Kletterblog & Berggeschichten
Alpenüberquerung L1 – Etappe 10: Vom Rifugio Bella Vista nach Kurzras (T1)
Alpenüberquerung L1 – Etappe 10: Vom Rifugio Bella Vista nach Kurzras (T1)

Alpenüberquerung L1 – Etappe 10: Vom Rifugio Bella Vista nach Kurzras (T1)

5 km

0 hm

800 hm

1.5 h

T1

Irgendwas, das bleibt

Rifugio Bella Vista – Schöne Aussicht

So richtig viel gibt es nicht mehr zu sagen. Außer, dass ich den Aufhalt auf der schönen Aussicht – der teuersten und vielleicht auch in Summe schönsten Hütte der Alpenüberquerung – nicht mehr wirklich genießen kann. „Schön“ bezieht sich übrigens auf die inneren Werte. Ihre Lage im Skigebiet und zwischen den dazugehörigen Skiliften und Baustellen macht eher wenig her.

Am Abend und in der Nacht bekomme ich Fieber und beschließe innerlich, dass ich nicht nur viele schöne Eindrücke vom Berg, sondern auch Corona eingesammelt habe. Mangels Tests gibt es die Gewissheit erst am Folgetag, aber die Nacht zwischen Fieberträumen, Schüttelfrost und ernsthaften Schwierigkeiten die Treppe in der Hütte zu erklimmen schindet Eindruck. Zumindest bei mir.

Meine Eltern stehen in der Nacht auf und nehmen noch einen Sonnenaufgang auf der Punta della Vedretta (3269m) mit. „Im hinteren Eis“ – und der Name ist Programm. Denn vom wenig markanten Gipfel erhält man einen genialen Blick auf die lange, gewundene Gletscherzunge des Hintereisferners und die gegenüberliegende Weißkugel, die mit ihren stolzen 3738 Metern die dritthöchste Erhebung Österreichs ist. So gerne ich auch mitgekommen wäre – es ist offensichtlich, dass ich absolut nichts mehr in den Bergen verloren habe. Tami geht es ähnlich, wenn auch noch ein Stück besser als mir.

Abstieg nach Kurzras

Auf der Schmugglerabfahrt geht es nach dem sehr feinen Frühstück hinab nach Kurzras. Das einzige, was wir heute schmuggeln, ist ein Haufen Viren. Die rund 800 Höhenmeter Abstieg folgen einer steilen Schotterstraße, die im Winter bestimmt eine prächtige Talabfahrt abgeben. Im Sommer gibt es hier nur Staub, Fels und Knieschmerzen. Als wir im Skiort ankommen sind wir einigermaßen froh, dass wir uns dafür entschieden haben, ab hier Bus zu fahren. Die 2-3 Etappen aus dem langen Tal hinaus hätten wenig Neues zu bieten gehabt – in ihrer Dimension aber die wunderschönen Momente aus dem Gebirge überschattet.

Mit dem Bus geht es nach Meran, dort ins AirBnB, welches wir am Folgetag nach einem positiven Corona-Test verfrüht verlassen werden um nach Hause und ins Bett zu kommen. Meine Eltern – noch gesund – haben in einem spontanen Kraftakt noch am Abstiegstag eine kleine Odyssee mit öffentlichen Verkehrsmitteln hingelegt um Tami und mich am Folgetag in Meran einzusammeln und auf weniger kriminellen Wegen (also nicht im Zug) nach Garmisch zu schaffen. Wir sind unendlich dankbar dafür. Auf den letzten Metern rächt sich die minutiöse Planung unserer Tour – 3 Tage Entspannung im AirBnB in Meran und die gebuchte Rückfahrt mit der Bahn verfallen. So richtig schlimm ist das aber auch nicht mehr.

In den kommenden Tagen machen wir allesamt einmal Corona durch und sind froh, nicht mehr zwischen Tür und Angel zu sein. Und schon gar nicht in den Bergen.

Endstation: Covid19

Klar ist Covid19 nicht lustig – davon hätte man mich im Fiebertraum in der Schönen Aussicht auch nie überzeugen können. Aber es passt doch in ein Muster, dass uns den ganzen Weg lang verfolgt hat, dass wir exakt am letzten „ernsthaften“ Tag Corona abbekommen. Und auf eine Art ist das durchaus lustig. Der L1 stand für uns wohl unter den besten Sternen und sollte scheinbar genau so stattfinden. Wir sind von einer Glückssträhne begleitet worden, die ich mir nie hätte erträumen können. Ich war mit wirklich nicht sicher, ob wir mit einem so „starren“ Plan durchkommen. Ohne Ausweichmöglichkeiten, ohne Alternativen oder Strategie, falls eine Etappe nicht möglich ist und wir aus dem Zeitplan fallen.

Und dann das.

Eine perfekte Zugspitzüberschreitung, die für manche für sich schon ein Lebensziel darstellen wird. Zwei eher mystische Regentage an exakt den Etappen, die schlechtes Wetter vertragen. Irre Stimmungen und Eindrücke in den Stubaier Alpen und eine Kaltfront mit sommerlichen Neuschnee der genau so sanft ausfällt, dass er uns den Weg nicht versperrt oder erschwert und uns für einen Tag in eine bizarre und hochalpin anmutende Welt entführt. Traumwetter in den Ötztaler Alpen und trotz (zu dem Zeitpunkt unbekannter) Corona-Infektion gerade noch genug Kraft, um die letzte Etappe gut zu überstehen. Und am Ende – milde Verläufe für alle Beteiligten ohne Langzeitfolgen

Langzeitfolgen

Es bleibt ein wilder Ritt mit Höhen und Tiefen. Ich denke, das jeder von uns eine Menge aus der Zeit in den Bergen mitnehmen konnte und mangels Einblick in den Rest der Bande, kann ich hier nur meinen Teil zum Besten geben.

Erwartungen sind ein gefährliches Gut. Es wird nie so kommen, wie man es sich vorstellt. Ich habe keine Ahnung, ob das die Alpenüberquerung war, die sich meine Mutter immer gewünscht hat. Ob es die Alpenüberquerung war, die ich mir in vielen bergigen Details zurechtgesponnen habe. Ob es überhaupt eine Alpenüberquerung war. Aber – es war unsere gemeinsame und eindrückliche Zeit auf den Beinen. In bekannten und neuen Ecken und Herausforderungen, die nicht planbar sind. Ich habe gelernt, mich mehr auf den Moment einzulassen und weniger im Geiste vorwegzunehmen. Mehr in den Fluss der Dinge zu vertrauen.

Perfektion liegt stets in Imperfektion. Am Ende waren die „perfekten“ Momente der Alpenüberquerung nicht die, von denen man es erwartet hätte. Perfekt war das Timing der Corona-Infektion, die Schneemenge am Atterkarjöchl, die Lage der Schlechtwetterfront. In Summe haben mich diese Punkte mehr beeindruckt als ein Sonnenaufgang auf der Zugspitze oder eine Premium-Kaspressknödel auf der Tillfussalm.

Verantwortung kann man auch aufteilen und ich habe gelernt, das öfter zuzulassen oder bewusst einzufädeln. Ich habe in der Tour versucht an allen Fäden gleichzeitig zu ziehen und für jeden von uns vier für jeden erdenkbaren Moment ein Antwort parat zu haben. Teilweise – und vor allem zum Beginn der Tour – habe ich mir und den anderen damit keinen Gefallen getan und mich einem enormen Stress ausgesetzt. Dabei bin ich in Bereiche vorgedrungen, in denen ich wenig verloren habe und hätte viel mehr auf das Urteil meiner Mitmenschen vertrauen sollen. Dieser Teil tut mir rückblickend am meisten Leid – denn obwohl ich am schnellsten und agilsten im Plan und Gelände bin – steht es mir nicht zu jemandem die Mündigkeit abzuerkennen. Am Ende gehen wir alle die selbe Tour, jeder auf seine Art und doch gemeinsam als Gruppe und Familie. Und in keinem Szenario wäre es anders gekommen.

Letzte Worte

Ich würde es wieder so machen. Rückblickend war die Tour ein unfassbar facettenreiches Abenteuer, das bleibt. Wie und was bleibt, weiß man vorher nicht. Aber es bleibt etwas. Der Umfang dessen, was sich zwischen uns und um uns abgespielt hat ist schwer zu überblicken und die Erfahrungen und Eindrücke der 10 Etappen könnten ein ganzes Jahr füllen. Vor allem bin ich stolz. Stolz darauf, die doch nicht ganz triviale Logistik mit einer ziemlichen Leichtigkeit gestemmt und entworfen zu haben. Stolz auf uns alle, für die nicht selbstverständliche körperliche, soziale und mentale Leistung. Jeder wird in jeder Kategorie mindestens einmal über seine Grenzen und außerhalb seiner Komfortzone gewandert sein.

Obwohl ich mehr auf Tagestouren, scharfes Bergsteigen und lässige Klettertouren stehe, durfte ich die Magie längerer Mehrtagestouren kennenlernen und würde jeden ermutigen mal in diese Welt zu schnuppern. Eine (verkürzte) Alpenüberquerung auf dem L1, ist dabei bestimmt nur die Einstiegsdroge in diese Welt.

Vor allem aber möchte ich ermutigen es selbst zu wagen und nicht den Weg des geringsten Widerstandes zu wählen. Pauschalreisen und betreutes Wandern mit Gepäcktransport können nicht die Lösung sein und fühlen sich für mich nach der Kommerzialisierung einer eigentlich sehr simplen und freien Tätigkeit an. Die Größe einer solchen Tour kommt nicht aus der Landschaft, dem Weg und der Strecke. Der Begriff „Alpenüberquerung“ selbst sagt noch nichts über die Erfahrungen und das Erlebnis aus. Die Magie – so meine Meinung – besteht aus der Eigenverantwortung eine große Aufgabe in kleine, lösbare Probleme zu zerteilen. Wie diese Probleme gelöst werden sei jedem selbst überlassen. Auch wie lang die Etappen werden, wie luxuriös die Unterkünfte sind und welchen Weg man einschlägt. Aber gibt man diese Aufgabe ab, verpasst man die Chance, eine Menge zu lernen.

Der L1 war für uns eine toller, roter Faden an den wir unseren eigenen Pfad angelehnt haben. Meine nächste Tour in diesem Stil würde ich komplett von freier Hand planen. Ideen gibt es genug und der Reiz einer Wiederholung eines „großen Namens“ erschließt sich mir nicht ganz. Das Erlebnis liegt nicht im L1, E5 oder Traumpfad München – Venedig. Sondern darin, was man aus seiner Zeit in den Bergen macht.

Das Beste


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