Ende August und eine Woche nach einem für uns etwas intensiveren Ausflug in die Dolomiten soll heute – wenn überhaupt – was gemütliches her. Keine gruselige Absicherung, keine strapazierten Nerven. Mir fällt ein mal im Kletterführer Wetterstein Süd* von Panico auf die talnahen und modernen Routen in den Seebenwänden gestoßen zu sein. Nebst anderen Wegen in dieser Wandflucht stammt auch die Tirol Plaisir aus der Genussmanufaktur von Pat Schwarzmann, dessen interessante und gut abgesicherte Routen ich bisher vor allem aus dem Tannheimer Tal kenne.
Als Seebenwände bezeichnet man die lange, rund 150-250 Meter hohe und nordseitig ausgerichtete Wandflucht, welche die Ehrwalder Alm vom höher liegenden Seebensee trennt. Mittig wird sie von einem imposanten Wasserfall geschnitten und hier zieht auch der Seeben-Klettersteig empor. Daneben haben sich inzwischen einige Kletterrouten etabliert – uns interessiert heute die einfachste und beliebteste von ihnen: Tirol Plaisir. Der Name dürfte Programm sein.
Der Zustieg ist identisch zu dem zum Seeben-Wasserfall und Seeben-Klettersteig.Im Zweifel folgt man einfach dem Wasserfall-Erlebnispfad, auf dem es zwar wenige Wasserfälle aber bestimmt irgendwo viel zu erleben gibt. Nur 200 Höhenmeter und 2 Kilometer sind es zum Wandfuß – beinahe arco’sche Verhältnisse. Nur der üppige Zugspitzstock im Nacken erinnert daran, dass wir in der Mieminger Kette sind. Kurz vor dem Klettersteig hält man sich rechterhand einige Höhenmeter im Schotter empor, passiert noch einen kleinen, botanischen Pfeiler in der Wand und erhält dann freie Sicht auf die Route, welche sich durch eine sehr kompakte und konkave Felszone schlängelt. Da bereits zwei Seilschaften in der Wand sind und üblicherweise abgeseilt wird liebäugeln wir kurz mit der direkten Nachbarroute, dem Prior Gedächtnisweg. Der ist aber nochmal schwieriger. Wir beobachten das Treiben in der Wand. Steine fliegen nicht und die Wand wirkt äußerst plattig – leer wird man sie wohl nur sehr selten erwischen.
1. Seillänge (V+)
Hannah geht wie so oft die erste Seillänge an und findet – anders als sonst – nicht allzu schnell in die Route und die Kletterei. Als ich nachsteige verstehe ich auch warum. Direkt zu Beginn ist ein etwas abdrängender und eigenartiger Wulst zu überklettern, welcher dann in eine recht formlose aber raue Platte leitet. Der vorgegebene Weg führt hier nunmal durch den kompaktesten Fels des sonst eher schrofigen Vorbaus. Erst später lese ich, dass man diese Seillänge auch rechts in einer einfachen Rinne umgehen kann und tatsächlich habe ich mich auch vor Ort bei dem Gedanken ertappt, ob es dort nicht viel intuitiver wäre.
Vorneweg – alle weiteren Seillängen werden uns begeistern. Nur diese erste Länge – der Einstieg in die Tour – tanzt ein klein wenig aus der Reihe. Davon sollte man sich also keinesfalls abschrecken lassen. Wir, die es an diesem Sommertag nicht besser wissen, machen aber genau das und stellen den heutigen Plan nochmal in Frage. Ob es hier wirklich so genüsslich wird, wie wir uns das erhofft haben? Ob man vielleicht auch einfach mal nicht klettern sollte – egal wie schön das Wetter ist? Ob uns die 6+ Seillängen ebenso hart erscheinen werden wie die eben erkloppte und nicht allzu begeisternde 5+?
2. Seillänge (VI-)
Ich entschließe mich, schon noch eine Seillänge vorsteigen zu wollen, was an den perfekten Standplätzen ja auch sehr unverbindlich getan werden darf:
Und kaum bin ich einige Züge in die 2. Seillänge gestiegen muss ich feststellen, dass das schon ziemlich Spaß macht hier. Der Fels ist rau bis scharf und unfassbar kompakt. Nennenswerte Begehungsspuren gibt es in der recht jungen Route noch keine. Auf einen steilen, griffigen und interessanten Aufschwung folgt eine leichte und flowige Plattenzone zum Standplatz unter der ersten schweren Seillänge. Ich hole Hannah nach, die wie ich mit jedem Klettermeter am feinen Kalk auftaut und sich dann ihrerseits für den Weiterweg in die 3. Seillänge entscheidet.
3. Seillänge (VI+)
Der Plaisir in Tirol zieht spürbar an – die Folgende ist eine von zwei sehr interessanten und konstanten Seillängen, die wohl das Herzstück der Route ausmachen. Direkt über dem Standplatz ist ein kniffliges, steiles Eck zu überwinden, welches dann in ultimativ griffige und raue Platten führt. Es sind nicht solche Platten, bei denen man sich ständig fürchten muss abzurutschen. Stattdessen hält beinahe jeder Tritt auf den kleinen, rauen Leisten und trotz der nun höheren Schwierigkeiten lassen sich brauchbare Griffe im Überfluss finden. Immer wieder gibt es gute Rastpositionen – die Seillänge ist Genuss pur. Die Schönste der Route.
Die letzten Meter dürften dann die erste Schlüsselstelle des Tages vorweisen. Die Platte mündet prompt in einen Piazriss, der einen gewissen Stilwechsel erfordert. Durchaus kräftig und luftig geht es an diesem empor – die größte Schwierigkeit ist dann aber das Verlassen des Risses nach links in kurz unübersichtliches und nicht allzu griffiges Gelände. Direkt danach ist ein gemütliches Band mit Standplatz erreicht. Im Zweifel ist man hier übrigens auch sehr gut vor Steinschlag geschützt. Den gibt es zwar aus den plattigen Seillängen nicht zu befürchten – falls aber gerade eine Seilschaft aussteigt, kann vom Absatz vor dem Fixseil einiges losgetreten werden.
4. Seillänge (VI+)
Ich gehe die nächste Seillänge an. Sie ist im Panico und im Topo des Erstbegehers ebenfalls als 6+ angegeben – die vorherige Länge ist aber stellenweise auch leichter vermerkt. Kleinigkeiten. Aber der Verdacht liegt nahe, dass die 4. Seillänge die schwierigste ist.
Vom Band weg darf direkt links ein unscheinbarer Aufschwung erstiegen werden. Sieht eigentlich optisch aus wie eine 4+. Vielleicht habe ich mich angestellt – vielleicht ist er aber auch gar nicht so einfach, wie er scheint. Sag du es mir. Dann schwenkt man auf jeden Fall ganz leicht zurück nach rechts und steigt über griffigen, rauen und steilen Fels auf einen plattigen Wulst zu. Hier benötige ich eine Pause – zumal ich viel zu weit rechts und viel zu hoch einsteige und es mir damit unnötig schwer mache. Stattdessen muss man vermutlich relativ früh und tief unter den Wulst und Bohrhaken queren – dann gehen sich bei genauerer Betrachtung auch ein paar brauchbare aber kleine Seitgriffe aus.
Die Stelle ist mit ihren 2-3 Metern relativ kurzweilig aber nicht ganz trivial – es muss wirklich einigermaßen anhaltend auf den kleinen und aufgerauten Tritten und winzigen Leisten geklettert werden, während der Wulst eher abdrängender Natur ist und an seinem Ende auch keinen rettenden Monsterhenkel bereithält.
Hat man den Wulst bezwungen so erreicht man eine kleine Plattenzone unter einem Dächlein. Der dortige Standplatz kann zwar verwendet werden – gehört aber eigentlich zum benachbarten Prior-Gedächtnisweg. Um seiner eigenen Linie treu zu bleiben geht es hier nochmal in einer griffige aber anstrengende Hangelpartie nach links, die sich dann langsam in einer gutmütigeren Rampe auflöst und einen etwas abseits platzierten Bohrhaken später zum Standplatz führt. Ich bin mit dieser Seillänge durchaus gefordert und an ihrem Ende reichlich erschöpft – ein paar beeindruckende Meter Fels.
5. Seillänge (VI)
Zum Glück geht es nun entspannter zur Sache – mit 25 Klettermetern ist die 5. Seillänge einigermaßen kurz und dabei auch dankbar einfach. Zumindest ist unsere geschlossene Meinung, dass die ansteigende Linksquerung überaus hübsch und überraschend kraftsparend funktioniert. Die Kletterei führt vor allem an Leisten entlang und dann zu einem vergleichsweise gutmütigen Riss, der wieder in flacheren Fels leitet.
6. Seillänge (V+/VI-)
Ich steige in die letzte Seillänge ein. Sie folgt einer offensichtlichen und auf sehr formschönen Verschneidung, die sich allerdings nur auf ihren ersten Metern als Verschneidung klettert. Danach geht es auf der rechten, flachen Seite an Leisten und Löchern in anhaltender, mäßiger Steigung empor. Da die Wand unterhalb aber steiler abbricht und man auch seinen Seilpartner rasch nicht mehr sieht kommt mir diese Länge ziemlich exponiert vor. Sie klettert sich aber gutmütig. Leichter als angegeben. Wenn man mich fragt. Tut zum Glück keiner. Und eigentlich hätten es für mich persönlich hier sogar auch 2-3 Bohrhaken weniger sein können – dem Bewegungsfluss und dem genüsslichen Fels angepasst.
Ausstieg aus der Wand
Von einem mit Geröll bedeckten Absatz kann nun entweder abgeseilt werden, was wohl das übliche Vorgehen ist. Da wir noch in den Seebensee springen wollen nutzen wir den Fixseilausstieg aus der Wand. Die Seile sind in gutem Zustand – die Kletterei ist aber kurz steil, luftig und etwas schmierig. Nur für’s Protokoll – wir sichern uns hier kurz mittels Prusik am Fixseil. Es sind nur wenige Meter aber das Gelände verzeiht keinen Fehler. Dann landet man auf der Wiese, in die auch der Seeben-Klettersteig mündet und damit im absoluten Gehgelände.
Und wenn wir heute in der Auseinandersetzung mit dem Fels und unseren Ängsten nicht schon genug gelernt haben: der Seebensee wird nicht warm. Auch nicht im Hochsommer. Wirklich nicht.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Ein wirklich tolles Halbtages- oder Feierabendprogramm über den Dächern von Ehrwald und alpine Sportkletterei par Excellence. Von 6 Seillängen sind 5 schön und mindestens 3 sehr schön. Der Fels ist noch herrlich rau und griffig und die Kletterei, was ein Blick in die Wand erstmal gar nicht vermuten lassen würde, ziemlich abwechslungsreich. Die Absicherung ist perfekt, die Standplätze zum Abseilen eingerichtet, der Zustieg kurzweilig, die Aussicht grandios. Was will man mehr?
Die Schwierigkeiten sind in Summe passend – im Detail finde ich aber, dass die Tour von unten nach oben spürbar einfacher wird. So kam zumindest mir die 1. und 2. Länge einigermaßen knackig vor – die Ausstiegslängen bei ähnlicher bis höherer Bewertung deutlich gemütlicher. Die Schlüsselstelle ist die 4. Seillänge und relativ anspruchsvoll – bei toller Absicherung aber gut machbar. Es genügen einige Expresschlingen – selbst Alpinexen braucht es in den kurzen und gut gelegten Längen nicht zwingend. Die Wand bleibt nach Regenfällen etwas länger nass.
Zusammenfassung
Großes Dankeschön an die Erschließer – für kompromisslos genüssliche und lohnende Kletterei vor der Haustür. Den Prior Gedächtnisweg möchte ich mir jetzt eigentlich auch noch anschauen – in der Hoffnung, dass er durch ähnlich begeisternden Fels führt.