Literatur: Panico Wetterstein Süd*
GuMo Ehrwald! Das herbstliche Schönwetterfenster will einfach nicht abreißen und zwischen Föhnsturm und spürbar kürzeren Tagen lassen sich noch ein paar richtig feine Abenteuer in den Bergen erleben. Uns zieht es dafür heute nochmal in die Mieminger Kette und den Nahbereich der Coburger Hütte.
Auf dem Wunschzettel steht die Route Drachentanz, welche 2014 von Christoph Hainz und Wolfgang Tschödrich erschlossen wurde und in je nach Zählart 23-25 teils langen Seillängen einem markanten Plattengrat am Vorderen Tajakopf folgt. Der besagte Grat verläuft dabei genau parallel zum beliebten Tajakante-Klettersteig, welcher aufgrund seiner Länge und hübschen Lage über den beiden tiefblauen Bergseen oft als schönster Klettersteig Tirols gehandelt wird. Anders als nebenan wird es bei uns aber deutlich ruhiger und einsamer zur Sache gehen. Nur fantastische Aussicht bleibt.

Mit knapp 850 Metern Kletterlänge und einer optionalen Crux im Schwierigkeitsgrad VII-/VII wäre der Drachentanz ein ganz schöner Brummer und würde sich fast schon als ausgewachsene Longline qualifizieren. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir schonmal dermaßen viele Seillängen hatten. Mildernd wirkt aber der Umstand, dass lange Strecken recht einfach sind, die Tour bei Bedarf an mehreren Stellen abgekürzt oder abgebrochen werden kann und die Absicherung mit Bohrhaken als ziemlich freundlich beschrieben werden darf. So bleibt immer noch ein langer und wunderschöner Tag in einer ausladenden Linie – die Wucht der gegenüberliegenden Wetterkante wird aber verfehlt. Und so schnaufen wir relativ entspannt in der ersten Morgenröte über den Hohen Gang in Richtung Seebensee.
Im oben erwähnten Panico-Kletterführer „Wetterstein Süd*“ hat sich übrigens in meiner Ausgabe (und vermutlich auch den anderen aktuell kursierenden Büchern) ein kleiner Fehler im Topo eingeschlichen in dem die Seillängen mit 4, 5, 6, 5, 6, 7, 8 gezählt werden. Das führt zu reichlich Verwirrung, was die einzelnen Seillängen angeht – zumindest wenn man dieses Detail beim Überfliegen übersieht.
Zustieg

Wir passieren die ruhige, spiegelglatte Wasserfläche des Seebensees während oben die ersten Sonnenstrahlen in die schroffen Kalkmauern fallen. Die Ruhe ist rasch gebrochen, als es daran geht sich auf einen geeigneten Weiterweg zu einigen. Just am Ende des Seebensees und vor dem Aufschwung zur Coburger Hütte gibt es vielfältige Möglichkeiten.
Meine Präferenz – bepackt mit einem schweren Rucksack und einer heute gar nicht so guten Kondition – wäre es einfach auf den breiten und erprobten Serpentinen zur Coburger Hütte zu bleiben. Von dort kann man dann in Richtung Tajakante traversieren und ein paar Meter vor dem Einstieg in den Klettersteig zu unserer Linie aufsteigen. Hannah lächelt eher die beschilderte Direttissima zur Tajakante an – welche aber zunächst eher über Geröll und unwegsameres Gelände führt. Zu groß ist der Umweg und die zusätzliche Strecke über die Coburger Hütte. Zwischen den beiden Varianten gibt es auch noch einen Pfad durch eine kleine Schlucht hinauf zum Drachensee – welchen wir im Abstieg testen werden. Aber dazu später mehr. Die Direttissima gewinnt und wir stapfen durch das grobe Geröll und den kurzen Latschengürtel hinauf in den Schrofenhang zwischen den beiden Kanten.
- Die breite Schrofenrinne im Zustieg – hier bereits weglos oberhalb des Pfades zum Klettersteig
- Blick vom Einstieg auf die Ehrwalder Sonnenspitze
- Rechts neben Hannah versinkt unser Grat im Boden – die Einstiegsverschneidung befindet sich auf der rechten Seite wenige Höhenmeter über dem tiefsten Punkt
Die Tajakante – bzw. ihr Klettersteig – setzt linkerhand an und ist bereits aus der Ferne gut zu erkennen. Unser Tagesziel – der Drachentanz – startet rechterhand ein gutes Stückchen höher und zieht als markante Rippe in die breite Schrofenrinne hinein, in welcher man beim Zustieg zum Klettersteig unweigerlich landet. Ihre teils kühnen Formen und faszinierenden Gesteinsschichten sind bereits aus der Ferne auszumachen.
Fairerweise ist die Orientierung, welche etwa von der Terasse der Coburger Hütte aus recht leicht fällt, hier aber wirklich ein wenig kniffliger. Deutliche Pfadspuren oder Steinmänner gibt es in der steilen Schrofenrinne nicht Es hilft, wenn man die Linie schonmal grob aus der Draufsicht visualisiert hat und dann vor Ort weiß wonach man sucht. Mehr nach Gefühl stoßen wir relativ rasch auf die Einstiegsverschneidung, die wohl eher ein finsterer Kamin ist. Im bereits hier unten heulenden Wind packen wir das Kletterzeug aus und uns ein.
Ganz schön zapfig, oder?
1. Seillänge (IV+)
Von der Sonne fehlt aktuell noch jede Spur und ob die dann gegen den Herbststurm ankommt ist anzuzweifeln. Wir begegnen der überlangen Tour mit einer Portion Respekt – und entscheiden uns vor allem wegen der Möglichkeit nach der 5. oder 7. Seillänge abzubrechen für den Einstieg.
Gemäß uralter Traditionen steigt Hannah in die erste Seillänge ein und wird mit kaltem Fels, tiefem Kamin und reichlich rustikaler, dreidimensionaler Kletterei begrüßt. Es manifestiert sich, wovor an anderer Stelle bereits gewarnt wurde. Die Erschließer des Drachentanzes sind sonst vor allem in den Dolomiten unterwegs und die Bewertung ihrer Routen im Kessel über Ehrwald soll sich ein wenig mehr nach den dortigen Regeln richten. Das heißt erfahrungsgemäß für die Praxis – und vor allem für die unteren Schwierigkeitsgrade: einen Grad drauf rechnen.

Zum Glück hat man sich bei der Absicherung nicht von den Dolomiten inspirieren lassen. Die Route ist perfekt und angemessen abgesichert. Mit frischen Haken in vernünftigen Abständen. Und so bleibt mehr Fokus für die bereits hier etwas eigenartige und fordernde Kletterei übrig. Hannah erreicht den 20 Meter höher liegenden Standplatz und holt mich durch das unübersichtliche und kalte Stückchen Fels nach.
2. Seillänge (VII-/VII)
Und so ist es heute an mir, die Schlüsselstelle der Route zu bezwingen. Diese klemmt nämlich direkt in der 2. Seillänge und sieht erstmal nach einer nett abgesicherten, schräg ansteigenden Querung aus. Dabei folgt sie einer vagen Rissspur im Fels, die dann aus der Nähe betrachtet aber nicht allzu griffig oder hilfreich ist.
Ich starte maximal motiviert vom Standplatz obgleich der Beginn der Querung noch ein paar nasse Flecken hat. Zwei Haken später gerät mein Auf- und Seitwärtstrieb bereits ins Stocken und kommt wenig später ganz zum Erliegen. Trotz der vielen Haken muss überraschend ordentlich geklettert werden und das in einem recht unbequemen und ungewohnten Stil. Der Fels ist ziemlich rau aber ich finde einfach keine wirklich guten Rastpositionen. Der Riss drängt einen stets ein bisschen aus der Wand und ist in meinem Fall auch einige Male erfolgreich damit. Griffe – falls vorhanden – sind winzige Löcher oder Leisten, die meist schräg stehen. Tritte – falls vorhanden – sind unbequeme und abschüssige Flächen in einer eigentlich sehr plattigen und strukturlosen Wand.
- Rückblick in die recht dreidimensionale, erste Seillänge
- An der schwierigsten Passage
- Der abdrängende Hangelquergang in der 2. Seillänge – kurz vor dem Standplatz
Die Schlüsselbewegung dürfte im Bereich der 4. Exe liegen und ist eine sehr seichte Rinne, die den Riss kurz unterbricht und an winzigen, würfeligen Zangengriffen einigermaßen gewaltsam nach rechts verlassen werden will. Nur Mut. In der Weiterführung des Risses gibt es einen halbwegs brauchbaren Henkel. Danach – im nun nur noch 6. Grad – tritt die erhoffte Entspannung nicht wirklich ein: Es bleibt abdrängend und unübersichtlich. Nur die Tritte werden größer – dafür muss hier aber auch zwingend geklettert werden und die Stelle ließe sich A0 nicht mehr gut bezwingen. Ich flüchte mich irgendwie zu dem unbequemen Standplatz am exponierten Eck und bin ziemlich stolz zwar einige Male im Seil gesessen zu sein aber mich für meine Verhältnisse doch recht innig und intensiv mit den 20 Metern Krampf auseinandergesetzt zu haben.
Hannah folgt und verbrät auch ihrerseits reichlich Nerven und Ressourcen. Für den Nachsteiger dürfte die Querung nicht wesentlich einfacher oder genüsslicher sein. Speziell im oberen Teil muss beherzt auf den nächsten Haken zu geklettert werden und beim ungemütlichen Aushängen wird man prompt mit dem nächsten Pendelsturz in die Platte konfrontiert.
Lange Rede, kurzer Sinn. Geile Seillänge! Aber gewöhnungsbedürftig. Ich persönlich empfand die Schwierigkeit hier recht passend und würde mich sogar so weit aus dem Fenster lehnen, dass sie in trockenen Verhältnissen und mit den heute gewonnenen Erkenntnissen wahrscheinlich auch fein Rotpunkt zu klettern sein müsste. Zumindest ist die maximale Schwierigkeit nur kurzweilig und eher seitwärts gerichtet. Ohne Plan sind es aber ein paar reichlich zornige Meter Fels.
3. + 4. Seillänge (zusammengelegt, IV+)
Hannah steigt tapfer in die nächsten zwei Seillängen ein, welche wir zu einer 40 Meter Länge vereinen wollen. Die Idee dahinter ist simpel. An einem bereits relativ kurzen Herbsttag und mit noch 95% der Kletterstrecke vor uns ist jeder eingesparte Standplatzbau und Führungswechsel Gold wert.
- Hannah in der Schlüsselseilänge (VII-/VII)
- Unter dem Dach geht es weiter durch scharfen, porigen Kalk (IV+)
Noch mächtig demoliert aus der vorherigen Seillänge geht es in die exponierte Raufasertapete rechterhand. Der kurze Abstieg unter das markante Dach ist dabei gar nicht so intuitiv und der erste Haken will erstmal erspäht werden. Ich hatte eigentlich direkt vor mir am Grat nach Haken gesucht. Auf rauem bis scharfem, porigen Fels geht es hinüber und durch ein steiles Wändchen empor in leichteres Gelände auf dem Grat. Wir folgen diesem bis zum Standplatz an einem Block vor einer breiten Wiese. Dem Beginn der 5. Seillänge.
5. Seillänge (I)
Ich stapfe in die Wiese, welche sich mit nasser Erde und profilbefreiten Kletterschuhen beinahe heikler anfühlt als jede Kalkplatte, die die Mieminger Kette hätte hervorbringen können. Ein richtungsweisender Haken an einem Block ist rasch gefunden – dann versteige ich mich indem ich zu direkt auf der Gratschneide bleibe und auf den Fels zuhalte. Um das zu vermeiden halte man sich nach dem Haken leicht – und dann rasch auch relativ hart nach rechts auf eine wenig offensichtliche Plattenzone rechts des Grates zu, an deren Fuße es auf wenigen Metern sowas wie eine Pfadspur und einen Standplatz gibt. Ich bin bereits ein paar Meter zu hoch und nicht allzu scharf darauf die rutschigen Schrofen wieder abzusteigen – erreiche durch eine „geschickte“ Querung aber einen Haken mitten in der 6. Seillänge. Nicht ideal.

Da das Gelände aber ohnehin sehr einfach ist, halten wir uns mit meiner nicht ganz lehrbuchkonformen Position nicht lange auf. Hannah hat rasch erkannt was Sache ist, zieht links an mir vorbei, bringt wieder ein paar Haken zwischen uns und errichtet den nächsten, regulären Standplatz.
6. Seillänge (IV)
Ich steige nach. Hübsche Platten, einfache Kletterei und tolle Henkel. Ein netter Seitenblick zum tiefblauen Drachensee inmitten goldgelber Gemüseflanken. Die ersten Sonnenstrahlen erreichen uns.
Schön hier.
Möchte man sich die Schlüsselseillänge im VII. Grad sparen, so kommt man mittels einer 35 Meter Seillänge im 2. Grad genau hier raus und beginnt seine etwas verkürzte Reise über den tanzenden Drachen.

Vielleicht muss ich noch erklären warum ab jetzt „die 5+ Längen“ ein Ding sind und als ganz wesentliche Eckpunkte der Tour verstanden werden dürfen. Fünf solcher Längen warten nun wie auf einer Perlenkette aufgereiht auf uns. Das ist bereits im Topo deutlich zu erkennen und keine wirkliche Überraschung oder Offenbarung.
Was aber ganz lustig ist, ist die Tatsache, dass diese fünf Seillängen sehr gleichmäßig über den langen Grat verteilt sind und jeweils von leichteren und viel leichteren Passagen unterbrochen werden. Das führt zu einem relativ interessanten Flow, in dem man einige einfache Längen möglichst schnell wegmarschiert um sich dann in Ruhe mit den jeweils markant schwierigeren „5+ Längen“ auseinander zu setzen. Und getreu der eingangs erläuterten, subtilen Abweichung von den ringsum üblichen Bewertungsverfahren, darf man sich hier auf fünf interessante Seillängen im (nach meiner Wahrnehmung) jeweils unteren bis oberen 6. Grad einstellen.
7. Seillänge (V+)
Ich starte also in die erste dieser Längen, welche sich nach unserem kollektiven Geschmack als die leichteste herausstellen wird. Im bombenfesten Fels wird ein kleines, steiles und glattes Wändchen angeklettert und mit Hilfe der rechten Kante auf einem etwas technischeren Meter wieder verlassen.
Wenn die alle so sind – geil!
- Greller, weißer und plattiger Kalk
- Die erste V+ Passage an einem kurzen, glatten Aufschwung
- Wasserrillen & bombenfester Fels in der 6. Seillänge
8. + 9. Seillänge (zusammengelegt, IV+)
Wir entscheiden uns ein bisschen mehr Gas zu geben und es der uns ein- und überholenden Seilschaft gleich zu tun, die bereits in der großen Wiese den Turbo gezündet hat und nun am laufenden Seil über den Grat pflügt. Tatsächlich bietet sich das Gelände dafür ziemlich gut an, wenn man den richtigen Rhythmus erwischt und beim jeweiligen Umbau auf einen vernünftigen Vorstieg nicht zu viel Zeit liegen lässt.
Hannah geht den langen, traumhaft festen Plattenpfeiler an, während der Wind immer heftiger über den exponierten Grat rauscht. So macht das Spaß. Flowiges Gelände und griffigster Kalk – wie man ihn in den Mieminger selten erwartet und dann doch überraschend häufig antrifft. An einem improvisierten Zwischenstand am Fuße des nächsten markanten Aufschwungs haben wir 1 1/2 Seillängen zusammengelegt und stehen bereits am Fuße der nächsten 5+ Länge.
- Zwischenstand
- Hannah geht den 50-Meter-Plattenpfeiler an
- Rückblick zu Seebensee und Sonnenspitze
10. Seillänge (IV+)
Da wir hier nochmal auf die Innsbrucker Seilschaft auflaufen, die sich eben an die Spitze gesetzt hat, klettere ich die 10. Seillänge beinahe wie vorgesehen und nur um einige Meter in leichten Schrofen beraubt. Ihr Herzstück ist eine kurze, sehr steile und erneut dreidimensionale Verschneidung, welche sich aber trotz Rucksack und mit etwas Achtsamkeit rasch überwinden lässt und uns auf dem gemütlichen Standplatz links des Grates ausspuckt.

3…2…1…
11. + 12. + 13. + 14. Seillänge (laufendes Seil, V+)
Wir haben kurz gewartet bis die Seilschaft vor uns aus der markanten 11. Seillänge raus ist. Dann steigt Hannah wieder ein. Die schiefe Rampe ist ganz im Sinne der 2. Seillänge ein eigenartiges Stückchen Fels und nach unserem Geschmack die schwierigste der „5+ Seillängen“. Auf einer homogen abdrängenden und rutschigen Rampe geht es teils kletternd, teils robbend, teils kriechend, teils weinend über den makellosen Kalk. Nicht immer ist klar, welches Körperteil einen aktuell auf Kurs hält. Aber solange sich irgendwas oder irgendwer angesprochen fühlt, geht es ganz sorglos empor.
Die Hakenabstände sind in Ordnung aber keinesfalls übertrieben und das Ein- und Aushängen stellt je nach aktueller Körperposition die größte Herausforderung dar. Nach einigen mühsamen Metern verschwindet Hannah ums Eck und ich folge ihr am verkürzten Seil durch die unangenehme Crux.

Nun zünden auch wir den Turbo und legen die folgenden 3 Seillängen bzw. 120 Klettermeter simultan zurück. In herrlicher Kulisse geht es über Stock und Stein. Vor allem aber über kurze, grasige und rutschige Aufschwünge und wilde, exponierte Gratzacken aus überwiegend festem Fels.
- Was für ein grandioser Grat
- Herbstklettern aus dem Märchenbuch
Die Kletterei bleibt im absoluten Wohlfühlbereich und ist für das leichte Gelände immer noch bestens abgesichert – die Abstände sind hier aber natürlich deutlich weiter gewählt. Wenn der Wind mal kurz Pause hat, schallt das monotone Knirschen der Klettersteigsets von der Tajakante zu uns rüber. Dazwischen kommt aber sowas wie Einsamkeit auf – die wahnsinnige Landschaft und groteske Gratrippe tun ihr Übriges.
Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der Drachentanz einer der ganz großen und ganz besonderen Bergmomente der Klettersaison 2024 sein wird. Das mag auch daran liegen, dass wir hier viele Fertigkeiten aus den letzten Bergsommern recht gewinnbringend anwenden können. Der rasche Wechsel zwischen simultaner Kletterei und sauber gesicherten Vorstiegen in den schweren Metern lässt uns reichlich Meter machen und für eine Weile in einen wundervollen Flow eintauchen.

15. Seillänge (V+)
Da Hannah die vorherige Kriech-und-Gruselrampe überwunden hat und nun einen überlangen Vorstieg hinter sich hat übernehme ich am Fuße der Piazverschneidung die Führung. Sie ist die dritte von den fünf schwierigen Einzelstellen auf dem langen Grat und versperrt steil und glatt den Weiterweg.
Über feine Platten wird der Beginn der Verschneidung erreicht. Sie misst höchsten 3-4 Meter. Dann lösen scharfe Fingerlöcher auf der rechten Seite die eigentliche Verschneidung überraschend gut auf während nett platzierte Haken für das seelische Wohl sorgen. Ordentlich reinspreizen sollte man sich aber trotzdem und der Ausstieg ist nicht ganz so henklig, wie ich es mir erhofft hatte. Und überhaupt – wo soll man dort piazen?
In Arco wäre das eine solide 6er-Länge und ich brauche einen Moment, bis ich aus den vielen kleinen Löchern und Rissen schlau geworden bin.
- Am Fuße der 15. Seillänge
- In der Piazverschneidung
- Fancy Fels
Ich erreiche den Grat und beziehe den vorgesehenen Standplatz am Ende der Piazverschneidung, da ich bereits ein wenig Seilreibung habe. Der Weiterweg ist diesmal auch gar nicht so einfach und weitläufig – ein paar Meter weiter türmt sich bereits der nächste kühne Zapfen auf.

16. Seillänge (III)
Hannah bringt uns auf die halbe Höhe des folgenden Türmchens, welches offenbar erneut über eine seitwärts ansteigende Rampe gelöst werden soll. Für den III. Grad ist der plattige Aufrichter unter dem Standplatz gar nicht so ohne – in einer Linie dieses Umfangs sind solche Details aber auch ziemlich unwichtig. Auf jeden Fall sind wir gerade ordentlich am Funktionieren und stellen mit Freude fest, dass der finale Gipfelaufbau des Vorderen Tajakopfs bereits in greifbarere Nähe gerückt ist.

17. Seillänge (V-)
Steil und griffig steige ich rechts vom Standplatz einige Meter an dem schroffen Türmchen empor und lande dann in der Rampe. Ein kurzer, kniffliger Meter lässt sich mit einer Hand am Dach gut überwinden und schon führt mich lohnende und spaßige Kletterei auf und über den Turm.
18. Seillänge (IV)
Hui ist das luftig

Ich seh nix. Also ich seh schon was – nämlich Hannah wie sie sich durch den plattigen und hübschen Gratverlauf arbeitet und dann abkletternd in einer kleinen Scharte verschwindet. Aber die eigentlich Schärfe und Ausgesetztheit offenbart sich mir erst, als ich selbst über Messer’s Schneide robbe. In leichter aber unglaublich luftiger und plattiger Kletterei geht es horizontal über die wilde Kante. Eine kurze Abkletterstelle mutet sehr kühn an löst sich dann aber brauchbar auf…

…und auch der folgende Aufschwung ist nicht mehr wirklich der Rede wert. Gegenüber thront bereits der üppige, formlose Gipfelblock, den wir gleich über ein wenig Gehgelände erreichen werden. Dort warten nochmal zwei Seillängen auf uns bis wir auf den Tajakante-Klettersteig treffen, der uns zum Gipfel führen wird. Was für eine Linie.
Was für ein Tag.

19. Seillänge (V+)
Bevor wir den Endspurt angehen können muss ich aber noch die vierte 5+ Länge klettern. Ein kühner, kleiner Zahn, welcher rechts über eine steile bis leicht überhängende Stufe erstiegen wird. Dabei ist er aber kurzweilig und vor allem unfassbar griffig. Keine schrägen Rampen und keine abdrängenden Platten mehr. Henkliger Genuss, welcher mit Griff an und um die linke Kante wahrscheinlich sogar noch weiter entschärft werden kann und sich sehr fein auflöst.

20. Seillänge (I)
Hannah schnappt sich das scharfe Ende des Seils und folgt dem hier wenig scharfen Grat einige Meter empor, bevor sie nach links in einer lange und einfache Querung an den Gipfelaufbau folgt. Falls man in Zeitnot gerät oder an einem Sommertag ein Gewitter im Nacken hat so kann man hier erstmals wieder aus der Route aussteigen – indem man über Schrofengelände geradewegs auf den Abstiegsweg vom Vorderen Tajakopf ausquert. Wir erreichen den Standplatz in einer kleinen Gufel. Die Seillänge ist mit 75 Metern so lang, dass sie idealerweise seilfrei oder am laufenden Seil angegangen wird – es gäbe aber auch die Möglichkeit eines Zwischenstandes. Die Absicherung ist für das einfache Gelände sehr gut – kein Haken hätte es hier oben auch getan. Stattdessen weisen ganze 5 Bohrhaken den Weg zum finalen Aufschwung.
21. Seillänge (V)
Die vorletzte richtige Seillänge ist dann nochmal schwieriger als sie aussieht und kommt tatsächlich auch überraschend brüchig daher. Ein Problem, dessen Existenz wir nach den vergangenen 800 Klettermeter in einwandfreiem Traumkalk beinahe vergessen hatten. Zunächst steige ich ein wenig eigenartig in die steile, plattige Wand ein und arbeite mich rechts eine vage Rinne mit unscheinbaren aber kniffligen Felsstufen empor. Auf den letzten Metern verengt sich die Rinne zu einem Kamin, der dann wirklich halbwegs brüchig ist und eher zaghaft geklettert werden will. Von den vielen verfügbaren Kanten und Leisten ist nur die Hälfte voll belastbar.
Vorteilhaft ist nur, dass der eventuell nicht immer vermeidbare Steinschlag für niemanden ein Problem darstellt. Die sichernde Person steht geschützt in der Gufel und ausgerissene Griffe verschwinden irgendwo in der Rinne zwischen Drachentanz und Tajakante. Ich erreiche ein luftiges Eck und den Standplatz und hole Hannah nach.
- Rückblick in die brüchige 21. Seillänge
- Hinten Links der bisherige Gratverlauf
22. Seillänge (V+)
Die letzte richtige Seillänge und die fünfte der bisher stets unterhaltsamen Längen im oberen 5. Grad. Und:
Die Schönste!
Soll ich euch von Hannah ausrichten. Recht hat sie.
Die anfängliche Schotterquerung rückt rasch in den Hintergrund sobald man sich dem steilen, plattigen und unfassbar rauen Schlusswändchen nähert. Völlig anderer Fels. Heute früh haben wir uns doch noch mit Wasserrillen und Platten herumgeschlagen. Hier fühlt man sich stattdessen den Dolomiten so nah wie nie zuvor. Ein wilder, kleiner Block auf einem Band wird erklettert und dann gilt es mit einem kräftigen Zug hinein in die griffige Wand. Als Hannah jauchzend aus meinem Sichtfeld verschwindet male ich mir bereits aus, dass es gar so schlimm nicht sein kann. Auch mit 22 Seillängen in den Knochen ist die Kletterei auf den allerletzten Metern eine wahre Wohltat. Perfekte, henklige Züge und bombenfester Fels. Mit ein paar athletischen Bewegungen verlasse ich das Wändchen, welches Hannah gerade souverän vorgestiegen ist und schließe zur ihr in leichteres Gelände auf.
- Die Definition von Griffigkeit
- Das steile Schlusswändchen löst sich viel genialer auf, als es der Blick nach oben vermuten lässt
- Rückblick auf den Drachentanz
Unter den Füßen zieht die wahnsinnige Kalkrippe zwischen den noch goldenen Bergwiesen hinab in den inzwischen schattigen Kessel um den Drachensee. Ein letzter Blick zurück.
23. Seillänge (I)
Dann passiere ich Hannah und überwinde die letzten, sehr einfachen Meter zum bereits sichtbaren Tajakante-Klettersteig, den wir im Bereich des höchsten Notabstiegs erreichen. Das heißt auch, dass der Gipfel optional ist. Erneut ließe sich relativ unkompliziert nach Osten zum Abstiegsweg queren.

Gipfelausstieg über Tajakante-Klettersteig (bis C)
Wir räumen die Seile weg und rupfen uns die letzten 50 Höhenmeter zum Gipfelkreuz, an dem wir von einer gerade absteigenden Gruppe von Klettersteigbegehern ein Käsebrot geschenkt bekommen. Nicht nur irgendein Käsebrot. Alles an ihm sei selbstgemacht. Das Brot, der Käse, die Butter. Merci dafür! So hungrig können wir nach einem dermaßen sättigenden Bergtag eigentlich gar nicht ausgesehen haben?
- Ein paar Höhenmeter und Klettersteig-Schwierigkeiten bis C trennen uns noch vom Gipfel
- Abweisende Griesspitzen
- DAS Käsebrot
- Blick zum Grünstein
Wir genießen für einen guten Moment die absolute Einsamkeit und den Blick auf die umliegenden Gipfel, an denen wir schon so manche Abenteuer haben erleben dürfen. Es kommen Erinnerungen hoch an unseren absurden Versuch nach Neuschnee in die Grünsteinscharte zu spuren. Und den unvergesslichen Sommerabend in der Sonnenzeit. Ich schiele auch einige Male zur Östlichen Marienbergspitze hinüber, deren Nordrinne mich im Frühjahr beschäftigt hat. Schön ist es. Es sind nicht nur stumme Giganten aus Kalk die wir überblicken. Es sind über Jahre und Lebensabschnitte verstreute Erinnerungen, Hochgefühle, Anstrengungen, Biwaknächte und Rückschläge und der heutige Tag wird sich in genau dieses Panorama eingliedern und für immer untrennbar mit uns und diesem kleinen Gebirgszug verbunden sein.
Abstieg
Damit es heute aber nicht zu einer der besagten Biwaknächte kommt, machen wir uns mit dem langsam schwindenden Licht dann doch auf den langen Weg zurück ins Tal. Gute 1400 Höhenmeter wollen noch abgestiegen werden und die Mühen des langen Tages entfalten inzwischen auch ihre Wirkung. Wir folgen konzentriert den wenigen aber recht steilen Serpentinen durch nicht überall guten Fels hinab ins Vordere Tajatörl.

Anschließend geht es in einer langen, schuttbedeckten Querung auf dem markierten Normalweg zurück in Richtung Drachensee und Coburger Hütte. Bis die sanften und gemütlicheren Böden oberhalb des Sees erreicht sind, dürfen noch einige Höhenmeter nerviger Schotter getreten werden. Umso feiner dann das Gefühl endlich wieder weiches Gras unter den Sohlen zu haben. Im Abendlicht leuchtet unsere gezackte Kante nochmal zu uns rüber und wir können viele der Kletterstellen und Aufschwünge aus der Ferne ausmachen. Faszinierend. Und direkt dahinter ragt die Tajakante empor, die wirklich auch keine schlechte Figur macht.
- Endlich fester (und weicher) Boden unter den Füßen
- Drachentanz und Tajakante
- Zugspitzmassiv mit Wetterkante
Vor der Coburger Hütte biegen wir nach rechts auf einen kleinen Pfad ab, der durch eine kleine Schlucht zum Seebensee führt. Der Weg ist zwar direkt und schnell. Wir stiften allerdings auch die Käsebrot-Spender, welche wir wieder eingeholt haben, zur Nachahmung an und haben das Gefühl, dass ihnen der Abstieg über die Hütte wahrscheinlich besser gefallen hätte.
Der Rest ist Autopilot. Seebensee, Hoher Gang, Zickzack. Smalltalk mit Bekannten, die heute auch hier unterwegs waren. Steiler Wald. Rauschender Basejumper. Feierabend.
Rauschender Basejumper???

Schwierigkeit, Versicherung und Material
Die Kletterei ist für den angegebenen Grad eher fordernd und liegt näher an den Dolomiten als den nördlichen Kalkalpen. Bei der guten Absicherung muss man sich zwar nicht groß sorgen und könnte das eine oder andere A0 lösen – das sollte aber nicht der alleinige Plan für die Tour sein. Was bleibt ist ein ungeheuer abwechslungsreicher Ritt über einen wilden Grat mit kurzen aber harten und teils exotischen Kletterpassagen.
Wer die reinen Kletterschwierigkeiten sucht wird hier nur wenige (dafür aber sehr interessante) Einzelstellen vorfinden. Es überwiegt das Gesamterlebnis in grandioser Landschaft & auf einer langen und logischen Linie. Voraussetzung dafür ist aber auch die Freude an „normalem“ alpinen Gelände, Schrofen und Steilgraspassagen – und vor allem der schnellen und effizienten Bewegung in diesem. Bei Nässe dürfte vor allem das Steilgras durchaus heikel werden – selbst bei unserer Begehung mit etwas Abstand zum letzten Niederschlag gab es einzelne Stellen in der die rutschigen Wiesengrate wesentlich vorsichtiger angegangen werden mussten als die eigentliche Kletterei.
In Sachen Material braucht es beinahe nur Expresschlingen (ca. 12, teils alpin) und Seil / PSA. Klemmzeug vermisst man so gut wie nie – anbringen lässt es sich auch nur selten. Ein paar Schlingen für Köpfl könnten noch interessant sein – notwendig sind sie aber auch nicht. Die Standplätze sind meist sogar mit Kette verbunden.
Zusammenfassung
Der Drachentanz ist wohl ein Paradebeispiel für eine moderne wie moderate Longline und fordert neben souveränen Kletterfähigkeiten im 6. Grad ein wenig Ausdauer und Strategie für ein schnelles Vorankommen. Gleichzeitig ist die Unternehmung mit mehreren Rückzugsmöglichkeiten und kaum objektiven Gefahren (z.B. Steinschlag) lange nicht so ernst wie es eine Route in diesem Format sein könnte. Das liegt auch an der konsequent guten Absicherung, den vielen, gemütlichen Seillängen und der auf dem Grat sehr simplen Wegfindung.