19.5 km
1380 hm
1270 hm
7.5 h
T3
Da das Wetter gegen Mittag etwas kippen soll und für die Folgenacht eine kurze Kaltfront gemeldet ist, starten wir sehr früh in die lange Etappe. In der Hoffnung, das Zwieselbachjoch auf 2868 Metern früh überquert zu haben – danach ist schlechtes Wetter egal. Gut davor eigentlich auch schon. Denn anspruchsvolles Gelände findet sich in dieser Etappe nicht. Dafür irrsinnige Landschaften – und die möchte man natürlich ohne oder nur mit wohldosierten Wolken sehen.
Wir schlüpfen aus der sonst noch komplett verschlafenen Hütte und machen uns auf den Weg das lange, flache Zwieselbachtal entlang. Leicht ansteigend und vom Rauschen des namensgebenden Zwieselbaches begleitet wandern wir durch die in Dämmerlicht getauchte Bergkulisse. Nach 20 Minuten leisten wir uns den ersten (kleinen) Verhauer und verlieren in der Dunkelheit den kleinen Pfad in einer matschigen Weide. Dadurch geraten wir etwas zu hoch auf der linken Talseite über ein Latschendickicht. Ich werde argwöhnisch. Eigentlich hätten wir den Bach queren müssen. Aktuell laufen wir eher von ihm weg. Als ich das feststelle sind wir bereits über 500 Meter von der letzten Markierung entfernt und wir entscheiden uns für eine fragwürdige aber lustige Lösung.
Für einen heiteren Moment dachte ich, man könne durch den Latschengürtel queren ohne überhaupt mal mit diesem in Kontakt zu kommen. Eine Spur kleiner Lichtungen scheint elegant und schnell zurück zum Talboden zu führen, wo wir den Weg vermuten. Naja. Wenige Minuten später stehen wir mitten im nassen Gestrüpp und es bleibt ohnehin nur die Flucht nach vorne. Was wäre eine Alpenüberquerung ohne Latschenkampf – muss man einfach mal gemacht haben.
Als wir den kleinen, deutlichen Pfad wieder gefunden haben fragen wir uns durchaus, wie wir diesen überhaupt verloren haben. Es geht weiterhin flach aber weitläufig in das immer schöner werdende Tal. Die kalte Luft und wechselhafte, dünne Bewölkung verleihen dem Morgen ein spannendes Ambiente. Einige Sonnenstrahlen bahnen sich doch den Weg durch die vielschichtigen Wolken und treffen auf die Wände neben uns. Immer wieder steilt der Pfad in kleinen Stufen auf, zum Beispiel neben hübschen kleinen Wasserfällen, in Summe geht es sich hier aber wirklich sehr genüsslich und gleichmäßig.
Es ist für mich aber auch der erste Tag, an dem ich nicht komplett fit bin und es etwas schwerer fällt sich zu motivieren. Das mag an den nun 6 Tagen auf den Beinen liegen, bei denen dank unserer Variante gestern dann doch keiner so richtig “kurz” war. Vielleicht ist es aber auch nur der frühe Start und das gleichförmige Tal. Denn all das ist schnell vergessen, als wir die ersten Sonnenstrahlen erwischen und sich das Gelände schlagartig ändert.
Im Angesicht der traurigen Reste des Zwieselbachferners – eigentlich nur noch ein kleines Toteisfeld – gehen die blühenden Wiesen in ein trostloses, dunkles Schottermeer über. Die Sonnenstrahlen rutschen durch die Wolken und in bizarren Lichtbahnen in die Hochebene. Immer wieder rumpelt es und kleine Steinschläge gehen an den gegenüberliegenden 3000ern oder über den Gletscherresten ab. Es fühlt sich richtig nach Hochgebirge an.
Nach dem langen Hatscher und nie wirklich steilen aber konstant ansteigenden Aufstieg kommt endlich das (Zwischen-)Ziel in Sicht und beim Erreichen des höchsten Punktes klappt mir erstmal die Kinnlade runter.
In der leichten Bewölkung öffnet sich eine irrsinnig schöne, weite und wilde Berglandschaft. Pechschwarze Giganten die von surrealen Gletschern durchzogen wird. Klar ich bin irgendwie, irgendwo schonmal einem Gletscher begegnet aber nicht so – nicht in freier Wildbahn. Aus München kommend, bestanden die österreichischen Alpen für mich lange Zeit aus Skifahren am Kaiser. Eine Beleidigung für all das wilde Zeug, das hier noch rumsteht. Also nichts gegen den Kaiser – ist ja schließlich per Definition auch wild – aber für die vergletscherten 3000er am Alpenhauptkamm ist er wohl keine gute Referenz. In der Ferne thronen die vergletscherten Ötztaler-Alpen, die Wildspitze gibt ein besonders schönes Bild ab. Geiler Scheiß. Da geht es noch hin und durch und drüber und so.
Immer wieder kriechen Wolken aus den umliegenden Hochtälern hervor oder steigen über die Grate und Gipfel auf. Und es herrscht erneut eine ganz akute Menschenleere, die uns auch noch einige Stunden begleiten wird. Wir machen eine kurze Rast, essen eine Kleinigkeit und steigen ab in Richtung Winnebachsee. Die Landschaft geht ganz langsam wieder von schwarz-rotem Geröll in grüne, moosige Ebenen über. Die großen Gletscher verschwinden wieder ein wenig, dafür wirken die umliegenden Berge rasch wieder größer und eindrucksvoller. Der Himmel zieht langsam zu und als wir den Winnebachsee – eher eine Pfütze im Mündungsgebiet mehrerer Täler – erreichen, ziert eine graue Wolkendecke die karge Landschaft.
Die Hütte lassen wir links liegen und steigen weiter ab. Gewiss könnte man auf die Idee kommen, hier ein Etappenziel einzurichten, schön ist die Ecke allemal. Die Winnebachseehütte ist aber kein wirklich guter Ausgangspunkt für den Folgetag. Zumindest wenn man wie wir das Atterkarjöchl – die alpine Schlüsselstelle der Strecke bis Meran – auf dem Zettel stehen hat. Direkt hinter der Hütte fällt ein hübscher Wasserfall aus der Hochebene und bildet den Winnebach, dem wir auf markierten Wegen ins Tal folgen.
Es geht also weiter auf recht angenehmen Pfaden hinab in Richtung Gries, eine kleine Siedlung die wohl zu 99% aus Gasthäusern besteht. In dem verbleibenden 1% soll man wohl einkaufen können – wir haben uns das gespart. Stattdessen liegt hier wohl der einzige “unschöne” Gegenanstieg am Tagesende, den wir in der gesamten Alpenüberquerung in Kauf nehmen mussten. Ich bin froh, dass ich am Anfang der Tour einige ähnliche Anstiege ausgespart habe. Gute 500 Höhenmeter führen auf steiler Forstraße zur Amberger Hütte. Die Schilder aus der Schlange einer Achterbahn “heyhey, ab hier noch 40 Minuten” helfen dabei auch nur mäßig und die Landschaft ist auch nur bedingt anregend. Auf der anderen Seite ist es zwar zugezogen und abgekühlt aber bislang trocken geblieben.
Am Tagesziel holt uns eine kleine Krise ein, die sich über den Tag aufgestaut haben muss. In der relativ langen Etappe ist die Gruppe immer wieder zerfallen – ich hatte das aber auch nicht weiter hinterfragt. In der weiten Landschaft und auf den leichten Pfaden habe ich es genossen, mich etwas treiben zu lassen und ein für mich angenehmes Tempo einzuschlagen. Gerade bergab bin ich gerne zügig unterwegs – ein Stück weit dem Luxus geschuldet, dass meine Knie das (manchmal) aktuell (noch) zulassen. Tami hatte außerdem – aus Angst einer sich langsam anschleichenden Erkältung (Spoiler: Corona) auf Geschwindigkeit und ein regenfreies Durchkommen gehofft. Nachdem wir auch schon zwei etwas nassere und kältere Tage hatten, kann ich das auch verstehen. Papa dagegen, hat unser Vorpreschen und Weitergehen dagegen ziemlich gestresst – zumal hintenraus absehbar war, dass es nicht mehr regnen oder schneien würde und wir trotzdem stets auf Geschwindigkeit gedrängt haben. Wir haben uns also allesamt etwas auf dem falschen Fuss erwischt und zum ersten Mal scheppert es kurz richtig. Aber auch das gehört dazu. Und birgt die Möglichkeit für Verbesserung – denn der Folgetag wird zumindest in Sachen Gelände der anspruchsvollste sein. Und da haben wir besser neben den schweren Rucksäcken nicht noch Streit vom Vortag im Gepäck.
Eine in Summe lange und relativ zähe Etappe. Man muss hier aber etwas strategisch denken. Ich finde sie nur bis zur Winnebachseehütte zu kurz. Diese ist zwar toll gelegen und bietet bestimmt eine traumhafte Übernachtung in wildem Ambiente. Wirft aber ein Problem für den Folgetag auf. Geht man nur bis zur Amberger Hütte, hat man eine sehr unschöne und sehr kurze Zwischenetappe. Übergeht man die Amberger Hütte und versucht direkt nach Sölden durchzuziehen, so verschärft man sich den technisch schwierigsten und heikelsten Abschnitt der Tour enorm und hat einen Tag mit über 2500 Höhenmetern Abstieg in teils absolutem Absturzgelände. Auch nicht ideal – eine ganz schöne Hausnummer. Abgefedert wird die Ausdauer in dieser Etappe aber von durchweg sehr einfachen Wegen und Pfaden – im Notfall könnte man den Gegenanstieg von Gries zur Amberger Hütte auch via Hüttentaxi abkürzen. Das ist aber Sünde. Und Sünde macht man ja nicht. Zumindest heute noch nicht.
Strategische Punkte:
- Winnebachseehütte
- Gries – ggf. auch für einen Einkauf
Schlüsselstelle und Schwierigkeiten:
Das fieseste ist fast der Gegenanstieg zur Amberger Hütte auf steiler Forststraße – die Ecke zieht sich nochmal. Sonst eine recht lange aber leichte und eindrucksvolle Etappe durch einsame Hochtäler auf gut markierten Wanderwegen.
Theoretische Alternativen (Schwierigkeiten & Zeitbedarf beachten):
- Siehe Alternativen der vorherigen Etappe
- Ab der Winnebachseehütte kann, Gletscherausrüstung vorausgesetzt, mit Mehraufwand von 800hm eine Variante über den Bachfallferner und die Gaislehnscharte zur Amberger Hütte gemacht werden