Über dem knapp 3000 Einwohner fassenden Bergdörfchen Zonza ragen die westlichen Türme der Bavella besonders markant in den Himmel. Kein Wunder, dass diese Berge als “Dolomiten Korsikas” bekannt sind – das Bild, das sich aus dieser Richtung auftut erinnert wirklich an die Geislergruppe in Südtirol. In dieser Reihe von klar abgetrennten und unnahbaren Felstürmen fallen in vorderster Front zwei Berggestalten auf: die Punta di l’Acellu (1588m) und und die Punta di l’Arjettu (1596m). Sie werden zwar von ihren Nachbarn überragt, präsentieren sich aber schroff, unnahbar und erstaunlich symmetrisch.
Und beide entsenden Grate gen Südwesten in die Ebene, welche nach den Dörfern (Zonza und Quenza) benannt wurden, auf welche sie zeigen. Den leichteren von beiden, den Arête de Zonza haben wir uns für unsere letzte Bergfahrt in der Bavella vorgenommen. Und dabei kann man auch immer wieder einen Blick auf den Zwilling nebenan werfen – den Arête de Quenza, welcher aber auf unser nächstes Mal Korsika warten muss. Oder das Übernächste. Oder das Überübernächste.
In 11 relativ frei gestaltbaren Seillängen gilt es den leichtesten Weg auf einen Gipfel zu finden, welcher alleine den Kletterern vorbehalten bleibt. Für uns eine logische Fortsetzung der Tour an der Punta Caletta wenige Tage zuvor und ein schönes Teststück für lange Grate im gangbaren Granit und bei überwiegend mobiler Absicherung.
Zustieg
Vom Col de Bavella starten wir mit einigen anderen Seilschaften in Richtung Berg. Der Himmel ist etwas belegt und grau, soll heute aber relativ stabil bleiben. Nur windig soll es sein, wovon im Zustieg aber noch nichts zu bemerken ist. Wir kreuzen (wie gefühlt überall auf Korsika) den GR20 und biegen dann auf die “alpine Variante” dessen ab, welche gelb markiert ist und in steileren Serpentinen in die Höhe führt.
Neben einer reichlich bizarren Völkerwanderung irgendwelcher Raupendinger gibt es wenig zu berichten. Der Weg ist gut markiert und eingespurt, die knapp 250 Höhenmeter lassen sich recht angenehm steigen. Ringsum bauen sich faszinierende Tafoni-Türmchen und Felsskulpturen auf. An der wahrscheinlich markantesten Tafoni-Säule soll man laut Kletterführer nach links auf Pfadspuren abbiegen und Steinmännern folgend zur noch verborgenen Ostwand der Punta di l’Acellu queren. Ein wenig traumatisiert von unserem verfrühten, falschen und botanischen Abzweig an der Punta di u Peru am Vortag, setzt sich heute Hannah durch auf dem sehr gangbaren GR20 zu bleiben. Sie ist von meinem Trampelpfad nicht komplett überzeugt. Ich bin wiederum überzeugt, dass das diesmal der richtige Abzweiger gewesen wäre – es folgt im weiteren Anstieg auch keine weitere Möglichkeit. Hannah hat aber insofern einen Punkt, dass die Höhenmeter auf die Passhöhe unter der Ostwand unseres Tagesziels in beiden Varianten überwunden werden muss. Hier – auf dem GR20 – allerdings in deutlicher und direkterer Linie.
Ohne den in der Literatur beschriebenen Zustieg gegangen zu sein: so mies war unsere Variante bis hier wirklich nicht. Wir erreichen einen kleinen Durchschlupf und Sattel auf 1434 Metern, welcher in meinen Karten als “Bocca di u Truvone” beschrieben ist. Von hier öffnet der freie Blick auf die Punta di l’Acellu, ihre von schwereren Kletterrouten durchzogene Ostwand und ihren markanten Gratturm, den Acellucciu. Unter der Wand führt eine breite, nicht allzu steile und gut gangbare Schrofenrinne nach Südwesten hinab. Um zum Einstieg in unseren Grat zu gelangen, müssen wir nämlich nochmal ein paar Höhenmeter absteigen und an einer der zahlreichen Schwachstellen zu diesem aufsteigen. Gleich vorweg – am Ende unserer kleinen, folgenden Odyssee werden wir den originalen Einstieg auf ziemlich genau 1350 Metern finden. Unsere erste Interpretation war – wie so oft – ein wenig verfrüht.
Während wir im Gras absteigen, schweift der Blick rechts in die steile, unübersichtliche und löchrige Wand. Am Acellucciu, dem markanten Gratturm im Arête de Zonza, steigt gerade eine Seilschaft in eine steile und direkte Tafoni-Route ein. Da wollen wir schonmal nicht hin. Also weiter runter.
Ein falscher Schluss reicht, um uns auf die erstmal falsche Fährte zu locken. In der Literatur ist von zwei Einstiegen die Rede – einer etwas anhaltenden und steileren Variante weiter oben und dem tiefer liegenden Originaleinstieg. Obwohl wir noch viel zu hoch sind, vermuten wir die andere Seilschaft in der Variante. Ihre Kletterei sieht zwar böswillig steil bis überhängend aus – aber das ist im Tafoni ja nichts Neues. Wie um unsere Vermutung zu bestätigen taucht kurz unterhalb der steilen Wand eine größere Einbuchtung auf, die vergleichsweise leichtes Gelände und einen Zugang zum Grat zu ermöglichen scheint. Vage Pfadspuren führen über eine einfache Rinne (II) auf eine Terrasse. Auch Steinmänner finden wir hier. Und ein Drahtseil.
Nach ein bisschen hin- und her einigen wir uns darauf, dass wir hier auch nicht wirklich richtig sein können. Zu wenige der vorhandenen Tatsachen decken sich mit der Beschreibung im Buch. Einen Klettersteig erwarten wir erst am Ende der 3. Seillänge – um daran Stand zu machen. Auch hier nehme ich eine Kleinigkeit vorweg: das Drahtseil, dass hier von der Terrasse um’s Eck führt ist tatsächlich das an dem ein Standplatz eingerichtet wird. Somit dürfte unser Weg als Schnellzustieg in den Grat (man spart sich 3 Seillängen) oder als vergleichsweise angenehmer Notabstieg dienen. Welche andere Funktion die Passage hat, kann ich mir nicht erklären – eine richtige Ferrata ist hier nicht eingerichtet. Und der GR20 ist es diesmal ausnahmsweise auch nicht.
Wir steigen wieder am in die grasige Rinne und folgen dem Wandfuß weiter hinab bis zu einer Stelle hinter zwei Tannen, an welcher sich der Grat wirklich und spürbar absenkt und über eine nun offensichtliche und mit einem Bohrhaken markierte Rampe erstiegen wird. Der Einstieg. Der untere der beiden. Wir befinden uns hier nur an einem Ausläufer des eigentlichen Südwestgrates, welcher noch weiter in Richtung Tal hinabzieht und hier aber deutlich versetzt läuft. Und überhaupt – wir sind für den Arête de Zonza hier und haben diesen – fairerweise mit einigen Startschwierigkeiten – nun auch endlich gefunden.
1. Seillänge (V+)
Hannah steigt in die erste Seillänge ein. So will es die Tradition. Leichtes aber plattiges Gelände vermittelt den Zugang zu einem mit zwei Bohrhaken recht üppig versicherten Aufschwung. Hier soll der obere V. Grad erreicht werden – und obwohl die Stelle kein kompletter Selbstläufer ist – anhaltend oder wirklich schwierig ist sie nicht. Ein kurzer, kräftiger Zug an dem henkligen und etwas abdrängenden Block und ein hoher Tritt bringen einen schon in eine vage Schrofenrinne, welcher man zum Standplatz folgt. Eine Schlinge weist im oberen Abschnitt den Weg zu einem kleinen Absatz – ein Köpfl bietet sich als solider Standplatz an.
Die Seillänge muss übrigens Opfer eines relativ frischen Steinschlags geworden sein – bei unserer Begehung kommt uns das Gelände unnatürlich sandig vor und wir finden auch ein paar frische Ausbruchstellen. Mit einigen Begehungen dürfte sich das aber rasch ändern und es wird die einzige Seillänge sein, in der wir uns nicht im bombenfesten Granit befinden.
2. Seillänge (V+)
Ich bin dran und steige in die zweite Seillänge ein. Ein bereits sichtbarer Bohrhaken weist den Weg in die kompakte und relativ steile Wand. Mit einem Grat hat die Tour bisher noch nicht wirklich viel gemein. Aber die Kletterei ist begeisternd. Schöne Rillen und Platten führen zum fixen Sicherungspunkt und danach in eine genüssliche Verschneidung, welche zahlreiche mögliche Placements abwirft. Ich versenke einen lila Totem und erreiche einen weiteren Absatz.
Hier geht es kurz horizontal querend zu einem weiteren Aufschwung unter einem markanten Klemmblock auf der rechten Seite. Die Stelle misst nur 2 Meter ist mit einer maroden Schlinge markiert (abgesichert wäre ein wenig zu optimistisch) und entpuppt sich als Crux der Seillänge. Der direkte Weg über den Klemmblock ist ein wenig zu abdrängend, griff- und trittarm und vor allem zu nah an einem Bodensturz auf den Absatz. Stattdessen gehe ich die Stelle links vom Klemmblock in einer feinen Rissspur an, gewinne die notwendige Höhe, spreize mich kurz ein und erreiche dann gute Griffe über dem Klemmblock. Auf dem folgenden Absatz fange ich erneut ein Köpfl für den Standplatz ein. Es gäbe hier aber wahrscheinlich auch Möglichkeiten für einen Stand an Friends – den Mehraufwand einer solchen Konstruktion mal ignorierend.
Hannah steigt rasch nach, braucht auch einen Moment um den abdrängenden Klemmblock zu bezwingen und startet dann in die 3. Seillänge. Ich staune derweil über die Einsamkeit, die Landschaft, den perfekten Fels und…den ziemlich starken Wind?
3. Seillänge (III)
Die 3. Seillänge stellt uns – vor allem Hannah im Vorstieg – vor keine nennenswerten Herausforderungen. Ein sehr gestufter und positiver Aufschwung darf über den Weg des geringsten Widerstandes erklommen werden. Fixe Absicherung gibt es nicht und Hannah versenkt auf der mit 20 Metern kürzesten Seillänge des Tages nur einen Friend. Das relativ kompakte und geschlossene Gelände, lässt nur wenig anderes zu. Die sehr moderaten Schwierigkeiten und das rasche Zurücklehnen des Grates erfordern hier aber auch keine zusätzliche Kreativität. Der Standplatz wird am Klettersteig-Drahtseil errichtet, welches hier von rechts hinaufzieht, endet und welches wir vorher bereits reichlich verwirrt von der anderen Seite begutachtet haben.
Zum ersten – aber nicht zum letzten Mal – macht sich die eigentliche Herausforderung des Tages bemerkbar. Aus Westen rauschen doch recht eindrückliche Windböen in die Berge und wir sind diesen am Arête de Zonza schutzlos ausgeliefert. Von Kommunikation über Rufen können wir uns erstmal verabschieden. Stattdessen zehrt das ständige Wehen subtil an der Konzentration und ich bin bereits mehrfach von den Bändchen an meinem Rucksack ausgepeitscht worden.
4. Seillänge (IV+)
Vom Winde verweht gehe ich den nächsten, ziemlich steilen Aufschwung an. Über beherrschbares aber herrlich vertikales und an Sanduhren gut absicherbares Tafoni-Gelände gewinnt man leicht linkshaltend an Höhe. Rückblickend ist das vielleicht sogar eine der klettertechnisch lohnendsten und begeisterndsten Abschnitte des Grates. Auf der anderen Seite – wirklich schlechter oder langweilig waren die vorausgegangenen Längen nun wirklich auch nicht.
Viel zu früh lehnt sich das Gelände wieder zurück und wird einfacher. Ich erreiche den ersten relativ markanten Meilenstein im Gratverlauf – ein wirklich großes und flaches Plateau, an dem sich zum ersten Mal ein Blick auf den weiteren Gratverlauf auftut. Bisher waren wir ziemlich eingelullt in dem steilen, dreidimensionalen Fels und haben vor lauter Berg den Berg nicht gesehen.
Die einzige Herausforderung ist es hier nun einen brauchbaren Standplatz für seinen Nachsteiger zu errichten. Einige fixe Schlingen am Boden halte ich für relativ ungeeignet – zum Sichern, für die Seilführung, fürs Leben. Stattdessen suche ich mir einen etwas größeren Block auf der rechten Seite des Plateaus und hohle Hannah an einer Köpflschlinge und zwei Friends nach. Die Kommunikation läuft an diesem Punkt nur noch über Seilkommandos und als Hannah im tosenden Wind zu mir aufschließt ist sie irgendwo zwischen verfroren und gestresst.
Irgendwie schaffen wir es immer in gegensätzlichen Verfassungen Klettern zu gehen. Am Vortag – in der wesentlich schwierigeren U Haddad – hatte ich ziemlich Schwierigkeiten in die Route, die Wand und die Umstände zu finden. Hannah durfte diese Tour gänzlich anders erleben und hatte einen genüsslichen Tag mit fordernder aber begeisternder Kletterei in spektakulärer Kulisse. Ich empfand die Tour als eher bedrohlich, was rational gesehen nicht gerechtfertigt ist. Heute haben wir offenbar unwissentlich wieder einen Rollentausch vollzogen. Und leider nicht die Art von Rollentausch, die Krankenschwester-Kostüme beinhaltet. Heute kann ich den Wind ausblenden, empfinde den Grat als komplett chillig und genussjauchze mich von einem Henkel zum nächsten, während Hannah in der groben Tendenz weniger Spaß an der langen und unübersichtlichen Unternehmung hat.
5. Seillänge (III+)
Es folgt eine kurze Verbindungsseilänge, die einen kurzen und kaum sinnvoll absicherbaren Abstieg beinhaltet. Ziel ist es, an die linke Seite des vor uns aufragenden Aufschwungs zu gelangen. Falls ich es noch nicht erwähnt habe – landschaftlich ist das hier schon eine ziemliche Show. Ringsum ragen wilde, löchrige Wände in den tollsten Farben und Formen auf. Die weiten Wälder des Tals liegen schon weit unter uns und entsenden neongelbe Pollenwolken in die ohnehin schon trübe Luft.
Hannah erreicht den Standplatz souverän, schlägt aber nicht den leichtesten Weg ein. Links auf dem Plateau steht ein größerer Block, den es vermutlich links zu Umgehen gilt. Zumindest wäre dort eine Schlinge gewesen. Hannah steigt stattdessen rechts am Block vorbei und durch eine kurze, luftige und leicht abdrängende bis überhängende Verschneidung ab. Dann folgt eine plattige Querung in leichtem Gelände zum Standplatz an einer Sanduhr.
6. Seillänge (IV)
Wir befinden uns in einer Art Schlucht. Wieder gilt – der Grat ist vielerorts so komplex und breit, dass er kaum als solcher zu erkennen ist. Was hingegen zu erkennen ist, ist eine offensichtliche Schwachstelle am Pfeiler rechterhand. Während der Aufschwung vom vorherigen Standplatz aus noch ziemlich steil und unnahbar präsentiert hat, zeigt sich hier hübsches, gestuftes Gelände welches relativ intuitiv zurück auf Messer’s stumpfe Schneide führt. Ich gebe Gas, denn in der Schlucht scheint sich der Wind zu bündeln und nimmt fast atemberaubende Ausmaße an. Obwohl wir Hannah inzwischen noch zusätzlich mit meinem Windbreaker ausgestattet haben – definitiv kein allzu kuscheliger Ort.
Ich folge dem leichten Gelände am Wandfuss entlang und biege an geeigneter Stelle nach rechts in einen recht markanten Kamin ab. Fixes Material gibt es in dieser Seillänge nicht, mit Friends lassen sich aber auch hier gute Absicherungen schaffen. Danach geht es über angenehmes, homogenes Gelände empor wobei man die über einem drohenden Tafonidächer anpeilt. Obwohl unter den markanten Tafonis mehrere Schlingen dazu einladen einen Standplatz zu errichten, bietet es sich für die folgende Seillänge an, diesen eher links der Kante an einem Köpfl (und einer vorhandenen Schlinge) zu errichten. Ich mache das im ersten Moment falsch, schnappe mir den zentralen Standplatz an den Schlingen und muss dann nochmal umständlich die wenigen Meter nach links umziehen. Für die folgende Seillänge ist das aber definitiv ein Gewinn – die Seilreibung kann auch so schon groß genug werden.
7. Seillänge (IV)
Nicht ganz offensichtlich geht es nach links in eine kurze Tafoni-Verschneidung und dann durch ein luftiges Eck ins Unbekannte. Es ist und bleibt spannend hier ohne wirkliche Idee, wie es danach weiter geht in das unübersichtliche Gelände zu steigen. Wir haben den Weg heute überall auf Anhieb gefunden – es hätte aber an vielen Stellen auch massig logische Alternativen gegeben. Ob sich diese dann immer so gut auflösen ist eine andere Frage.
Für Hannah geht es hinter dem Eck auf jeden Fall weiter. Eine kurze Plattenstelle führt zu einer unfassbar henkligen und hohlen Tafoni-Passage, die direkt aus einem Science-Fiction-Film stammen muss. Dass hier keine fliegenden Alienaale in den unzähligen Poren und Hohlräumen leben, grenzt an ein Wunder. Die korallig-bizarre Felsformation wird direkt angegangen und steil überklettert – danach lehnt sich der Grat erneut zurück und ich erreiche Hannah, die an einem vagen Köpfl in einer geneigten Platte Stand gemacht hat. Getrübt wird die Freude über die geniale Seillänge nur davon, dass die von Natur aus verschlungene Wegführung und ein nicht ideal gelegter Friend für ziemliche Seilreibung gesorgt haben. Mit knapp 50 Metern war die Seillänge auch ziemlich lang – der Kontakt zwischen Hannah und mir ist aber breites nach 10 Metern abgebrochen, sodass am Ende der langen und komplexen Felsfahrt auch überhaupt nicht klar ist, wie viel Seil noch bleibt um einen Standplatz in dem nun vorherrschenden Plattenmeer zu finden.
8. Seillänge (III)
Vor uns türmt sich ein kompakter, von wellenförmigen Rissen durchzogener Aufschwung auf. Er führt unter den Gipfelblock des Acellucciu, dem markanten Gratturm, den wir bereits im Zustieg erkannt haben. Hier würde die nominell schwierigste Seillänge der Tour, eine optionale 6a, auf uns warten. In Anbetracht unserer Verfassung als Seilschaft und mit dem Ziel so rasch und planbar wie möglich aus der Wand und dem Wind zu kommen, entscheiden wir uns für die Umgehung. Hannah zieht sogar die Abseilpiste im “Brèche des Genevois” in Betracht. Das ist die Einkerbung hinter dem Gratturm und 3 Seillängen unter dem Gipfel der Punta di l’Acellu, aus welcher durch eine Rinne eine Abseilpiste zurück auf den Zustiegsweg führen soll. Mich lächelt diese Option noch nicht komplett an.
Ich halte mich auf den Bändern, die links um den Acellucciu herumführen. Das Gelände ist einfach, nur kurze Auf- und Abstiege erreichen den III. Grad. Sobald ich die Nordseite erreiche lässt das plattige Gelände nach und loses Blockwerk überwiegt. Obwohl ich nur einen einzigen Friend mit sehr langer Expresschlinge gelegt habe ist die Seilreibung zwischen den groben Blöcken und um den Gratturm herum enorm. Auf den letzten Metern im absoluten Gehgelände ziehe ich mit voller Kraft Zentimeter für Zentimeter Seil nach.
Die 60 Meter, die uns zu Verfügung stehen reichen nicht, um die etwas versteckte Abseilstelle zu erreichen. Rückblickend wäre es aber ohnehin sehr viel sinnvoller gewesen, die Passage am verkürzten, laufenden Seil zu gehen und das zwei Seil bereits für die kurze Abseilstelle aufzunehmen. Aber wie soll man das beim ersten Mal schon ahnen. Als ich merke, dass das Seil wohl aus ist baue ich einen improvisierten Stand an einem der zahlreichen Blöcke und sichere Hannah im Nachstieg.
Abseilen
An einem markanten, über die nach links in die Scharte “Brèche des Genevois” abfallenden Platten thronenden Block befindet sich auf der uns abgewandten Seite ein solider Abseilstand. Ein Strang unserer Seile reicht hier allemal – der kurze Abstieg in die Scharte zwischen Acellucciu darf wirklich unspektakulär genannt werden. Knapp 15-20 Meter werden es sein, ein überwiegender Teil ist Gehgelände. Die kurze, wenige Meter messende Stufe zum tiefsten Punkt kann im Notfall bestimmt auch geklettert werden. Im Abstieg wie im Aufstieg. Keine Ahnung warum man das wollen würde.
Wir entscheiden uns für die Flucht nach vorne – die Abseilfahrt über die Rinne, die hier möglich wäre, lächelt vor allem mich wenig an. Dann lieber nochmal 3 Seillängen zusammenreißen und den ohrenbetäubenden Wind ausbaden. Während ich bereits in der 9. Seillänge stecke kommen zwei Dudes vom Acellucciu und steigen über die Rinne ab. Scheint also doch ganz chillig zu sein…
9. Seillänge (IV)
Eine steile Seillänge führt in relativ freier Wegwahl hinauf in ein wildes Tafoni-Dach, welches dem Weg des geringsten Widerstandes folgend nach links gequert wird. Es besteht hier auch die Möglichkeit geradeaus weiter zu klettern – Bohrhaken und Schlingen laden dazu ein – diese Variante ist aber direkter und schwieriger als der beschriebene Weg. An perfekten Henkeln und Sanduhren erreiche ich ein logisches Eck, an dem das Tafonidach endet, es nach links nicht mehr sinnvoll weitergeht und zahllose Sanduhren zum Standplatzbau einladen. Die Kletterei erinnert auf den letzten Metern vor dem Standplatz eher an hangeln.
Nur ein wenig exponiert steht man hier auf einer kleinen Terrasse über einem durchaus eindrucksvollen Tiefblick. Die Bändchen an meinem Rucksack peitschen mich erneut aus. Die kurze Stille aus der Scharte ist vergessen, das ohrenbetäubende Rauschen ist wieder da und gefühlt so stark wie nie zuvor.
10. Seillänge (IV+)
Hannah steigt nach und geht direkt in Führung – hinaus aus dem Tafonidach und hinein in ein großes Plattenschild. Dort steigt sie nach links in schwer absicherbares aber relativ leichtes Gelände und taucht für einen kurzen Moment wieder in meinem Blickfeld auf. Die Wegfindung scheint nicht allzu leicht zu sein.
Im Nachstieg staune ich nicht schlecht über die dünne Absicherung in den Platten und die dann nochmal überraschend kräftige Kletterei. Einen #2 Friend hat Hannah hier ziemlich gewinnbringend in einem Riss versenkt. Am Ende der vagen Plattenquerung nach links führt eine steile Verschneidung wieder auf die Gratkante und erfordert ein paar kräftige Züge und sorgfältige Tritte. Dabei arbeitet man sich aus einer Tafoni-Höhle heraus, wobei die eine Körperhälfte versucht Platte zu klettern, während die andere Tafoni-Henkel-Risse piazen möchte.
11. Seillänge (V+)
Und da liegt sie schon vor uns: die letzte Seillänge. Ungewohnt plattig präsentiert sie sich. Geziert von einer feinen Rissspur, welches sich viel zu früh im geschlossenen Granit verläuft. Ein Bohrhaken schont hier ein wenig die Nerven, ein #1 BD passt darunter in den Riss um den Weg zum Bohrhaken zu versüßen. Für die Länge der Tour und den im Dauerwind etwas strapazierten Gesamtzustand kann ich mich hier nochmal gut konzentrieren und empfinde die Kletterei als schön, human und elegant lösbar. Der Stilbruch zu der bisher überwiegenden, steilen Henkel-Kletterei könnte aber größer nicht sein. Hier heißt es für einen kurzen Moment wirklich sauber treten und sachte steigen.
Ich erreiche ein großes Band und ein gewisses Fragezeichen. Ich könnte auf diesem Band nun rund 10 Meter nach links queren und dort in einer gutmütig aussehenden Verschneidung an der sperrenden Platte vorbeikommen. Aber das wäre eine ziemlich wilde Seilführung. Geradeaus bietet sich ein kurzer, griffiger Kamin an, der erstmal viel logischer wäre. Ich legen einen Friend, entscheide mich für diesen Weg und bereue meine Entscheidung schon wenige Meter später.
Die zweite Platte fällt etwas steiler und kniffliger aus als die erste und lässt sich zunächst nicht absichern. Erst als ich sehr bedacht einige Meter in sie hineingestiegen bin, fällt mir ein Schlaghaken in ihrer Mitte auf.
Dann treibt es mich doch nach links in die Verschneidung. Anstatt also auf dem Band zur Verschneidung zu laufen und in dieser entspannt und absicherbar aufzusteigen habe ich die Platte diagonal und kaum absicherbar gequert, um an den selben Punkt zu gelangen. Das geht bestimmt eleganter. Dann sind es nur noch zwei kurze Züge über Blockwerk und schon stehe ich auf dem flachen und breiten Gipfelplateau der Punta di l’Acellu. Egal wie man klettert – man sollte noch ein bisschen Material am Gurt behalten um hier einen Standplatz zu bauen. Ich empfand das vorgefundene Blockwerk als gar nicht so trivial und entscheide mich für eine Mischung aus Sanduhr und Friend. Die Herausforderung besteht lediglich daraus, den Standplatz so zu errichten, dass man sich zum Sichern nicht auf den Boden legen muss. Ein Problem, dass wir schon vom flachen Gipfel der Punta Caletta kennen.
Gipfel
In wohltuender Ruhe steigt Hannah nach und erreicht den Gipfel. Von den Sturmböen, die uns den Tag über geplagt haben fehlt jede Spur und so lässt es sich hier in absoluter Einsamkeit ganz gut verweilen.
Abseilen vom Gipfel
Relativ schnell ziehen uns Hunger und Müdigkeit aber doch wieder ins Tal. Der Gipfel wird nach Nordosten überschritten, dann folgt man nordseitig im leichten Gelände einigen Steinmännern bis diese auf ein nach Osten führendes Grasband führen. Am Ende des Bandes hängt ein überhängender Block über dem nicht nur gefühlt senkrechten Abbruch. Unter diesem überhängenden Block finden wir einen rostigen aber doch noch recht soliden Abseilstand und schmeißen die Seile in die gähnende Leere. Gegenüber gibt die Punta di l’Arjettu ein schönes aber unnahbares Bild ab. Ganz so bequem ist die Abseilstelle übrigens nicht zu erreichen. Um unter den Block zu gelangen müssen zwei Meter sehr luftig und mit reichlich Luft unter dem Hintern über halbwegs glatten Fels gequert werden. Hier wird bestimmt der eine oder andere auch nochmal für wenige Meter das Seil gezückt haben.
Hannah seilt sich ab und erreicht den Boden rund 45 Meter weiter unten am Fuße einer makellos senkrechten bis überhängenden Granitmauer.
Immer diese korsische Kletterliteratur mit all ihren Fehle…oh…
Steht da also wirklich man soll nur 20 Meter auf einen ersten, markanten Absatz abseilen um die Abstiegsrinne nach Süden zu erreichen. An dem Absatz sind wir vorbeigekommen. Wir stehen aber nun 30 Meter tiefer und haben gerade eben das Seil abgezogen. Warum einfach, wenn es kompliziert geht. Wir haben durchaus Bedenken, dass wir uns den eigentlich als schnell und unproblematisch angedachten Abstieg von der Punta di l’Acellu nun nochmal gehörig nachgewürzt haben. Beruhigend ist nur die Tatsache, dass es auch hier unten Steinmänner und Pfadspuren gibt. Wir sind (ganz bestimmt) nicht die Ersten, die hier zu weit abgeseilt haben. Die nach Osten absteigende Spur an Steinmännern hätte unsere Probleme zwar auch gelöst – für uns ist aber nicht ganz erkennbar ob und wie der kleine Sattel “Bocca di u Truvone” über diesen Weg erreichbar ist. Wir müssen da aber definitiv rüber und gen Süden vom Berg. Und sehnen uns daher nach einer etwas direkteren Lösung.
Abstieg über alternative Rinne (ca. III+)
Wie auch die Kalkberge der Heimat folgen die hiesigen Granitnadeln einer gewissen Logik und wiederkehrenden Mustern. An unserem Ausgangspunkt nach der langen Abseilfahrt setzt ein scharfer Grat an, der nach Osten wegzieht. Daneben erwarten wir, parallel zu der nur 20 Meter höher liegenden, tatsächlichen Abstiegsrinne eine Möglichkeit im Rahmen einer Seillänge den Boden zu erreichen. Den Zustieg im Hinterkopf behaltend, wissen wir ja bereits dass der Gipfel der Punta di l’Acellu nur knapp 100 Höhenmeter über den weitläufigen Grasbändern thront. Da wir vom Gipfel nun bereits ein Stück abgestiegen und dann abgeseilt sind, muss das Gehgelände weniger als die uns verfügbaren 60 Meter unter uns liegen. Und damit über eine weitere Abseilfahrt, die im Granit oft auch ohne gebohrtem Standplatz möglich ist, erreichbar sein.
Ich steige durch einen kleinen Durchschlupf und folge einer breiten, blockigen Rippe nach Süden. An ihrem Ende finde ich eine marode Schlinge – hier war also auch schon einmal jemand. Richtig “gut” sieht diese Lösung aber noch nicht aus, die Rippe endet und fällt erneut absolut senkrecht auf den schon sichtbaren Abstiegsweg ab. Während ich hier unten Pfadfinder spiele, hat Hannah unser Problem ein paar Meter höher bereits gelöst. Auf einem schmalen Band ist sie in die neben uns verlaufende Rinne gequert. Tatsächlich – gangbares Gelände. Ich folge ihr und überwinde die kleine, reibungslastige und dank nassem Gras etwas unangenehme Crux dieses Abstiegsweges. Eine III+ im Abstieg wird das auf wenigen Metern schon sein. Wir fühlen uns hier aber ziemlich sicher – zumal anders als bei der Querung zum offiziellen Abseilstand kein gähnender Abgrund unter uns lauert. Die Kletterei entlässt uns in den düsteren Grund eines eng eingeschnittenen Gullys, welchem wir über zwei kurze Stufen im 2. Grad und ein paar Metern in steilen Schrofen hinaus in die grünen Wiesen folgen. Viel einfacher als erwartet spuckt uns unser Impro-Theater-Abstieg ohne Abseilfahrt in der Picknickwiese am Fuße des Berges aus. Unser Fehler wurde uns verziehen.
Dann geht es auf subtilen Pfadspuren zurück zum Sattel und dort auf dem GR20 zwischen den hübschen Tafoni-Türmchen zurück in Richtung Col de Bavella und Bialetti. Dabei schweift der Blick nochmal über die umliegenden Wände in der fahlen Nachmittagssonne. Ein wildes Tal. Anders, als ich es mir bei der Planung der Reise vorgestellt hatte. Gegenüber die Punta Caletta, unsere Einstiegsdroge. Links daneben, kaum von den sie überragenden Mauern abzugrenzen die zerrissene Wand der Punta di u Peru. Und auf unserer Seite des Tals – kaum zu übersehen – der Elefantenrücken. Eine legendäre, plattige Granittour, die uns ständig beschäftigt und angezogen hat – für die uns aber schlicht Kraft, Nerven und Mut gefehlt haben.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Ein fantastischer, ausdauernder Granitgrat, in dem nur ganz wenige Seillängen das Prädikat “saugeil” nicht verdienen würden. Ein gewisser Anspruch an die Wegfindung und mobile Absicherung wird zwar gestellt – für mein Empfinden aber nahezu immer in einem komfortablen Rahmen. Die Kletterei ist sehr vielseitig und beherbergt spannende Momente in Kaminen, auf Platten und an steilen Tafonis. Der Arête de Zonza ist dabei über lange Abschnitte wenig bis kaum exponiert und klettert sich vielerorts eher wie eine komplexe Wand als wie eine luftige Gratschneide. Die relativ zahlreichen Möglichkeiten die Tour abzukürzen oder abzubrechen nehmen dem Vorhaben definitiv seinen Ernst, die Kletterei kam mir passend bewertet und selten anhaltend vor. Objektive Gefahren sind mir abseits von der Exposition bei Unwettern auch nicht aufgefallen.
Die Absicherung findet an wenigen Bohrhaken (in den schweren Längen max. 1-2 Stück) und vorhandenen Schlingen unterschiedlicher Qualität statt. Dazwischen lassen sich im Tafoni-Gelände exzellente Sanduhren bauen und in den plattigeren Seillängen bekommt man auch einige Friends gewinnbringend unter. Die Stände sind oft an Köpfln selbst einzurichten – an wenigen Stellen findet man aber auch eine Kombination aus Sanduhr + Haken oder verstärkbare Bohrhaken vor.
Es lohnt also ein paar größere Schlingen (> 175cm) einzupacken und auch sonst für viele Sanduhren gewappnet zu sein. Bei Friends halte ich ein dünnes Sortiment zwischen BD #0.5 und #2 für ausreichend, wenn man die Schwierigkeiten sicher klettert wird man pro (schwerer) Seillänge selten mehr als 1-2 Placements finden und verwenden wollen. Die Seillänge muss die 20 Meter Abseilfahrt hergeben. Mit 60 Meter Halbseilen hatten wir reichlich Puffer und auch die Möglichkeit einige Seillängen recht großzügig auszulaufen – etwa um einen noch besseren Standplatz zu erreichen. Auch mit kürzeren Seilen kommt man hier gut voran – Möglichkeiten für Zwischenstände gibt es genug. Ob diese dann immer so bequem sind, ist eine andere Frage.
Zusammenfassung
Genuss-Grateln im Tafoni-Wunderland. Und nachdem der benachbarte Arête de Quenza noch schöner sein soll, wandert dieser definitiv auf den Wunschzettel für’s Christkind.