markierten Spur geht es oft gehend, meist steil, selten leicht kraxelnd hinauf. An einigen Stellen weichen wir taktisch in den etwas vertikaleren Granit am Wegesrand aus um die Schneefelder zu umklettern. Wir haben uns hinsichtlich der langen Strecken und vielen Höhenmeter dafür entschieden, die schweren Bergstiefel, Gamaschen, Steigeisen und ähnliches Zeug im Auto zu lassen und knallhart umzudrehen, falls es mit Zustiegsschuhen nicht mehr weiter geht. Bisher ist dazu kein Anlass. Wirkliche Berührungspunkte mit dem Schnee haben wir nicht und dort wo er liegt ist er hart und ideal gangbar. Die Socken bleiben auch trocken. In den Kesseln um die Seen scheint sich relativ kalte Luft zu halten, wir beobachten auch keinerlei Rutsche aus dem umliegenden Steilgelände. Alles wertvolle Notizen. Wir wollen in diesem Urlaub nämlich auch noch auf einen etwas höheren Berg losgehen.
Und apropos hohe Berge: was für eine wilde und raue Umgebung hier oben. Granitsäulen, die entfernt an Chamonix oder Patagonien erinnern. Berggestalten von einer Steilheit und Prominenz, gegen die viele Gipfel der Kalkalpen einfach nicht ankommen.
Und plötzlich geht es nicht mehr weiter hoch. Das Gelände lehnt sich zurück und gibt die Sicht frei. Und die freigegebene Sicht könnte man als durchaus einschüchternd bezeichnen. Der Lac de Capitello ist zu dieser Jahreszeit noch von einer dicken, splittrigen Eisschicht überzogen in der stellenweise dicke Blöcke vergangener Felsstürze stecken. Gegenüber – vor dem inzwischen bleiernen Himmel erschreckend düster, formlos und abweisend die gigantische Felsmasse, die unter der Pointe des 7 Lacs im See versinkt. Auf einer scharfen Kante innerhalb dieses fast mechanisch anmutenden Pfeilers wollen wir klettern.
Wir queren am rechten Ufer zum Einstiegsbereich, welcher am gegenüberliegenden Ufer ist und auf einer mit Steinmännern markierten Pfadspur rasch erreicht ist. Wir stapfen ans Wasser, wo kaum einen Meter über der hier offenen Wasseroberfläche ein Stahlseil gespannt ist. Hannah gefällt gerade nur wenig an unserer Situation und unserem Vorhaben. Wir stapfen zurück zu den großen, trockenen Blöcken vor dem Schneefeld und beraten uns dort.
Einladend sieht das alles nicht aus – da sind wir uns relativ einig. In den Gründen für das Unbehagen unterscheiden wir uns bei Licht betrachtet aber ein wenig. Hannah stört sich stärker an den umliegenden Altschneemassen, dem gefrorenen See und ganz konkret auch an der Fixseilpassage. Ich bin zwar auch überrascht, wie wild, herb und alpin es hier aussieht, hatte mich aber auf wenig anderes eingestellt und die Erwartungen an die Machbarkeit der Tour so niedrig wie möglich gehalten. Rein rational finde ich hier sogar viele Argumente, die mich positiv überraschen. Trockener Fels, kein Schnee in der Route, Stahlseil statt zerrupften Textilresten und nach meinem Empfinden sehr entspannte Schnee- und Lawinenverhältnisse. Dafür beschäftigt mich das kaum lesbare Wetter, die trotz frühem Start späte Stunde, zu der wir nun einsteigen würden und die absolute Abgeschiedenheit, die keinerlei Fehler zulässt. Auf der anderen Seite – die Route lässt sich fast jederzeit abbrechen und abseilen, wobei man sich nach der 2. Seillänge auch nicht mehr mit der Fixseilpassage und dem See auseinandersetzen muss. Wir entscheiden uns für einen Versuch.
Fixseilpassage
Da ich fetter bin und ich die über der Wasserfläche querende Fixseilpassage auf den ersten Blick gar nicht so schlimm wahrgenommen habe, melde ich mich freiwillig als Tribut. Als ich wenige Meter später und wenige Zentimeter über dem eiskalten See um die erste Ecke steige bereue ich die Entscheidung bereits. Wir haben uns bereits in die Seile eingebunden, um diese dann gleich am mutmaßlich nicht zu üppigen Standplatz parat zu haben. Ich bleibe noch in den Zustiegsschuhen und baue mir mit einer 60cm Bandschlinge und zwei Schraubern eine spartanische Selbstsicherung, die mir noch sehr gelegen kommen wird.
Hannah hat schon einen Punkt. Würde man hier (aus welchem Grund auch immer) in das wirklich sehr nahe Wasser abrutschen, würde das zu einem ziemlich akuten Notfall führen. Ich rupf mich recht kräftig um das Eck und kriege zum ersten Mal einen Blick auf den weiteren Verlauf des Fixseils.
Das Fixseil ist ohnehin schon etwas leger gespannt – man hat begeisternd viel Spiel, welches man eigentlich nicht haben möchte. Hinter dem Eck hält ein einzelner Bohrhaken die Konstruktion über Wasser. Dieser ist, anders als die Aufhängung zu Beginn des Stahlseils, bei unserer Begehung ziemlich rostig. Die Lasche lässt sich bewegen, die Zugrichtung wirkt genau aus dem Fels heraus. Ich gucke rüber zum Standplatz. Dazwischen liegen rund 4 Meter, in denen die Wand so überhängend ist, dass man sich wirklich nur am Stahlseil hängend hinüber schieben kann. Eine Wahnsinns-Attraktion hat sich das Tourismusbüro Corte da ausgedacht. Gut, dass ich meine relativ kurze Selbstsicherung gebastelt habe.
Definitiv nicht das, was Hannah im Nachstieg hören möchte, nachdem ich den Standplatz erreicht und das (trockene) Seil eingeholt habe. Gruseliger als alles, was man bisher so gemacht hat sei das hier. Kommt schon hin. Wir wechseln auf die Kletterschuhe, bemühen uns keinen Zustiegsschuh in den See zu werfen und Hannah steigt in die erste reguläre Seillänge ein.
1. Seillänge (V+)
Der Abstand zum ersten Haken ist zwar ein wenig undankbar – ein Sprung ins Nass wäre bereits kurz über dem Standplatz vorprogrammiert – aber wer die ersten Meter nicht sicher beherrscht, hat in der Route wahrscheinlich eh keine Freuden. Es geht relativ einfach einen plattigen Pfeiler hinauf, bis dieser sich an die rechte Wand annähert. Die Schlüsselstelle der Seillänge ist dann genau der Übergang in die Wand an einer Schuppe und Leisten, der mir für V+ einigermaßen kräftig erschien. Das kann aber auch am obligatorischen und heute sogar wortwörtlichen Kaltstart liegen. Die Eismassen im See strahlen eine ziemliche Kälte ab – bewölkt und windig ist es ohnehin.
Dafür legt Hannah einen ziemlich souveränen und schnellen Vorstieg hin, der in der Stimmung absolut nicht selbstverständlich ist. Trotz guter Absicherung hat man mit dem Wechsel in die eigentliche Wand auch einen sehr plötzlichen und schonungslos direkten Tiefblick auf den gefrorenen See. Durch das bizarre Ambiente hat man hier schon Schwierigkeiten, die Abstände und Perspektive richtig zu verarbeiten.
2. Seillänge (6a+)
Ein wenig graut es mich schon vor dem Vorstieg der 2. Seillänge. Wenn ich den Standplatz erreiche ist das unser Schlüssel zum entspannten Abseilen in das Schneefeld neben dem Einstieg. Nur in unserer aktuellen Position würde ein Rückzug unweigerlich in den See beziehungsweise in die nicht zwingend wiederholungsbedürftige Hangelpassage führen. Auf mir lastet als durchaus der selbstgemachte Druck, diesen kleinen Befreiungsschlag zu vollziehen. Wir haben zwar keinen richtigen Stress aber mit immer wieder einsetzendem, leichten Schneefall wäre es zumindest schön, mal wieder an den Punkt zu gelangen, an dem man die Wahl hat.
Von der vorherigen Seillänge, die mir in ihrer Schlüsselbewegung relativ schwer vorkam bin ich nicht zwingend ermutigt worden. Ich steige in die steile und von feinen Längs- und Querrissen durchzogene Wand ein. Auf halbem Weg muss ich feststellen, dass ich noch nie so schön geklettert bin. Also unabhängig vom Fels und der Seillänge – die bestimmt auch schön waren – habe ich heute die absolute Ruhe, einen stählernen Fokus und eine Präzision in meinen Griffen, Tritten und Bewegungen, die ich nichtmal aus dem Klettergarten kenne. Ich erschrecke fast kurz.
Die Seillänge fällt mir nicht per se leicht. An einem anderen Tag hätte sie mich mit ihrer extrem anhaltenden und eher kleingriffigen Kletterei wahrscheinlich sogar ziemlich gestresst. Aber heute und hier bin ich auf einer vollen Seillänge im absoluten Flow und kriege auch knifflige Einzelstellen ziemlich intuitiv gelöst. Das muss Sex und Drugs auf einmal sein. Fehlt nur noch die Gnocchi-Bowl heute Abend.
Ein Detail, was mich überraschenderweise auch nicht dazu bringt aus der Ruhe zu kommen, ist der ziemlich ergiebige aber zum Glück kleinkörnige Hagel, der etwa ab Hälfte der Seillänge einsetzt. Der Granit bleibt zum Glück trocken aber auf den Absätzen sammeln sich die Hagelkörner und das Bild von all den hüpfenden Körnern auf der großen, plattigen Rampe auf der wir uns befinden geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Keine Ahnung was mit mir los ist. Spätestens das wäre Anlass gewesen, sich ganz massiv stressen zu lassen.
Hannah steigt nach und arbeitet sich durch die wilde Seillänge im steilen Granit – löst die für meinen Geschmack schwierigste Einzelbewegung der Länge am Fuße einer seichten Delle mit viel mehr Geschick und kommt dann bei mir auf einem schmalen Band im Bereich der Kante an.
3. Seillänge (6a)
Hier unterläuft uns der einzige, kleine Fehler des Tages. Wir kommunizieren nicht ordentlich. Sonst hätte man nämlich relativ schnell feststellen können, dass Hannah vom Sichern reichlich durchgefroren und mental heute nicht allzu vorstiegsaffin ist. Gleichzeitig hätte ich offenbaren können, dass ich mit einer traumhaften Seillänge und einem ziemlich intensiven Vorstieg durchaus meinen Spaß hatte und ein Teil von mir auch einfach aus der Wand möchte. Dass ich uns unter den bizarren Bedingungen und mit Wetter und einem brutal langen Abstieg im Nacken ohnehin nicht zum Ende der Route durchsteigen sehe.
Ich denke, dass wir an diesem Tag viel als Seilschaft gelernt haben und in Zukunft in vergleichbaren Situationen besser und agiler sind. In dem Moment versucht sich Hannah am Beginn der 3. Seillänge und kehrt nach wenigen Metern um, weil sie keine Freude an dem kühnen Quergang an einer Risspur vom Standplatz weg hat. Ich versuche es unnötigerweise auch und kämpfe mich nun auch nicht mehr so souverän durch die ebenfalls lange und spektakuläre Seillänge.
Zu Beginn ist es wieder die Riss- und Plattenkletterei aus dem vorherigen Wandabschnitt. Dann wechselt man immer wieder an die direkte Kante, muss um die Haken zu erreichen aber immer wieder recht eigenartig in die Platte steigen. Die anhaltende und technische Kletterei mündet in einer beinahe Idealverschneidung mit feinen Fingerrissen. Aufgrund ihrer Lage, hat sich hier in den Griffen und Tritten im Verschneidungsgrund aber Hagel gesammelt und meine Finger werden mit jedem Zug nasser und kälter.
Am Ende geht es für mich hier auch nur mit sehr mühsamen Ganzkörpereinsatz hinauf und beim etwas längeren Runout zum Standplatz bin ich froh um die Möglichkeit, hier doch noch einen Totem zu versenken. Die Spuren dieser Seillänge zeichnen meine Daunenjacke bis heute. Hannah ist inzwischen endgültig am Frieren und es ist klar, dass wir hier umdrehen. Eine Seillänge zu spät – wenn wir früher genauer darüber geredet hätten. Genau richtig, um eine wichtige Erfahrung mitzunehmen.
Abseilfahrt
Ich richte alles ein, seile wieder zu Hannah an den 2. Standplatz ab und sammel dabei unser Material ein. Dann werfen wir die Seile nach rechts über eine irrsinnig steile und glatte Granitmauer in das tiefer liegende Schneefeld und Hannah seilt als Erstes ab. Ohne weitere Probleme erreichen wir den Firn am Wandfuss, queren zum Rucksackdepot am gegenüberliegenden Blockwerk und machen erstmal eine kurze Pause.
Abstieg
Während der lange Abstieg zu Beginn noch wie ein Damoklesschwert über uns droht, verliert er mit jedem Meter ein wenig seinen Schrecken und löst sich dann gegen Ende wirklich dankbar auf. Mit dem Wissen über die verwüsteten Stellen finden wir uns nun viel rascher zurecht und können den im Aufstieg manchmal mühsam erarbeiteten besten Weg durch das Trümmerfeld im Abstieg einfach umgekehrt abspulen.
Ich kann nur für mich sprechen, aber ich bin heute absolut nicht traurig um die abgebrochene Tour und verbuche den langen Tag im wilden Restonica-Tal nicht als Scheitern. Im Gegenteil – rückwirkend war das wohl einer der nachhaltig beeindruckendsten Tage auf Korsika. Bis zu diesem Punkt war er es definitiv. Wir werden nur zwei Tage später noch zu einem letzten Ausflug ausholen, der an die Magie der heutigen Tour heran reicht.
Über meinem höchsten Punkt wären noch zwei schwere Plattenlängen zu Klettern gewesen. Die wären sicher lösbar gewesen. Im schlimmsten Fall sogar ziemlich lohnend. Mit viel Freude an einem netteren Tag, bei Sonne und mit jauchzenden Badegästen unterm Hintern. Mit weniger Freude, kalten Fingern und auf Zwang am heutigen Tag.
Aber ich finde wir haben der Route einen ziemlich fairen, ehrlichen und sportlichen Versuch abgerungen und müsste nichtmal wiederkommen, weil ich hier für mich einen sehr erfüllten, erfolgreichen und in sich geschlossenen Tag erlebt habe. Wir haben uns kilometerweit in ein verwüstetes Tal geschlagen. Haben Distanzen und Höhenmeter in Kauf genommen, die für die wirklich tolle Linie so wahrscheinlich bisher noch nie einkalkuliert werden mussten. Haben uns in einer für uns doch relativ wilden Wand gut geschlagen und sie zu einem recht passenden Zeitpunkt wieder verlassen. Und wir haben uns drumherum mit ziemlich passender Zeitplanung und Ausrüstung (Schuhwahl, Gewicht, Handschuhe, Notfallausrüstung, Proviant) durch für uns unbekanntes und stellenweise etwas diffuses Terrain bewegt. Umringt von einer wahnsinnig schönen Natur. Dabei hatten wir etwas Glück mit dem Wetter, welches zwar bedrohlich aber nie gefährlich war. Und mit dem Altschnee, der vorhanden aber ideal beherrschbar war. Und gerade in diese Punkte hatten wir in der Planung ziemlich viel Zeit und Nerv gesteckt. Und hätten wir mit irgendetwas weniger Glück gehabt – dann hätten wir an dem Tag bestimmt auch gut und richtig entschieden.
Beim Rückweg haben wir 100 Meter unter der zerstörten Ponte Tragone einen behelfsmäßigen, kippeligen Übergang mit Baumstämmen und kaum tragfähigem Holzgeländer gefunden – der aber beinahe gruseliger war als unser intuitiver Pfad über den Fluss. Zumindest muss hier mehr balanciert werden, die Sturzhöhe ist größer und die Pausepunkte weniger zahlreich und wackeliger. Aber das sei noch zu erwähnen. Und überhaupt – inzwischen hat sich einiges getan im Restonica-Tal. Befahrbar ist es immer noch nicht. Die Trümmerfelder und Erdrutsche, die wir vorgefunden haben werden bestimmt auch noch da sein. Aber es gibt jetzt wohl alternative Wanderrouten die zu den Seen führen – und damit wahrscheinlich auch wieder ein bisschen mehr Leben und ein bisschen weniger Endzeitstimmung.
Umso einzigartiger und zerbrechlicher unser kleiner (langer) Tag und das unbeschriebene Blatt, das er für uns war.
Dann bleibt nur noch die Straße zurück nach Corte. Und diesmal gibt es mehr zu reflektieren, denken und reden als beim Aufstieg.
Die Sache mit der Gnocchi-Bowl
Der aufmerksame Leser wird nun natürlich noch wissen wollen, was aus der Gnocchi-Bowl geworden ist. Ob es sich gelohnt hat dafür zum Lac de Capitello zu laufen und bei Nullgraden im Hagel den oberen 6. Grad zu klettern. Unter den subtilen Sorgen, die uns den Tag über begleitet haben, war nämlich auch die Befürchtung, dass irgendetwas mit der Gnocchi-Bowl nicht stimmen könnte. Dass das Restaurant einen Ruhetag haben könnte. Nein, davon steht nirgends was.
Am Abend stehen wir in unseren einem Kletterurlaub entsprechend edelsten Gewändern vor der geschlossenen Tür. Der gekritzelte Zettel an der Tür ist unmissverständlich, final und traurig.
Unser Beileid gilt also der Belegschaft eines Restaurants, welches wir neben der Stadt Corte ziemlich ins Herz geschlossen haben. Der Laden scheint inzwischen wieder geöffnet zu sein. Falls ihr also vor uns in Corte seid: A Casuccia ist alles was ihr braucht. Und ich erwarte Berichte per Mail an jan@alpartig.com
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Alles im Kontext der 3 Seillängen und Fixseilpassage, die wir bei unserer unvollständigen Begehung geklettert sind. Die Symphonie d’automne ist eine traumhafte, etwas groteske Linie in feinstem, plattigen Granit. Die Kletterei ist dabei berauschend anhaltend, unglaublich exponiert und führt durch bombenfesten Fels in einer wahnsinnigen Landschaft. Es überwiegt viel technische Kletterei an schmalen Rissen und Leisten. Immer wieder auftauchende, horizontale und schmale Bänder dienen als relativ gute Ruhepositionen, dazwischen muss aber anhaltend kleingriffig und sorgfältig gestiegen werden. Der beste Weg folgt dabei nicht immer der direkten Linie zwischen zwei Haken, es lohnt manchmal kleine Ausflüge in seitliche Risssysteme oder an die Kante zu unternehmen. Platz für solche Manöver ist allemal.
Die Absicherung ist gut, die Hakenabstände sind sehr regelmäßig aber nicht so eng wie im Klettergarten. Dazwischen darf ab und an schon auch mal ein paar Züge am Stück geklettert werden. Die Standplätze sind in Ordnung, das Abseilen vom 2. Standplatz zurück zum Einstieg gelingt mit 60m Halbseilen gut. Das Fixseil ist in Form eines Stahlseils eigentlich ziemlich gut – woanders hätte man hier nur einen ranzigen Bindfaden präsentiert bekommen. Genau der mittlere Haken schwächelt in meinen Augen aber schon ein bisschen, sodass man vielleicht nicht zu viel dynamische Last in das Seil bringen mag. Die Passage bleibt etwas unangenehm, rupfig und je nach äußeren Umständen auch nicht ganz ungefährlich – zumindest im Vergleich zur im Rest der Route vorherrschenden, sportlichen Absicherung. Hier würden ein paar Trittbügel oder ein etwas strafferes Stahlseil bestimmt helfen. Es ist aber anzunehmen, dass die Route mit schwierigerem und längerem Zustieg in nächster Zeit nicht mehr allzu viele Besuche erhalten wird und solche intensiven Baumaßnahmen bestimmt auch nicht auf der ToDo-Liste stehen. Also Augen zu und durch.
Wir hatten ein paar kleinere Friends am Gurt und an wenigen Stellen war das sogar ganz angenehm. Muss man nicht so machen – die Route ist ausreichend versichert. Gerade zu Beginn der 1. Seillänge und in der Verschneidung der 3. Seillänge kann man damit aber doch nochmal eine dankbare Zwischensicherung legen.
Zusammenfassung
Die Sache mit der Gnocchi-Bowl tut mehr weh als jedes Hagelkorn, jeder Höhenmeter Zustieg und jede abgebrochene Tour. Abgesehen davon ein Tag und eine Tour in der ich auf uns als Seilschaft persönlich einigermaßen stolz bin und die für mich ein ziemlich wilder Ritt und eine lohnende Auseinandersetzung mit vielen Themen war. Es muss bestimmt nicht immer so intensiv oder drastisch sein – aber die Erfahrung über dem Lac de Capitello würde ich nicht missen wollen.