Fast auf den Tag genau ein Jahr später stapfen wir von Plangeroß im Pitztal erneut in Richtung Kaunergrathütte. Der Rucksack ein bisschen schwerer, das Ziel ein bisschen größer. Aber mit Ben die gleiche Seilschaft, die sich schon bei der vergleichsweise gemütlichen Überschreitung der Parstleswand vor einem Jahr in die gegenüberliegende, pechschwarze Pyramide der Watzespitze verknallt hat.
Die Königin des Kaunergrates
Die Watzespitze ist mit ihren 3532 Metern selbst in den Ötztaler Alpen ein ziemlicher Brocken. Als höchster Gipfel des Kaunergrates kann sie es zwar nicht mit den Eisriesen im Bereich der Wildspitze aufnehmen – muss sie auch gar nicht. Ihre prominente und isolierte Lage macht sie in meinen naiven Augen zu einem wesentlich interessanteren Ziel. Ihre gewaltigen, düsteren Grate und der markante Hängegletscher als früherer Normalweg geben dem Berg die Aura eines Westalpengipfels.
Das spiegelt sich auch in den Schwierigkeiten wieder. Der aktuell übliche und leichteste Anstieg führt über den Ostgrat und wird nach der Hochtourenskala als AD+ geführt. Der Eisweg wäre bei passenden Bedingungen und entsprechender Ausrüstung bestimmt etwas leichter und schneller – die Zeitfenster für eine objektiv sichere Begehung sind aber verschwindend klein geworden, sodass inzwischen fast überall von dieser Variante abgeraten wird.
Uns zieht es auf den Nordpfeiler. Das ist die rechte, dunkle Kante im Eingangsbild, die rund 500 Höhenmeter überwindet und dabei Schwierigkeiten bis V- aufwirft. Bis in die 90er Jahre soll diese 1904 erstbegangene Linie ein geschätzter Anstieg auf die Watzespitze gewesen sein – welcher dann aber nach und nach in Vergessenheit geriert. Erst eine aufwendige Sanierung aus 2020 durch Martin Schranz und seine BegleiterInnen sollte dem Weg wieder etwas Leben einhauchen. Mit Erfolg, wie es scheint. Denn am Tag unserer Begehung zählen wir 4 Seilschaften am Nordpfeiler und nur eine am „klassischen“ Ostgrat.
Unser Plan ist dennoch nicht von völlig gemütlicher Natur. Ich muss nämlich ganz definitiv Sonntag Nachmittag vom Berg sein. Nicht nur vom Berg – eigentlich schon auf der Straße gen Norddeutschland. Harter Anschlag. Optimale Tour für sowas. Um entsprechend früh zu starten reisen wir bereits am Vortag an und wollen kurz unter dem Aperen Madatschjoch biwakieren. Also auf knapp 3000 Metern und in unmittelbarer Nähe des Nordpfeilers. Und so laufen wir – vergleichsweise schwer mit Isomatte und Schlafsack bepackt – in Plangeroß los. Hinein in die Dämmerung und ganz bestimmt auch in die kalte und dunkle Nacht. In welcher wir hoffen einen Biwakplatz zu finden um dann noch in der Dunkelheit wieder in Richtung Nordpfeiler aufzubrechen. Wellness wäre eigentlich auch mal nett.
Zustieg
1350 Höhenmeter trennen uns von unserem ausgedachten Biwakplatz. Wir stapfen los – alles wie gewohnt. Der Weg, der im Frühjahr versperrt war, ist nun wieder freigegeben. Man erkennt aber ziemlich genau wo der Felssturz abgegangen ist, der Hannah und mich vor einigen Monaten zur Umkehr gezwungen hat. Wir passieren den hübschen Wasserfall, überqueren den tosenden Bach und folgen dem flachen Hochtal über der Baumgrenze zum nächsten Aufschwung.
Ben’s Schnürsenkel reißt – aber ein Ersatz ist in Griffweite. Einmal mit Profis wandern. Uns bremst heute nichts so schnell aus.
Die Watzespitze versteckt sich hinter Wolken und als diese sich aufgelöst haben ist es bereits stockdunkel. Im kleinen Kegel der Stirnlampen stapfen wir stur durch die Blöcke und dem winzigen Lichtpunkt der Kaunergrathütte entgegen. Das Rauschen des Lussbaches begleitet uns – mal als leises Plätschern zwischen den Steinen, mal als lautes Rauschen in der Ferne. Nach einer gefühlten Ewigkeit steilt das Gelände nochmal spürbar an und auf einem schmalen Moränenrücken erreichen wir die Kaunergrathütte. Von der Raucherpause auf der Terasse werden wir prüfend gemustert, als wir an der kleinen Hütte vorbeischlüpfen. In der Stube ist ordentlich Betrieb und das Stimmengewirr hallt durch die Fenster – Platz wäre ohnehin keiner mehr gewesen.
100 Höhenmeter trennen uns noch von unserem Biwakplatz. Wir wollen zu einem kleinen Flachstück unmittelbar vor dem letzten, stahlseilversicherten Aufschwung zum Aperen Madatschjoch. Obwohl wir inzwischen reichlich erschöpft und langsam geworden sind löst sich der Endspurt gut auf und nach einem kurzen Abstieg inspizieren wir die Mulde. Irgendwie zu gut um wahr zu sein. Der Gneis ist hier in feinen, flachen Plättchen gebrochen und bildet eine glatte bis kuschelige Unterfläche. Nebenan gibt es einen Flusslauf – auch im Höchstsommer mit genug Wasser, um morgen noch die Flaschen aufzufüllen.
Ein Paradies. Mit einem winzigen Haken.
Wir haben uns instinktiv das einzige und wirkungsvollste Frostloch in der gesamten Landschaft gesucht. Im ganzen Pitztal. Nein in ganz Tirol. Wir schwimmen in einem Kaltluftsee, sind in eine alpine Kältefalle getappt. Das merken wir dank eigentlich üppiger Ausrüstung erst, als sämtliches Material (uns eingeschlossen) mit einer dünnen Eisschicht überzogen ist. Auf der einen Seite glitzert das schön. Auf der anderen Seite passt es aber auch nicht ganz zu dem, worauf wir uns eingestellt hatten. Die benachbarte, ähnlich hohe Wetterstation an der Braunschweiger Hütte misst die ganze Nacht relativ konstant 5° Celsius. Von solch tropischen Temperaturen bekommen wir in unserem Frostloch nur wenig mit. Die Nacht ist ein reines Ausharren und Schlottern.
Umdrehen. Augen auf. Perfekter Sternenhimmel, absolute Stille, eine finstere Silhouette. Sternschnuppe.
Augen zu. Umdrehen. Rascheln. Überlegen, wie sich der Schlafsack noch optimieren ließe. Umdrehen. Frieren.
Umdrehen.
Umdrehen.
Rascheln.
Sternschnuppe.
Ob bei all dem überhaupt Schlaf dabei war? Ich würde jetzt sagen nein. Aber vielleicht habe ich ja ein paar Minuten verpasst. Irgendwo zwischen Umdrehen und Frieren mal kurz nicht aufgepasst. Es war eine eindrucksvolle Biwaknacht – aber bestimmt nicht die gemütlichste oder erholsamste. Mangels Sicht wären wir auch nie auf die Idee gekommen unseren Platz nochmal zu verlegen. Erst aus der Kletterei heraus müssen wir einsehen, dass wir uns in einer perfekt abgeschirmten Senke geparkt haben, in der neben einem See und Fluss auch ein gewaltiges Altschneefeld klemmt und Kälte abstrahlt. Als wir noch im Dunkeln wieder aufstehen und um 5:30 unseren Platz verlassen, spüren wir bereits nach wenigen Höhenmetern, wie wir den Kältesee verlassen und reißen uns die Jacken vom Leib. Einmal mit Profis wandern.
Zustieg zur Wand
Das Frühstück besteht aus einem kargen Riegel. Mit immer noch einigermaßen schweren Füßen stapfen wir den stellenweise etwas rustikalen aber gut versicherten Steig zum Aperen Madatschjoch, an dem wir die offiziellen Wege verlassen und uns linkerhand zum Schneeigen Madatschjoch bewegen. Also – um das kurz aufzuklären. Es gibt hier also zwei Madatschjöchl von denen das eine Aper ist und das andere Schneeig. Nun – inzwischen sind sie beide Aper. Ersteres ist aber über einen offiziellen Steig erschlossen und dient als Übergang ins Kaunertal und zur Verpeilhütte. Letzteres – auch ohne Schnee – ist eine Einsenkung in der Verlängerung des Nordpfeilers und markiert den Einstieg in diesen. Zwischen den beiden liegen knapp 300 Meter Gehstrecke an einem weitestgehend horizontalen Grat.
Wir staunen nicht nur über die raue Landschaft und die ansetzende Dämmerung, sondern auch über den sich inzwischen abzeichnenden Andrang. „Wimmeln“ ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen – aber wir hatten ehrlicherweise nicht erwartet, dass der Nordpfeiler so gut besucht ist. Neben uns sind drei weitere Seilschaften auf dem Weg in die Tour.
Die Querung zwischen den beiden Scharten geht gut von der Hand. Ein bisschen Gratkraxelei im I. Grad ist zu Beginn dabei – vor allem aber folgt man Pfadspuren durch brüchig-sandiges und punktuell ausgesetztes Gehgelände. Türmchen und Grataufschwünge werden rechterhand, also südseitig, umgangen. Kurz vor dem Schneeigen Madatschjoch gibt es noch eine Drahtseilpassage, die in eine recht unangenehme und sich permanent abwärtsbewegende Geröllrinne mündet. Ben, der wesentlich tiefer gestiegen ist und das Stahlseil um locker 30 Höhenmeter verpasst hat beweist noch, dass die Flanke beinahe überall begangen werden kann. Eine weitere Seilschaft, die hart auf dem Grat geblieben ist beweist, dass dieser auch geht. Wir waren unten in der beschriebenen und eingerichteten Variante aber deutlich schneller.
Blockgrat (II)
Wir bereiten unsere Gurte vor, lassen das Seil noch am Rucksack und haften uns an die Fersen einer 3er-Seilschaft aus München. Der Pfeiler ist hier unten noch sehr breit, flach und unübersichtlich. Wir folgen einer recht logischen Rechts-Links-Schleife entlang der geringsten Schwierigkeiten durch den lose gestapelten Gneis. Steinschlag ist hier ein Thema – im Zweifel kann man sich sogar überlegen im Joch zu warten, falls bereits eine Seilschaft im unteren Abschnitt ist. Zumindest hat es keine an dem Tag antretende Gruppe geschafft nicht irgendwas runterzuschmeißen. Das Meiste haut zum Glück trotzdem prompt in die Flanken ab – in denen man sich ohnehin nicht wirklich aufhalten möchte.
Wir erreichen eine Schlinge und folgen hier einer geneigten Verschneidung nach rechts in die Westflanke – kleine Steinmänner markieren denn weg. Dort möglichst rasch wieder zurück auf den Grat – eine nach links ansteigende Rampe bietet sich nach einigen Metern dafür an. Auf 3130 Metern erreichen wir den Einstieg in die eigentliche Kletterei. Er fällt vor allem durch erstmals kompakteren Fels auf. Beim genauen Hinsehen zeigen sich aber auch die ersten Bohrhaken.
Einstieg in die Kletterei (IV)
Wir holen das Seil raus und setzen zum Überholmanöver an. Die 3er-Seilschaft stellt sich im Aufstieg als bösartig schnell heraus – falls ihr das lest – Respekt!
Ben und ich haben mit etwas selbstgewählten Zeitdruck im Nacken vor den Grat möglichst schnell am laufenden Seil zu heizen. Das Gelände bietet sich dafür an. Richtige, definierte Standplätze gibt es nicht. Ein günstiger Seilverlauf für klassische Seillängen ist auch nicht immer gegeben. Gesagt – getan. Statt die 4er Verschneidung mit den Bohrhaken zu klettern verschwindet Ben links um die Ecke und findet eine kletterbare und mobil absicherbare Rampe. Als das Seil aus ist, steige ich nach.
Der Fels ist überwiegend fest und flowig – die Kletterei sehr human und selten wirklich steil oder ausgesetzt. Die Haken, wenn auch in größeren Abständen, tauchen einigermaßen rhythmisch auf und weisen den Weg – andernfalls lassen sich aber auch viele Passagen in eigener Linienführung klettern und an Köpfln oder mit Friends brauchbar absichern. Obwohl der Pfeiler aus dem Profil und aus der Draufsicht ziemlich steil aussah, klettert er sich oft verwinkelt und weitläufig. Die Definition eines Pfeilers ist ja ein turmartiger Vorbau zu sein, der gleichzeitig steiler als ein Grat ist.
Der Nordpfeiler der Watzespitze ist aus der Ferne eine scharfe, steile und kühne Kante. Aus der Nähe betrachtet entpuppt er sich aber als vielerorts breit und üppig. Kurzum – ich hätte ihn auch als Nordgrat gekauft. Herrliche Kletterei in überraschend festem Gneis ist auf jeden Fall geboten. Knapp unter einer markanten Schulter mit einer kurzen, horizontalen Passage wechseln wir die Führung – an diesem Punkt hat man knapp 1/3 des Weges hinter sich. Zum Gipfel. Zum sicheren Boden untern den Füßen ist es noch drastisch weiter. Aber dazu später mehr.
Das fotogene Flachstück ist rasch überwunden. Danach geht es mit herrlichem Blick auf den bisherigen Routenverlauf und die gegenüberliegende Verpeilspitze weiter der Schlüsselstelle entgegen. Auf dem Weg passiere ich noch eine kurze, spannende 4er Verschneidung auf der rechten Seite des Pfeilers. Das ist insofern markant, als dass man sich die meiste Zeit links und damit auf der (morgendlichen) Sonnenseite aufhält.
Dann geht es gestuft weiter. Immer wieder gibt es spannende, kurze Aufschwünge und kleine Wändchen – die sich aber stets gut auflösen. Gefühlt geht es immer eine kurze Verschneidung empor, dann um ein Eck oder eine Kante und über eine etwas flachere, raue Plattenzone zum nächsten Aufschwung. Und das macht man halt immer wieder. Bis man vor der Schlüsselstelle steht.
Schlüsselstelle (V-)
Eigentlich ein wenig übertrieben, eine eigene Überschrift für dieses Stückchen Fels zu vergeben. Es sticht nicht allzu markant aus der bisherigen Kletterei heraus. Eine kurze Stelle im IV. Grad zuvor ist fast unübersichtlicher und kühner zu klettern. Gespannt bin trotzdem. Vor allem darauf, ob meine Strategie die ganze Tour in meinen neuen Zustiegsschlappen* zu klettern, aufgeht. Da Ben gerade in Führung ist kann ich den Ernst der Lage ohnehin nur im Nachstieg beurteilen. Kurz vor dem Ausstieg aus dem Pfeiler befinden wir uns in der für uns 3. laaaangen Seillänge.
Ben bleibt ohnehin seinen dicken Lederstiefeln treu, was ich schon vor einem Jahr am Acherkogel bewundern durfte. Der Vorstieg gelingt ihm damit ziemlich rasch und problemlos. Ich folge ihm und stelle fest:
Nebst dankbarer Absicherung gibt es hier auch tolle, feste Leisten und Bänder. Die Kletterei ist zwar stellenweise ein wenig kleingriffiger und technischer – wirft aber auch ohne Kletterschuhe brauchbare Tritte und Ruhepositionen ab. Tatsächlich macht sie wirklich Spaß und nur wenige etwas kniffligere Züge später, kann man sich schon um eine Kante in – wer hätte es gedacht – das nächste, plattige Flachstück schieben.
Am Ende der Schlüsselstelle laufen wir zum ersten Mal ein wenig von der Linie weg. Oder sind goldrichtig und es gibt einfach über eine verdächtig lange Strecke keine Haken mehr. Das ist immer das Ding mit Haken. Hat man sie nicht, vermisst man sie auch nicht. Hat man sie gehabt, vermisst man sie, wenn man sie plötzlich nicht mehr hat. Wir landen auf jeden Fall in einer breiten, blockigen Rinne in der wir entweder leicht rechtshaltend bleiben könnten oder einem kleinen Band nach links folgen, wobei ein später kühn gezackter Felsriegel an seiner Schwachstelle durchquert wird.
Aufgrund des offensichtlichen Steinschlagrisikos in der eigentlich leichten aber blockig-losen Rinne entscheiden wir uns für die zweite Variante. Wir erreichen eine steile und enorm henklig-schuppige Querung und steigen hier mit einigen Köpflschlingen am laufenden Seil zurück an den Grat. Diesen erreichen wir an einem Schlaghaken und einer kurzen, plattigen und scharfen Gratpassage. Bingo. Die „Lücke“ ist im Topo schon auszumachen. Ich hatte sogar irgendwo gelesen, dass es hier nochmal einen markanten Schwenk nach links gibt. Das plötzliche Ausbleiben des richtungsweisenden Blechs hat uns hier trotzdem kurz irritiert – es ist die gefühlt erste und einzige Stelle dieser Art. Und dann ob der vielen Möglichkeiten auch eine etwas Unübersichtliche.
Übergang Nordpfeiler Westgrat (III+)
Wenige Kletter- und Höhenmeter später erreichen wir ein luftiges Eck, an dem der Nordpfeiler in den kühnen und schaurigen Westgrat mündet. Fairerweise – schaurig ist der nur, wenn man ihn von unten begehen würde. Ich habe dazu keinerlei griffige Information gefunden, aber direkt unter dem Punkt, an dem wir den Westgrat erreichen zeigt dieser seine rustikalen, glatten und messerscharfen Zähne. Der Weiterweg zum Gipfel auf dem Westgrat soll dagegen recht gemütlich sein. Wir sind auf 3460 Metern – eigentlich fehlt da nicht mehr viel – weder in Höhenmetern noch in Luftlinie.
Der Tiefblick ist hier beinahe zum ersten Mal am heutigen Tag ziemlich eindrucksvoll. Unseren ungünstigen Biwakplatz können wir wie aus einem Flugzeug von oben betrachten – in alle Richtungen fallen die steilen, düsteren Wände ab und enden auf den Gletscherresten 500 Meter unter uns. Der Berg an dem wir rumkraxeln sendet einen langen Schatten ins Kaunertal. Fühlt sich vergleichsweise groß an alles.
Westgrat (II-III)
Ich schwinge mich auf den Westgrat, der direkt einen einigermaßen kniffligen Aufschwung mit einigen Bohrhaken bietet. Nichts dramatisches – aber definitiv auch nicht so, dass bei uns der innige Wunsch entsteht, das Seil wegzupacken. Stattdessen bleiben wir am laufenden Seil und arbeiten uns durch die erneut sehr freizügig kletterbaren Türmchen und Scharten. Mal gerade rüber, mal links rum, mal rechts rum.
Nicht immer geschenkt – aber vielleicht suche ich auch nicht überall den leichtesten Weg. in meinem Empfinden waren hier schon nochmal ein paar interessante Einzelstellen dabei. Die Schwierigkeiten lassen dann mit Nähe zum Gipfel zunehmend nach und ich gehe irgendwann dazu über, das allermeiste rechterhand in der gestuften Flanke zu umgehen. Ein bisschen zu Ben’s Enttäuschung, der lieber den direkten Grat geritten hätte. Als wir uns darüber austauschen stehen wir aber bereits unter dem Gipfelkreuz. Und die Grate werden uns so bald ohnehin nicht ausgehen.
Gipfel Watzespitze
Eigentlich hatten wir doch mit ordentlich Andrang über den Ostgrat gerechnet – und auch angenommen, dass man dort schneller sein müsste. Stattdessen haben wir den Gipfel für eine ganze Weile für uns alleine – bis die zweite Nordpfeiler-Seilschaft am Westgrat auftaucht. Der Blick ist brutal – im Nordosten hängt ein dichtes Wolkenmeer etwa dort, wo ich den Brennerpass vermuten würde. Aber sonst ist die Herbstluft kristallklar. Die Eisriesen des Ötztals leuchten in grellem weiß zu uns rüber – markant sind vor allem Weißkugel und Wildspitze. Aber auch die in gewaltige Gletschermassen eingebettete Weißseespitze lässt sich ausmachen. Das ist wichtig. Denn dort ist heute jemand unterwegs, den ich viel lieber bei mir am Nordpfeiler gehabt hätte.
Im Süden reicht der Blick bis zum Ortler – ein weiterer weißer Klotz inmitten dunkler Bergsilhouetten. Jetzt ist nur noch die Frage, wie wir hier runterkommen. Oder wie Hannes es auf seinem Blog Deichjodler über ein und den selben Gipfel schreibt: Einen großen Berg erkennt man daran, dass man am Gipfel keine Ahnung hat, wie zum Henker man wieder herunter kommen soll.
Während wir zusammenpacken und uns langsam aber sicher auf den Abstieg einstimmen donnert erneut ein Felssturz über den Eisweg / den Hängegletscher der Watzespitze. Es ist offenbar Einiges in Bewegung – und nicht das erste Mal, dass wir heute das charakteristische Grummeln aus den umliegenden Bergen wahrnehmen.
Abstieg via Ostgrat (I-II)
Wir verlassen den Gipfel und starten in den Ostgrat, welchen im oberen Abschnitt eine markante Stelle mit untypisch hellem Fels markiert. Nachdem es kurz horizontal dahergeht – es ist wie über die Planke zu gehen – senkt sich der Grat ab und öffnet den Blick auf einen elendig langen und verschachtelten Gratverlauf. Mein Respekt vor diesem Abstieg war bereits die ganze Zeit präsent – eine Überraschung ist das was wir hier vorfinden also nicht. Seilschaften mit Ortskenntnis nach Aufstieg über den Ostgrat, sollen hier regelmäßig über 7 Stunden benötigen, um wieder sicheren Boden unter den Füßen zu gewinnen. Die Zeit haben wir heute nicht. Selbstgemacht. Eigentlich haben wir massig Zeit, denn am Nordpfeiler waren wir drastisch schneller als erwartet und beschrieben. Aber auch von den Seilschaften, die von der Hütte in den Nordpfeiler gestartet sind hören wir genau diese Gruselgeschichten. Gestern, da sei eine Seilschaft mitten in der Nacht zur Hütte gekommen. Der Nordpfeiler sei kein Problem gewesen. Aaaaber der Ostgrat…
Wir stürzen uns in das Meer aus Fels. Im Abstiegssinne halten wir uns oft und über lange Strecken rechts der Kante. Der Grat ist so weitläufig und ausladend, dass er sich vielerorts eher wie eine Wand klettert – die Schwierigkeiten überschreiten den 2. Grad nicht oder nur optional und der Fels ist überraschend fest. Wir sind hier seilfrei unterwegs – im überwiegend einfachen Gelände und mit Blick auf die Länge des Abstiegs erschien uns das als angebracht. Wir haben durchaus vor im unteren Teil und über die Schlüsselstellen abzuseilen – wollen den Punkt, an dem wir das Tempo rausnehmen aber so weit wie möglich nach hinten verschieben.
Im oberen Teil gibt es kaum Markierungen und auch nur wenige Haken und Schlingen. Die Linie ist aber auch noch relativ logisch. Es schadet trotzdem nicht, den Blick auf dem Grat zu lassen und immer wieder zu hinterfragen, ob man noch richtig ist. Das liegt vor allem daran, dass der Grat sich in seinem Verlauf immer wieder verästelt und Seitengrate ins Tal (oder die senkrechten Abbrüche) entsendet. Das wäre kein Problem, wenn man immer auf dem Hauptgrat bleiben und die seitlichen Rampen getrost ignorieren kann.
Markanter Plattengrat (III)
Die erste richtig markante Einzelstelle, die sich auch von oben bereits gut anpeilen lässt, ist ein kompakter und horizontaler Plattengrat. An seinem Ende ragt ein übergroßer Steinmann über dem Tal. Hier kommt einiges zusammen. Eine (nach meinem Empfinden recht dankbare) Stelle im III. Grad. Abseilstellen unterschiedlicher Qualität und die Möglichkeit sich recht ordentlich zu verhauen. Das nachfolgende Bild zeigt den Aufbau der Stelle und des Grates von unten – ich werde mich aber auch an einer kurzen Beschreibung von oben versuchen. Ohne diese Stelle im Aufstieg geklettert zu sein ist es nämlich nicht ganz trivial zu verstehen, was der Berg hier von einem möchte.
Von oben kommend lässt sich bereits die Stufe ausmachen, die zum Plattengrat und Steinmann abfällt. Man befindet sich dann hoffentlich noch auf dem Grat und nicht auf dem Seitengrat, welcher etwas früher nach links abzweigt und natürlich gemieden werden will. Vor den Abbrüchen findet man auf jeden Fall einen etwas eigenartigen Schlingenstand, den uns die einzige entgegenkommende Seilschaft als Verhauer verkauft hat. Wir trennen uns hier kurz, weil wir uns verschiedene Möglichkeiten des Weiterkommens anschauen wollen. Meine stellt sich zufällig als die richtige heraus:
In den Platten über den Abbrüchen möglichst früh und etwas kühner (Reibung & Leisten) nach von oben kommend links queren. Man muss eventuell einige Meter in der Höhe korrigieren, sollte aber ziemlich genau an dem schattigen Punkt rauskommen, der im Bild in gerader Linie über mir liegt. Hier befindet sich ein blasser, roter Pfeil, ein Haken und eine Möglichkeit relativ einfach auf die tieferliegende Kante zu wechseln. An dieser geht es dann ausgesetzt aber recht einfach hinab. Wenn das die obereste IIIer Passage aus den Topos ist, so ist sie relativ entspannt. Nach wenigen Metern lässt sich bereits auf die rechte Seite und in die Platten wechseln. Das ist zwar das seilfrei „ungemütlichere“ Gelände – ist aber angenehm geneigt und nach rechts in eine seichte Schotterrinne führend etwas weniger exponiert. Der plattige Gratabschnitt geht dann gut von der Hand – der Fels ist bombenfest und rau. Wir erreichen den Steinmann. Einen frühen Meilenstein auf unserem langen Weg ins Tal.
Grat und 1. Abseilstelle
Wir halten uns erneut rechts der Kante, der Grat ist wieder breiter, steiler und gewohnt griffig. Über dem sandigen Band – welches sich mit immer wieder prüfenden Blicken auf die Rampe links unterhalb ausmachen lässt – seilen wir eine steile Stufe ab. Bitte lasst euch nicht von der verkürzten Darstellung irritieren – bis zum diesem markanten Punkt ist nochmal grob die selbe Strecke zurückzulegen wie vom Gipfel zum Plattengrat.
Und auch die Dimensionen dieser „Strecken“ seien nochmal hervorgehoben. Wir sind hier bereits 400 Höhenmeter in anhaltender Kletterei abgestiegen und haben dabei keine Sekunde in die Sicherung einzelner Passagen oder die bisher sehr flüssige Wegfindung verschwendet. Wir werden uns später einen richtig groben Verhauer leisten und wieder aufsteigen müssen. Dieser Verhauer und seine Korrektur werden uns eine glatte Stunde kosten. Vom Gipfel bis zum Ende der Schwierigkeiten sind wir inklusive Verhauer aber nur 4,5 Stunden unterwegs – ohne ihn wären wir folglich in 3,5 Stunden abgestiegen.
Ich möchte hier nicht mit Zeiten flexen – mir liegt nichts ferner und das geht hoffentlich auch aus den allermeisten Berichten auf diesem Blog hervor. Ich habe nur Angst, dass meine eher knappe Schilderungen und die netten Bilder bei Tageslicht dem tatsächlichen und vor allem dem möglichen Umfang des Ostgrates nicht ganz gerecht werden. Denn auch wenn wir keine großartigen Bergsteiger oder gar Kletterer sind – wir hatten bei besagter Tour mächtig Dampf und haben uns teils grenzwertig schnell durch das Gelände bewegt.
Anlass zu dieser Sorge gibt mir auch ein Blick nach oben. Die anderen Seilschaften, die nicht wesentlich später als wir vom Gipfel aufgebrochen sind, scheinen einen etwas anderen Ansatz zu fahren und sind bereits in den oberen Stufen mit Seilen unterwegs. Ihr Tag wird länger werden. Und das ist okay. Dafür sind sie sicherer unterwegs. Aber genau das sollte einfach in die Tourenplanung einfließen. Dass man für den vermeintlich einfacheren Ostgrat ohne Ortskenntnis locker(!) die doppelte Zeit des Nordpfeilers ansetzen kann. Und zwar für Seilschaften die dem Nordpfeiler gewachsen sind und an ihm einen ziemlich flinken Aufstieg hingelegt haben.
Sandiges Band (II+)
Am sandigen Band verlässt man den bisher begangenen Grat nach links und quert auf eine tiefer liegende Rampe. Im Aufstieg ist dieser Abzweig mit einem Pfeil markiert, der sogar von der Terasse der Kaunergrathütte mit dem bloßen Auge zu erkennen ist. Im Abstieg tut man gut daran die Augen offen zu halten – ein relativ steiler Abbruch und üppige Markierungen weisen aber dennoch den Weg. Ab hier befinden sich dann auch mehr Bohrhaken und Markierungen in der Route – dafür wird der Grat aber auch spürbar unübersichtlicher.
Das sandige Band macht seinem Namen alle Ehre und ist sandig – gleichzeitig geht es rechts für einige Meter ordentlich runter. Augen zu und durch – löst sich gut auf. Wir passieren den übergroßen Monsterpfeil und biegen auf die breite Rampe ab. Wenn man keinen Steinschlag auslöst lässt sich hier recht entspannt absteigen. Das Gelände ist weitläufig, gestuft und unter einer zarten Schicht Staub und Schotter eigentlich auch fest bis plattig. Ein Blick auf das Topo zeigt an, dass wir inzwischen in der unteren Hälfte des Abstiegs angelangt sind. Wir sind immer noch höllisch schnell, dynamisch und überhaupt – warum stellen die sich denn alle so an mit diesem Ostgrat.
Abseiler & Verhauer
Am Ende der Rampe bietet sich rechts sehr weitläufiges und gangbares Gelände an. Erneut ist es wichtig einen groben Überblick über seine Position und das Topo zu behalten – erneut muss der Grat nach rund 250 Metern nach links bzw. in nördliche Richtung verlassen werden. Ein Abseilstand markiert diese Stelle und führt in eine plattige Seillänge, die von oben wilder aussieht als sie ist. Wir lassen uns davon auch beeindrucken und vermuten hier bereits die Schlüsselstelle des Ostgrats und zücken erneut das Seil. Als ich über den kompakten Fels hüpfe, stelle ich rasch fest, dass das allerhöchstens ein 2er ist. Wir befinden uns in der 8. Seillänge nach Bergsteigen.com.
Weil das Seil schon draußen ist seilen wir auch die 7. Seillänge ab. Eine seichte aber luftige Rampe, die dann wirklich über die Schlüsselstelle führt. 12 Meter an einem Sauschwanz abgeseilt und schon stehen wir auf dem Absatz unter der ziemlich steil anmutenden und mit zahlreichen Fixseilen entschärften Kletterei. Passt. Wir nehmen das Seil wieder auf – die anschließende Rinne sieht machbar aus.
Am Ende der Rinne führen zahlreiche Bohrhaken über den erneut breiten und einfachen Grat hinab zu einem Absatz mit Kettenstand. Und genau hier sind wir bereits 100 Meter falsch abgestiegen. Von unserem Glück ahnen wir noch nichts und bereiten das Seil zum Abseilen vor.
Nochmal ein skeptischer Blick auf’s Topo. Da steht schon was von Kettenstand – es ist der erste und einzige seiner Art bisher. Das ist schon markant. Markant genug, damit ich mir meiner Sache ziemlich sicher bin. Erst als ich über die Kante abseile wachsen die Zweifel. Das ist ganz bestimmt keine III – IV.
Nach 20 Metern erreiche ich einen weiteren Kettenstand auf einem schmalen Band über einer gnadenlos senkrechten Felswand. Der Talboden ist inzwischen näher gerückt – aber sieht nun so unereichbar aus wie nie zuvor. Mir dämmert es. Wir müssen in der Route „Early Morning in the Sun“ gelandet sein. Eine VII-, die sich stellenweise mit dem Ostgrat kreuzt. Das passt auch zu der Wand unter uns. Nun könnte man es sich leicht machen und sich freuen, dass man in einer sportlicher abgesicherten und ganz offensichtlich zum Abseilen eingerichteten Wand gelandet ist. Ich habe aber das Gefühl, dass wir mit 60 Meter Einfachseil und somit 30 Meter Reichweite nicht durch die unter uns abbrechende Vertikale kommen. Erst später – zurück im Netz – bestätigt sich mein Verdacht. Wir wären mitten in der Wand blockiert, wenn wir uns hier erneut abgeseilt hätten.
Stattdessen entscheiden wir uns zähneknirschend für Schadensbegrenzung – und einen Wiederaufstieg solange dieser noch möglich ist. Wir haben keine Ahnung, wo wir oben falsch abgebogen sein könnten. Aber es steht auch fest, dass es hier mit unserem Material nicht mehr sinnvoll weitergehen kann. Da wir das Seil noch nicht abgezogen haben sichere ich Ben im Toprope die deutlich schwierigere Kletterei hinauf. Er erreicht den Kettenstand – durchaus am Limit dessen, was mit Bergstiefeln Freude macht – und holt mich nach. Wir nehmen das Seil auf und steigen den breiten, plattigen Grat wieder bis zur Rinne auf.
Abstieg über „alten Einstieg“
Die Verlängerung tut uns mental nicht gut. Sie kostet uns eine Stunde und ich merke, dass bei mir langsam aber sicher die Luft raus ist. Es wäre inzwischen ziemlich schön aus der etwas bedrückenden und inzwischen schattig-kalten Wand herauszukommen. Aber die Watzespitze hat aktuell – so scheint es – noch andere Pläne mit uns.
Wir finden unseren Verhauer. Oder wenigstens das, was wir dafür halten. Nach der Rinne unter der Schlüsselstelle geht es direkt links weg. Erneut verlässt man die aktuelle, gangbare Rampe und begiebt sich auf eine tieferliegende Etage. Jetzt aber. Wir seilen erneut ab und landen unter Aufwand der uns zur Verfügung stehenden 30 Meter irgendwo in einem Meer aus Gneis.
Überall sind Haken und Markierungen. Irgendwo hängt eine Schlinge rum. Ein paar Meter unter uns befindet sich ein Bohrhaken an einem Absatz, bevor die Wand absolut senkrecht abbricht. Aber irgendwas stimmt wieder nicht. Wir finden keinen roten Faden und haben keine wirkliche Idee, wie wir die letzten 100 Meter auf den Boden überwinden sollen ohne uns in die selbe Situation wie gerade eben zu manövrieren. Gleichzeitig ist der seilfreie Wirkradius auch nicht mehr so groß. Wir sind inzwischen unkonzentrierter und hektischer. Nicht so, dass gar nichts mehr ginge – aber durchaus so, dass man das Risiko eines Verhauers oder seilfreier Erkundungstouren nochmal neu bewertet. Unten lauert weiterhin ein Abgrund. Ich ertappe mich, wie ich immer gereizter und frustrierter werde. Es ist noch keine Angst in ihrer lähmenden Form aber zumindest die Art von Unwohlsein, die rasch zu Angst anwachsen kann.
Ben zieht es nach links. Er habe irgendwo eine blasse Markierung gesehen. Für mich heißt das exponierte Querungen im II. – III. Grad unter einer Wand, aus der heute Nacht noch reichlich Felsen gepurzelt sind. Gar kein Bock. Ich will nach rechts. Außerdem landen wir mit Ben’s Variante im Schneefeld – sofern wir hier überhaupt einen Weg nach unten finden. Und die entgegenkommende Seilschaft hatte doch gesagt, dass der Einstieg schneefrei ist. Ich will den „neuen“ Einstieg suchen – die Abseilstellen, von denen wir ja nicht gar so weit weg sein können.
Das will Ben nicht. Er sieht keine Lösung darin, das Seil erneut über senkrecht anmutende Kanten zu werfen, wenn nebean gangbares Gelände liegt. Er setzt sich durch. Wir traversieren gute 50 Meter auf einem Band nach Westen und stolpern tatsächlich über schwache Markierungen in einer abfallenden Rinne.
Ein rustikaler, steiler und geschliffener Kamin mit einem reudigen Fixseil entlässt uns dann endlich an den Wandfuß – direkt in die Randkluft eines hartgefrorenen Altschneefeldes. Wir haben beinahe gewonnen. Aber noch nicht ganz. Denn genau für Altschnee – den es am richtigen Einstieg ja nicht mehr hat – sind wir nicht gerüstet.
Zum ersten Mal auf dieser Tour beweisen sich Ben’s XXL Meindl-Leder-Treter als massiv praktisch. Er steigt vor und kickt tiefe Tritte in den harten, rund 40° steilen Firn. Genug für mich um mit den im Fels überlegenen aber hier deutlich schwächeren Zustiegsschuhen nachzukommen. Das Schneefeld läuft flacher aus, wir rutschen die letzten Meter ab und stolpern in das Schotterfeld. Der Blick wandert nochmal zurück. Die anderen Seilschaften sind noch hoch oben und haben trotz unseres Ausflugs in die Early Morning in the Sun nicht wirklich aufgeholt. Dass wir sie in der Wandflucht ausmachen hilft aber enorm, das Erlebte nochmal nachzuvollziehen.
Abstieg nach Plangeroß
Wir sparen uns den Gegenanstieg zur Kaunergrathütte und folgen dem Schotter gen Osten in Richtung Lussbach und Aufstiegsroute. Das geht überraschend gut – der Schotter ist nicht zu lose oder steil und ab dem Flusslauf schlendern wir durch herrlich weiche, federnde Moose und Wiesen. Wir treffen auf den Weg zur Kaunergrathütte und steigen rasch nach Plangeroß ab. Ein bisschen hinter dem selbstgesteckten Zeitplan.
Es gibt einiges zu verarbeiten. Die Tour – die wahrscheinlich eine der größten Unternehmungen des Jahres 2024 war. Aber auch die kleinen Krisen, die wir auf den letzten Metern zu bestehen hatten. Die Unruhe, als der Berg uns nicht sofort gehen lassen wollte. Vor weniger als 24 Stunden sind wir in eine bitterkalte Biwaknacht gestartet. Was dazwischen passiert ist könnte normalerweise Wochen füllen.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Wirklich hochalpine, ausdauernde und einigermaßen ernste Überschreitung eines imposanten Gipfels. Der Ostgrat wird von Bergführern mit ihren Gästen gerne als Vorbereitung für’s Matterhorn gemacht. Auch wenn man es stellenweise anders liest – mein persönlicher Eindruck ist, dass der Nordpfeiler trotz marginal schwierigerer Schlüsselstelle leichter, flüssiger und kurzweiliger von der Hand geht. Er ist nicht nur in Strecken- und Höhenmeter spürbar kürzer sondern auch direkter und intuitiver in der Wegfindung. Ich würde ihn als ebenbürtige Alternative zum Ostgrat behandeln. Die Sanierer haben hier auf jeden Fall eine grandiose Linie mit guter und wegweisender Absicherung hinterlassen, die sich offenbar auch einer großen Beliebtheit erfreut. Die reinen Kletterschwierigkeiten spielen eine sehr untergeordnete Rolle. Die mit V- bewertete Schlüsselstelle ist etwas technischer aber schön zu klettern und fordert bestimmt keine nennenswerten Kunststücke von ihren Asprianten, der Rest ist flowiges 3er-Gelände mit wenigen und nur punktuell schwierigeren Einzelzügen.
Der Anspruch der Tour ergibt sich aus den konditionellen Anforderungen und der puren Dauer und Fülle an Kletterei im absoluten Absturzgelände. Die Watzespitze verdient auf jeden Fall allerbeste Bedingungen – gerade bei mangelnder Sicht würde ich selbst mit der nun gewonnen Ortskenntnis den absoluten Worst-Case ausrufen. Für einen genüsslichen Tag reicht es nicht, schonmal eine Mehrseillänge im 5. Grad geklettert zu sein oder einen Hochtourenkurs absolviert zu haben. Sowohl im Aufstieg als auch im Abstieg muss Vieles wirklich schnell und flüssig laufen. Jeder Fehler, jede Unsicherheit, jeder Standplatzbau, jedes Seilchaos zerrt an Zeit und Konzentration. Wir sind den Nordpfeiler bis auf die Schlüsselstelle am laufenden Seil und in ständiger Bewegung geklettert. Den Ostgrat sind wir bis zum sandigen Band seilfrei abgestiegen und haben dann 5x korrekt und 1x falsch abgeseilt, bis wir über den originalen Zustieg ins Firnfeld ausqueren konnten.
Die Versicherung am Nordpfeiler ist für das Gelände, die Höhe und die Ausmaße des Berges überraschend gut – vor allem in der Schlüsselstelle. Im leichten Gelände haben Bohrhaken eher richtungsweisende Funktionen und der eine oder andere Friend am Gurt schadet nicht. Der Ostgrat weist im oberen Teil weniger fixes Material auf – man findet definitiv keine entspannte Abseilpiste vor. Einzelne Haken oder Schlingenstände mit Schraubgliedern können bei Bedarf genutzt werden – mit dem entsprechenden Aufschlag in Sachen Zeit. Ab dem sandigen Band wird die Absicherung deutlicher und die Standplätze besser. Die Orientierung bleibt dennoch anspruchsvoll. Aus unserem Verhauer kann man wahrscheinlich lernen, dass es Sinn macht auch die anderen Routen ein wenig zu studieren – und sich vor allem die Punkte zu verinnerlichen, an denen diese dicht an die Linie des Ostgrates herantreten. Den Ostgrat ohne Ortskenntnis im Abstieg zu begehen darf man bei der Planung der Tour definitiv als die größte Herausforderung behandeln – der Nordpfeiler wiegt das nicht auf.
Wir waren mit 60 Meter Einfachseil, einigen Schlingen, Alpinexen und einem etwas schlankeren Satz Friends unterwegs. Helm, Notfallausrüstung und Abseilzeug ist ohnehin obligat. Kletterschuhe braucht es mit etwas Routine im Gneis / Granit nicht.
Zusammenfassung
Ausladendes Bergabenteuer in einem rauen und extravaganten Gebirgszug. Der Kaunergrat verdient seinen Ruf einen Hauch von Westalpenproportionen in die Ostalpen zu bringen – die Tour auf die Watzespitze war die bisher ausladenste Unternehmung im Jahr 2024. Gerade die Kombination mit dem Bibber-Biwak ergab ein alpines Gesamtpaket, in dem wir überraschend gut und agil performt haben: denn trotz unserer Baustellen auf der Zielgerade haben wir es in recht stattlicher Zeit, Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit auf und über einen gewaltigen Brocken geschafft. Und meine neuen Zustiegsschlappen wären damit wohl auch eingelaufen.