Das wäre 2024 ja mal was ganz was Neues. Und warum laufen wir überhaupt kurz vor Sonnenuntergang und haarscharf vor dem obligatorischen Gewitter im Gaistal gen Berg. Ganz einfach. Weil Meteoblue irgendwie gesagt hat, dass es vielleicht trocken bleibt. Und wir uns irgendwie einbilden mit Biwak unter der Wand am Folgetag vor dem nächsten Gewitter noch ein wenig Wettersteinkalk anfassen zu können. Und überhaupt ist das hier der zweite und zugegeben auch ein wenig trotzige Anstieg des Tages – denn am Morgen haben wir bereits am Kaunergrat auf den Deckel bekommen.
Doppelter Abbruch am Kaunergrat
Dabei trifft uns nur eine Teilschuld – geplant war eine Wiederholung des Parstleswand Ostgrat, dessen zahmen und südöstlich ausgerichteten Anstieg wir als weitestgehend schneefrei vermuten. Die feine Kraxelei in mit einigen Schneefeldern wäre auch eine perfekte Vorbereitung für den anstehenden Urlaub in Chamonix gewesen. Das Wetter soll bis zum Abend stabil bleiben und ich kenne die Route bereits. Die umliegenden Webcams zeigen in vergleichbarer Höhe und Ausrichtung bereits grüne Hänge.
Nur eben nicht felssturzdicht. Direkt 50 Meter hinter dem Parkplatz in Plangeroß begrüßt uns ein Schild am Normalweg zur Kaunergrathütte. Gesperrt wegen Felssturz.
Ich muss zugeben, dass ich so einen Wisch erstmal nicht zwingend beachten würde. Nicht weil ich lebensmüde bin – die Erfahrung hat aber gezeigt, dass genau diese Zettel je nach Robustheit oft Monate oder Jahre irgendwo in der Gegend hängen bleiben und dann auch nicht mehr zwingend mit tatsächlichen Gefahren korrelieren. Dazu kommt die bestimmt bedenkliche aber irgendwo auch relativ rationale Einstellung, die sich zu solchen objektiven Gefahren breit macht, sobald man mit seinen Touren egal welcher Disziplin die vermeintlich “sicheren” Wanderwege verlässt: kann dir immer passieren. Nun steht auf dem Zettel aber auch ein Datum. 08.06.2024.
Das ist heute. Es ist 7:00 Uhr morgens. Das ist jetzt. Nebenan parken zwei Autos der Bergwacht. Kannste nicht bringen. Wir disponieren um. Ab nach Trenkwald und über den Mittelberglesee zusteigen. Sind nur ein paar Höhenmeter mehr und ein bisschen mehr Strecke. Vor allem aber – ist nordseitig und damit gar nicht mehr so wasserdicht. Nach einer gottlosen Nassschneewühlerei drehen wir nach 1000 Höhenmetern um. Wir sind zu langsam, für den Quatsch nicht gerüstet und der Schnee wird immer schwerer. An der gegenüberliegenden Verpeilspitze rauschen in regelmäßigen Abständen Lawinen runter und auch bei uns ist es bedenklich steil. Ein einfacher oder intelligenter Durchschlupf auf den Grat zeichnet sich nicht ab und wir müssen einkalkulieren, dass wir hier ja auch irgendwie wieder runter müssen.
Dann eben ganz anders. Dann eben in der Heimat klettern gehen. Wir sammeln Isomatten und Schlafsäcke ein und starten – bereits im Abendlicht – in Leutasch in Richtung Berg. Auf dem Wunschzettel steht eine recht kurze Mehrseillänge in den Südwänden des Wetterstein-Gebirges. Das der Zustieg für den Umfang der eigentlichen Kletterei sehr lang und der Abstieg nicht ganz trivial ist wollen wir am ebenfalls gewittrigen Folgetag aber reichlich Puffer haben – und einen möglichst hohen Ausgangspunkt.
Wangalm
Da uns dann aber doch ein Gewitter auf einige Höhenmeter der kleinen Wangalm erwischt, finden wir dort Zuflucht und entscheiden uns auch wegen der grandiosen Gastfreundschaft (trotz offensichtlicher Biwakausrüstung) die Nacht hier zu verbringen. Das Geld für die Übernachtung kriegen wir gerade so zusammengekratzt – geplant war das alles auch nicht. In Anbetracht dessen, dass es einen überwiegenden Teil der Nacht regnet ist das aber ein gutes Investment. Bleibt nur zu hoffen, dass die Wände schnell abtrocknen. Ziel für morgen ist die Phantasia an der Schüsselkarspitze. Sehr früh schlüpfen wir in die Nacht hinaus.
Schüsselkarspitze Phantasia
Die Schüsselkarspitze ist mir ihren 2553 Metern bestimmt kein kleiner Berg – in der konstant ähnlich hohen und ähnlich abweisenden Kette zwischen Hochwanner und Dreitorspitze ist sie aber nur einer von vielen. Als Gipfel mit einer 130 jährigen Klettergeschichten und einigen legendären Routen im perfekten Plattenpanzer der Südwand zählt sie dennoch zu einem der bedeutendsten Kletterberge der nördlichen Kalkalpen und sie ist ein recht exklusives Ziel. Der Berg bleibt dem Kletterer vorenthalten. Selbst mit dem “Klettern” eines Bergsteigers, der sich im II. Grad und auf dem ach so wilden Jubiläumsgrat zurecht findet sieht es hier relativ duster aus.
Auch wir werden den eigentlichen Gipfel heute gar nicht erreichen und haben uns das zum Glück auch nicht vorgenommen. Die Phantasia führt in 180 Klettermetern im ganz linken Wandteil unter den Westgratturm der Schüsselkarspitze und selbst dieser wird gar nicht erreicht. Zum Gipfel würden nochmal 200 Höhenmeter fehlen, was in dem dort oben gebotenen Gelände eine Unternehmung für sich ist. Worauf ich hinaus will – wir gehen einen wirklich kleinen Weg am äußersten Rand einer wirklich imposanten Wand. Dafür hoffen wir aber ein wenig feinen Fels in dieser recht jungen Route (Erstbegehung 2006 durch Hans Hornauer, Michael Thierof & Ute Tichy) unter die Finger zu kriegen und uns den Abstieg und das Gelände ringsum schonmal für größere Ideen und stabilere Wetterlagen anzusehen.
Zustieg
Von der Wangalm geht es recht gutmütig und meist flach hinauf zum Scharnitzjoch. Schöne, große Blöcke zieren die Landschaft. Mit dem Sonnenaufgang erreichen wir das Joch und holen das ausgefallene Frühstück nach. Die Hohe Munde glüht golden auf und herrliches Gegenlicht streift die von Norden imposante Gehrenspitze.
Trotzdem ist die Stimmung ein wenig getrübt. Es ist wunderschön und friedlich hier oben, ein ganz schwacher Wind geht. Aber neben unserem Tagesziel thront die schweigende Südwand der Scharnitzspitze, in der Martin Feistl vor wenigen Wochen tödlich verunglückt ist. Ein Unfall, der uns unbekannterweise ziemlich mitgenommen hat, da uns Martin mit dem was wir von ihm im Netz gesehen haben mehr als nur einmal eine Inspiration war. Auch wenn wir in völlig anderen Sphären unterwegs sind und immer sein werden – viele seiner Ideale sorgten bei mir für Verblüffung und Begeisterung, etwa manch eine radikale Ecopoint-Begehung oder brillante Dokumentation von winterlichen Erstbegehungen. Es wird wohl jeder zukünftige Gang zu diesen Wänden auch mit einem kurzen Gedanken an ihn verbunden sein.
Wir wenden uns den beiden Wänden zu, die über einen überraschen schönen Wiesengrat erreicht werden. Dahinter warten die unglaublich kompakten Kalkmauern. Und auf den letzten Metern kriecht die Sonne um’s Eck.
Ich deponiere meine Stöcke in einem Schneefeld und wir suchen den Einstieg für einen Moment. Die Linie ist eigentlich recht offensichtlich – auf einer hellen und kompakten Plattenzone leicht rechts ansteigend hinauf. Links und rechts davon sind eher überhängende, gelbe Wandabschnitte. Eigentlich ist der Einstieg auch wirklich genau dort, wo der Grat auf die Wand trifft. Ich habe nur unterschätzt, wie eng Siemens / Wolf (die etwas leichtere Nachbarroute) und Phantasia wirklich zusammenliegen. Man startet beinahe am selben Griff.
1. Seillänge (V+)
Ich steige heute mal die erste Seillänge vor, was gar nicht so häufig vorkommt. So richtig den großen Jackpot zieht man damit heute leider nicht. Der Fels ist zwar überraschend trocken, dafür aber noch ziemlich kalt.
Die Route startet kleingriffig und rustikal mit einem V+ Wändchen, das sich auf den ersten Metern ein wenig absurd kraxelt. Dafür kann der Fels ausnahmsweise gar nicht so viel aber in absoluter Reichweite ist auch die Einstiegsrinne und die wunderschönen Klebehaken der Siemens / Wolf, die vielfach einfacher (III) und irgendwie auch intuitiver ist. Stattdessen rupft man sich also an einem Bohrhaken mit schwarzer Schlinge durch einen kurz etwas brüchig und abdrängend anmutenden Aufschwung. Ich bin ja kein Erstbegeher – aber ich glaube hier hätte man auch einfach kurz die ersten zwei Meter in der Nachbarroute mitverwenden und dann nach rechts rauqueren können. Tut der Sache keinen Abbruch – wirklich schön fand ich diese etwas erzwungene Stelle nicht.
Danach geht es rechterhand ansteigend hinauf, wobei man nach einigen Metern im einfachen Gelände in eine tolle und kompakte Rissspur gelangt. Die Faustregel lautet immer den Bohrhaken folgen. Klebehaken gehören zur Siemens/Wolf. Beeindruckend ist, wie rasch sich hier ein ziemlicher Tiefblick aufbaut. Da man vom Grat wegquert und dieser zu den Seiten rasch in tiefer liegende Schotterkare abfällt hat man nach nur wenigen Klettermetern plötzlich deutlich mehr Luft unterm Hintern. Die Platten und Überhänge verstärken diesen Effekt – ganz schön steile Wand. Und beeindruckend, was da neben uns in den höheren Wandabschnitten noch alles an Routen schlummern muss.
Rasch ist die Schlüsselstelle der Länge erreicht. Auf dem Weg habe ich einen #1 Friend versenkt, den man sich aber wahrscheinlich auch hätte sparen können. Die Hakenabstände sind etwas weiter aber mit etwas Reserve bezüglich der Kletterschwierigkeiten meistens ausreichend. Apropos Reserven. Die sind rasch verraucht und ich hänge im Seil. Der etwas abdrängende Riss ist gar nicht so einfach oder griffig, wie es den Anschein macht. Man steht unterhalb auf einer recht glatten Platte, wird von einem Miniaturüberhang ein wenig aus der Wand geschoben und tastet oben nach Griffen. Obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als müsse man sich nur irgendwo festhalten, kommt mir die Stelle dann doch ziemlich knifflig und technisch vor. Die Kalkrippen, die man in die Zange nehmen kann sind zwar bombenfest aber gar nicht so hilfreich, Tritte wollen erstmal gefunden werden.
Ein paar Anläufe später kriege ich die kurze Crux gelöst und erreiche eine luftige Rampe, die nochmal deutlich nach rechts zum Standplatz führt. Ich hole Hannah nach, die sowohl mit dem Kaltstart unten als auch mit dem komischen Riss ähnlichen Herausforderungen begegnet und dann zu mir aufschließt.
Und wir haben erst die allerersten Meter gesehen.
2. Seillänge (IV)
Hannah steigt vor und erfreut sich im etwas leichteren Gelände an den nun auch nochmal etwas weiteren Runouts. So richtig unterbringen lässt sich aber auch nicht viel oder nur mit großen Mehraufwand. Dann nehme man eben die 5 Haken, die man auf den 45 Metern präsentiert bekommt. Ein paar spannende Augenblicke sind dabei – der Quergang ist ordentlich luftig und verstärkt den zuvor beschriebenen Tiefblick nochmal. Ein unscheinbarer, sperrender Block darf ziemlich kühn umstiegen werden und auf den schmalen Bändern fragt man sich doch ab und an, ob man noch richtig ist.
Im Endeffekt ist diese Seillänge abgesehen von einem Anstieg zu Beginn etwas horizontaler als man annehmen würde. Will man zu stark nach oben, landet man unweigerlich wieder in den Klebehaken der Siemens / Wolf. Dadurch kann man diese aber auch ganz gut als Orientierungshilfe nehmen und sich stets rechtshaltend unter diesen bewegen. Die kleine Einbuchtung mit dem Standplatz kann dann kaum verfehlt werden, hier trifft von oben links auch die Siemens / Wolf ein.
3. Seillänge (IV)
Ich verlasse die kleine Einbuchtung über eine hübsche, griffige Verschneidung nach rechts oben. Kurze aber lässige Kletterei.
Danach wird es ein wenig unübersichtlicher. Ich befinde mich am Fuße einer breiten und mit einigem losen Geröll gefüllten Rinne die ganz leicht nach links hinaufführt. Schaut gut und logisch aus – ich folge ihr. Einen Haken, der diesen Weg bestätigen würde finde ich allerdings erst nach sicher 15 oder 20 Metern. Vielleicht habe ich was übersehen – vielleicht lohnt es sich aber auch nicht, sich hier unten zu ausführlich umzusehen. Ich halte mich auf jeden Fall eher rechts im etwas kompakteren Fels der wahrscheinlich ein wenig schwerer aber für mich auch weit über dem letzten Haken noch im sehr komfortablen Bereich ist. Hält man sich weiter links riskiert man Steinschlag, bewegt sich dafür aber für diesen Abschnitt im Beinahe-Gehgelände.
Am Ende der Rinne geht es dann wieder nach rechts und in gestuftes Plattengelände mit vielen Grasnarben. Ganz nett – aber auch nicht wirklich spannend. Interessant ist nur, dass sich die Wand hier ein wenig zurücklegt und einen Blick auf den Weiterweg offenbart. So wie es ausschaut, kriegt Hannah da gleich nochmal eine richtig feine Seillänge mit Platten und Wasserrillen serviert.
4. Seillänge (IV)
Und so kommt es auch. Mit 25 Metern fällt die Seillänge deutlich kürzer aus, als bisher Gewohntes. Dafür ist sie aber anhaltend schön zu klettern. Zunächst geht es über eine geniale Platte mit Wasserrillen und einigen perfekten Griffen. Dann steilt die Wand ein wenig auf und unter einem gelb-schwarzen Pfeiler hält man sich eher rechts zum Standplatz.
Vor allem die letzten Meter sind nochmal wirklich interessante, steile und raue Kletterei im IV. Grad, bei der man immer wieder brachial geniale Griffe an Stellen findet, wo man sie nicht direkt vermutet hätte. Vielleicht – ganz vielleicht – ist das sogar die schönste und homogenste Seillänge der Phantasia. Meine 3. Seillänge war es auf jeden Fall nicht.
5. Seillänge (V+)
Ich schnappe mir noch einmal das scharfe Ende des Seils und steige in die letzte, kurze Seillänge ein, die auch nochmal eine der Schlüsselstellen enthalten soll. Zumindest ist sie erneut mit V+ bewertet und ich habe ja bereits in der 1. Seillänge gelernt, was das hier heißen kann. Es geht durch eine hübsche Verschneidung empor und an einem Haken sehr konsequent nach links – nicht weiter in der Verschneidung klettern.
Ich klemme mich kurz um einen luftigen kleinen Pfeiler herum und erreiche ein mäßig angenehmes, etwas tiefer liegendes Band. An dessen linker Seite zieht ein steiler, etwas abdrängender Riss hinauf. Es sind nur 2 oder 3 Meter bis sich der Fels spürbar nach hinten lehnt. Aber hier verheddere ich mich nochmal komplett und komme in eine Position, die ich nicht mehr sauber aufgelöst kriege. Erneut hänge ich im Seil. Die Stelle ist luftig, kleingriffig und recht abdrängend – für mich macht hier aber vor allem der Kopf dicht. Denn um die Sicherung an der schwersten Stelle einzuhängen, muss ich eine Position finden, in der ich die Stelle an einem Arm halten kann. Irgendwie will mir das nicht gelingen. Und der hier recht wahrscheinliche “Bodensturz” auf das Band wäre zwar bestimmt keine Katastrophe – lächelt mich aber auch nur bedingt an.
Untypisch dynamisch gehe ich an den guten Griff, den ich im Versuch zuvor links vom Riss gefunden habe. Beide Beine schwingen raus – ich bringe sie sehr hoch an die Wand. Würde ich so eigentlich eher in der Boulderhalle machen. Das Manöver ist aber insofern effektiv, als dass ich an nun neuen Griffen ein wenig höher bin und wie gehofft leichter clippen kann. Die Rechnung habe ich nur ohne den Pump gemacht, der sich langsam aber stetig im blockierenden Arm einschleicht. Eine gefühlte (und wahrscheinlich auch tatsächliche) Ewigkeit versuche ich das Seil einzuhängen und mache beim Seil hochziehen immer wieder einen Rückzieher. Zu wenig traue ich meiner Hand – gefühlt könnte sie sich in diesem Zustand jederzeit öffnen.
Irgendwann gelingt es mir doch. In eigener Wahrnehmung ziemlich am Limit und mit einer Portion Glück. Wirklich “gut” waren die vermeintlichen Henkel, die ich über dem Riss angesprungen bin nämlich nicht und die mentale Verfassung an dem Tag hat keinen kühlen Kopf zugelassen.
Danach führen ein paar sehr feste Henkel und Kanten rasch aus der steilen Wand und in eine gutmütige Platte zum Standplatz am Grat. Zum Glück – so viel mehr hätte ich an der Stelle nicht mehr gebraucht. Obwohl die Crux erneut extrem kurzweilig ist – eine trickreiche, kleine Stelle, die mir erneut relativ hart erscheint. Kann aber wie immer auch an der Tagesform liegen.
Abstieg zur Wangscharte (I-II)
Wir erreichen den beeindruckenden Grat der Schüsselkarspitze. Nach Süden fällt die eben durchstiegene, plattige Südwand ab. Nach Norden geht es reichlich steil ins legendäre Oberreintal. Dazwischen die scharfe und kühne Gratschneide des Schüsselkar-Westgrates. Diese beeindruckt zwar mit festem Fels ist aber gleichzeitig spektakulär ausgesetzt. Vor allem der Weiterweg in Richtung Hauptgipfel sieht ziemlich unwirklich aus. Zum Westgratturm setzt eine senkrechte, kühne Kante an, die direkt über der senkrechten Südwand in die Höhe führt und an dieser Stelle der Weg der Wahl wäre. Dinge, mit denen man sich heute nicht mehr auseinandersetzen muss.
Allein der Abstieg hat es in sich. Wir verstauen eines unserer 60 Meter Halbseile am Rücken – wir werden es zunächst nicht brauchen. Dann suchen wir den Abseilring, der hier einige Meter weiter in Richtung Westen am Grat kleben soll. Er ist von oben beinahe nicht einzusehen und ein bisschen weiter entfernt, als man sich wünschen würde. Man bleibt konsequent auf der Gratkante und geht dabei auch einen sehr scharfen, fingerartigen Block an. Das ist wieder die Art von Abstieg, bei der man sich kurz fragt, warum man die Wand gerade eben mit Seil durchstiegen ist um nun heikles, ungesichertes Gelände in Kauf zu nehmen. Soll der Sache keinen Abbruch tun. Uns war das bewusst. Der Grat ist dennoch scharf und nicht völlig trivial und man tut gut daran, am Ausstieg aus der Kletterei nicht direkt das Hirn auszuschalten und sich auf eine Abseilpiste zu freuen.
Zumindest darf man bis zum Beginn dieser noch einige Meter am Grat machen, die keinen Fehler verzeihen.
Der einzelne Klebehaken befindet sich dann hinter einem äußerst luftigen Eck, an dem der Grat steil abbricht. Wenn man Lust hat, kann man hier auch abklettern – der Fels scheint fest und einigermaßen gestuft. Irgendwo im II. oder vielleicht auch III. Grad wird sich das aber schon abspielen. Von oben kommend ist uns das heute ein bisschen zu wild und wir freuen uns über die vorhandene Möglichkeit abzuseilen. Knapp 25 Meter Abseilfahrt bringen einen auf ein breites Schotterplateau mit einer deutlichen Pfadspur.
An dessen westlichen Ende winkt ein roter Pfeil und rote Punkte. Eine kurze Rampe an einem Felsköpfl führt in leichter Kletterei zu einem rot markierten Abseilring. Hier zücken wir den zweiten Seilstrang und seilen 50 Meter über herrliche, kompakte Platten in die noch schneebedeckte Wangscharte ab. Besonders kühn ist erneut die gegenüberliegende Scharnitzspitze. Ihre wilden Gipfelzacken, ihre makellose Südwand. Sie ist ein wenig die Siegerin der Herzen heute – sie hat wesentlich mehr neugierige Blicke von uns erhalten als die Schüsselkarspitze oder andere, umliegende Berge und Wände. Und ist auf unserer Wunschliste ein Stückchen höher gerutscht. Auch wenn wir – aus zuvor erwähnten Gründen – wahrscheinlich nie ganz unbefangen in dieser Wand unterwegs sein können.
Abseilen von der Wangscharte
Die Wangscharte ist auf 2351 Metern ein markantes Zwischenziel im Abstieg von der Schüsselkarspitze. Hier treffen auch Abstiege von der gegenüberliegenden Scharnitzspitze über deren Grat ein und über die hier deutlich abgesenkte Südwand geht es zurück zum Ausgangspunkt. Wir suchen kurz um den richtigen Abseilstand zu finden – denn Hannah findet initial eher grenzwertiges Material. Tatsächlich steigt man ziemlich mittig der Wangscharte noch einige Meter in einer brüchigen Rinne zu den massiven Abseilringen ab. Damit ist eigentlich auch schon das meiste gesagt – falls hier bereits eine Seilschaft abseilt ist es vernünftig kurz zu warten. Man kommt zwar auch ohne Steinschlag durch aber ein gewisses Risiko besteht und die darunter liegende Wand ist ziemlich makellos. Die Abseilpiste bleibt lange Zeit in der direkten Falllinie des kleinen Kanonenrohrs.
Wir entscheiden uns für die schnelle Variante. Man käme hier auch mit 4 x 15 bis 20 Metern runter. Als ich mich in die irrsinnig plattige Wand begebe sehe ich aber rasch, dass die 60 Meter auch leicht bis zum Boden reichen. Ich erreiche das Schneefeld zwischen Schüsselkarspitze und Scharnitzspitze und gehen ein wenig aus dem Steinschlagbereich – Hannah folgt rasch. Eigentlich entspannt. Beim Abziehen verhängt sich das Seil aber an einem Block – keine Chance. Vielleicht wäre ein Zwischenstopp doch ratsam gewesen.
Seilrettung
Ich steige mit dem zweiten Seil, welches wir bereits am Boden hatten mehr oder weniger entlang der Route Schartenriss (VI) nochmal auf und befreie das Seil. Astrein eine Schlaufe in einem Riss verkeilt. Ein Klemmkeil aus Seil. In der sächsischen Schweiz hätten wir es damit weit gebracht. Heute ist es eher ein nervige Verlängerung, die dank nun wieder stabilerem Wetter und absoluter Einsamkeit in der Wand (und der Abseilpiste) aber sehr dankbar ausfällt. Ich seile mich erneut aus der Mitte der Wand ab und ziehe das Seil diesmal erfolgreich ab.
Abstieg
Dann geht es nur noch auf bekannten Wegen zurück ins Gaistal. Vorbei an der Wangalm um einen Kaffee zu tanken. Hier ist inzwischen Hochbetrieb und heute ist zusätzlich Almauftrieb einiger Schafherden.
Naja und dann einfach zurück ins Tal zu den üppigen Parkplätzen und E-Bike-Pisten. Ein ganz typisches Wochenende im Jahr 2024. Nicht wirklich wie geplant – aber trotzdem schön. Und bergig.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Überwiegend einfacher aber landschaftlich schöner Weg durch die Wand. Die drei Schlüsselstellen (Einstiegswandl, Riss 1. SL, Ausstiegswandl) stechen aber ziemlich markant aus dem sonst wesentlich entspannteren Gelände hervor und fallen für meinen Geschmack auch eher knackig aus. Je nachdem wo man sonst klettern geht (Sarcatal höhö), kann es sein, dass man hier durchaus überrascht wird. Die Überraschung beschränkt sich dann aber jeweils auf wenige Meter oder einzelne Züge und ist stets brauchbar abgesichert.
Dazwischen überwiegen einfache Schrofen mit einigen interessanten Momenten und einer schönen, homogenen Plattenlänge im oberen Teil. Auf jeden Fall befindet man sich in einem eindrucksvollen und geschichtsträchtigen Eck des Wettersteingebirges – wenn auch in einer relativ neuen und kurzen Route. Die Phantasia selbst ist bestimmt nicht unlohnend – ich habe gelesen, dass sie schöner als die Siemens / Wolf ist – man macht den lange Weg aber in diesem speziellen Fall schon eher wegen dem Gesamterlebnis und der Landschaft als wegen der reinen Klettermeter. In Kombination mit dem für die geringe Kletterstrecke etwas umständlichen Abstieg ergibt sich dann doch ein etwas ausgedehnteres Programm, in dem die eigentliche Route einen eher kleinen Part einnimmt.
Die Absicherung ist gut – einige Bohrhaken in den Seillängen, doppelt am Standplatz. Die Abstände können im einfachen Gelände recht weit ausfallen, die Phantasia ist keine einfache Sportkletterei sondern eine brauchbar abgesicherte Alpinroute. Es gibt Stellen, an denen man definitiv nicht stürzen will. Anders als in manchen Beschreibungen finde ich aber, dass es Friends und Klemmkeile nicht wirklich braucht. Mir fallen auf Anhieb nicht viele Stellen ein, wo man diese überhaupt gewinnbringend einsetzen könnte. Ich hatte einen #1 Friend in der 1. Seillänge im Riss. Das war’s. Und auch der hatte – einen recht kletterbaren Meter unterhalb eines Bohrhakens – eher dekorative Zwecke. Im Zweifel hat man ein paar Kleinigkeiten am Gurt hängen – für die schweren Stellen braucht man sie nicht. Und wenn man die schweren Stellen meistert: für die leichten eigentlich auch nicht.
Ansonsten Seile (min. 50 Meter Einfachseil für den Abstieg), Helm, ein paar Exen. Schlingen, falls man vor hat am Grat zum 1. Abseilhaken zu sichern. Die Route selbst ist nicht wirklich für einen Rückzug eingerichtet – wir haben uns aber mental für den Falle eines an dem Tag nicht ganz unwahrscheinlichen Gewitters einen Rückzug über die Siemens / Wolf zurechtgelegt. Dort sind doppelte Klebehaken an den Standplätzen. Mit der “schiefen” Routenführung aber definitiv nur eine Idee für Notfälle.
Zusammenfassung
Verträumter Morgen in einer besonderen und für uns wie so oft völlig einsamen Wand – deren Gesamtanspruch uns beeindruckt hat. Nichts völlig Schockierendes – aber wir waren gefordert. Von einigen Zügen im kalten Fels, von einem kurzen Ritt auf sehr scharfem Grat, von einem üppigen Abstieg und einer selbstgemachten Ehrenrunde unter der Wangscharte.