Kleines Sonnenspitzl (2556m) via Esperanto (VI-)
Kleines Sonnenspitzl (2556m) via Esperanto (VI-)

Kleines Sonnenspitzl (2556m) via Esperanto (VI-)

Der Grand Capucin des Wettersteingebirges!

Keine Zweifel

Zu so einem Urteil komme ich zumindest, als ich das kleine und exponierte Gipfelkreuz des Kleinen Sonnenspitzl erreiche. Und eigentlich komme ich da auch nur drauf, weil ich kurz zuvor am Mont-Blanc-Massiv an besagtem Grand Capucin vorbeigelaufen bin und im Zustieg zur heutigen Tour ein leichtes Deja-Vu erleide.

Gewisse Gemeinsamkeiten sind wirklich nicht von der Hand zu weisen: wie der Grand Capucin ist auch das Sonnenspitzl von seiner direkter Nachbarschaft massiv überlagert und verschwindet aus den meisten, gängigen Perspektiven komplett vor höheren Wänden. Beide Berge sind nur kletternd zu erreichen – im Falle des Sonnenspitzl auf der leichtesten Wegführung immerhin recht ausdauernd im IV. Grad. Und der Grand Capucin gilt als der schwerste Gipfel der Alpen. Da hält das Sonnenspitzl wohl kaum mit – aber es dürfte eines der exklusivsten und nominell härtesten richtigen Gipfelkreuze im Wettersteinmassiv sein. Bevor ich mich in weiteren abwegigen Vergleichen verliere, schauen wir uns besser einfach mal das Sonnenspitzl an.

Ein erster Blick aus dem Gamskar zum Tagesziel (links der Bildmitte)

Wer schonmal über den Stopselzieher auf die Zugspitze gewandert ist, dem wird wahrscheinlich der kühne und dem Hauptmassiv vorgelagerte Zapfen neben der Wiener-Neustädter-Hütte ins Auge gestochen sein. So richtig markant wird das Türmchen dabei erst, wenn man sich bereits im Klettersteig befindet und einen Blick gen Tal wirft. Und – wie es nur die wenigsten Türmchen von diesem Format von sich behaupten können – den Gipfel schmückt ein hübsches, einsames und eisernes Gipfelkreuz.

Interessant.

Als mir dann der Kletterführer in die Hand fällt, bin auch über die drei dort vermerkten Routen auf das Sonnenspitzl gestolpert: den Normalweg (IV bzw. Variante IV+), die Esperanto (VI-) und Die Schwere (VII). Und in der Draufsicht und Machbarkeit hat man sich auf die Esperanto eingeschossen und diese in einer der langen Wunschlisten vermerkt, die ständig länger statt kürzer werden und denen man im Leben nicht mehr Herr wird.

Dass wir diese Route im Sommer 2024 aus besagter Liste hervorkramen liegt vor allem daran, dass wir das für dieses Jahr obligatorische Gewitter im Nacken sitzen haben und halbwegs interessante, irgendwie alpine aber in Summe doch planbare Klettermeter im Nahbereich um Garmisch suchen. Zum Glück haben wir das. Wir wurden mehr als überrascht. Auch vom Gewitter. Aber vor allem von dem genialen Gipfel über dem österreichischen Schneekar.

Zustieg zur Wiener-Neustädter-Hütte

Auf gewohnten Pfaden geht es von der Talstation der Ehrwalder Zugspitzbahn die Waldschneise empor und wenig später in den Schotter des Gamskars. Diesen Weg auf die Zugspitze haben wir beinahe schon im Muskelgedächtnis verinnerlicht. Er ist steil und direkt – mit der notwendigen Kondition aber auch äußerst schnell und elegant. Und wir müssen ja ohnehin nur zur Wiener-Neustädter-Hütte, die ein beliebtes Etappenziel für viele Stopselzieher-Aspiranten ist. Obwohl es ringsum auch einige Klettereien gibt – so richtig beobachtet habe ich das bisher noch nicht.

Die Sonne geht auf, als wir aus den Latschen hinaus in die Weiten des Gamskars treten. Erkennbar ist das nur am Gegenlicht in den gegenüberliegenden Ammergauer- und Lechtaler Alpen. Unter den Mauern der Zugspitze wird es noch eine ganze Weile schattig bleiben. Zickzack am Gondelmasten vorbei, Querungen und Stahlseilpassagen und um die Ecke zur Wiener-Neustädter-Hütte. Easy. Unter kritischen Blicken biegen wir in das grobe Geröll über der Hütte ab und halten auf unser Ziel zu, welches heute (und gefühlt auch sonst) bei niemandem auf dem Programm steht.

Schattige Querungen unter der Wiener-Neustädter-Hütte
Zustieg zur Wand

Die Wand ist von der Wiener-Neustädter-Hütte ziemlich schnell und gemütlich erreicht. Die kleine, marode Holzhütte unter der Westwand des Sonnenspitzls weist den Weg, danach geht es auf schwacher Pfadspur durch steilen Schotter an den Wandfuß. Wer hier nun in das definitiv gangbare Gelände am tiefsten Punkt der pfeilerartig auslaufenden Wand einsteigt, landet auf dem Normalweg. Für die Esperanto geht es einige wenige Meter links entlang zu einer etwas versetzten und recht kompakt und plattig anmutenden Rampe. Ein vager Pfeil und Routenname an der Wand bestätigt die Wegwahl – ist aber auch rasch übersehen.

1. Seillänge (III)

Den mit 20 Metern recht kurzen und gemütlich geneigten “Vorbau” klettern wir aus Versehen seilfrei. Ich bin mir bereits ziemlich sicher, dass wir schon in der ersten Seillänge sind – Hannah glaubtfür einige Meter mehr noch an Zustiegsgelände und lässt sich erst durch zwei Bohrhaken auf unserem Weg überzeugen. Besser als die unbemerkte 5/5+ am Piccolo Dain ist das allemal und der Praxistest zeigt, dass sich die Länge auch mit Stöcken in der Hand noch gut gehen lässt.

Ob man sich nun unten im steilen Schotter vorbereitet oder wie wir noch zum einigermaßen breiten Absatz unter der eigentlichen Kletterei aufsteigt ist Geschmacksache – viel erwarten sollte man von der Seillänge auf jeden Fall nicht und auch der III. Grad wird kaum in erwähnenswerter Manier erreicht. Das erreichte Band bietet genug Platz um ohne Absturzrisiko zu operieren – allerdings auch nicht wesentlich mehr.

Ups

Wir schlüpfen ins unsere Schuhe und Gurt, bestücken letzteren und ich starte in das noch ziemlich schattige und kalte Wändchen. Ein komischer Trend, dass ich neuerdings die erste Seillänge mache. Sollt dringend behoben werden…

2. Seillänge (V-)

…denn wie schon einige Wochen zuvor in der Phantasia, gibt mir die Kletterei mittels Kaltstart auf den Deckel und schmälert das Selbstbewusstsein für einige Minuten.

Der plattige Aufschwung ist etwas eigenartig nach unten geschichtet – wirklich schöne Tritte oder Griffe gehen sich im kompakten Kalk nicht aus. Die Absicherung ist zwar fein – an glänzenden, frischen Bohrhaken in brauchbaren Abständen und einem einwandfreien Standplatz – eine V- habe ich mir aber anders vorgestellt. Ich erreiche etwa auf halber Strecke durch die Seillänge einen seltsam abdrängenden Wulst. Der Haken lässt sich noch nicht einhängen und der Sturzraum auf ein Band nicht ideal. Neben der Tatsache, dass ich im ungewohnten Fels keinen Tritt oder Griff finde, dem ich 100% vertraue, schaltet sich nun auch der Kopf ein.

Ich eiere für eine Weile rum, während hinter mir langsam die Sonne in das österreichische Schneekar wandert. In der nächsten Seillänge wird Hannah schon ins Licht steigen. Aber hier ist es gerade wirklich noch eisig-ungemütlich. Intuitiv würde ich den Wulst gerne links umklettern – der Fels scheint hier gestufter und griffiger. Die Haken führen dagegen direkt über ihn beziehungsweise leicht rechts vorbei was mich in einen ziemlich eigenartigen und harten Aufrichter zwingt.

Warum ist das schon wieder so zach?

Irgendwann kriege ich die Stelle hin und erreiche belastend abgekämpft über eine einfache Rinne etwas abseits der vorgesehenen Linie den Standplatz auf einer markanten Schuppe. Zuvor habe ich aber mit reichlich Aufwand über links die Zwischensicherung eingehängt und nochmal pausiert – das war die Voraussetzung, um mich in den Move rechts zu trauen. Kaltstart. So ein Schmarrn.

Hannah die meine Show vom Stand beobachtet hat steigt nach, findet den Fels und Aufrichter auch recht eigenartig und klettert oben über die direkte, kompakte Platte zum Standplatz. Ein wenig Spannung liegt schon in der Luft – die nächste Seillänge beinhaltet direkt die Schlüsselstelle unserer Tour und liegt immer noch im Schatten und mutmaßlich auch in sehr ähnlichem Fels. Ich sage bewusst Spannung und nicht Anspannung. Ein Rückzug wäre hier entspannt möglich – eigentlich haben wir überhaupt keinen Stress.

3. Seillänge (VI-)

Hannah steigt nach rechts vom Standplatz weg und erreicht die offensichtliche Crux: eine abdrängende und kleingriffige Wandstelle im (auf dem Papier) unteren 6. Grad.

Anders als mir zuvor gelingt ihr nach einem Hänger rasch der kurze aber kräftige Zug, der auf ein schmales Band führt. Hier würde man sich einen Haken wünschen – dieser liegt aber erst einige Meter höher, sodass im Riss rechts über der Schlüsselstelle der erste (und einzige?) Friend zum Einsatz kommt. Hannah verschwindet aus meinem Blickfeld und erreicht die Sonne – dann höre ich das Kommando zu nachsteigen.

Die Schlüsselstelle, für die ich mir nach meinem wenig ruhmreichen Kaltstart etwas Chaos ausgerechnet habe, gelingt dann überraschend gut und in einem Stück. Die Kletterei liegt mir mehr. Es gilt zwar wirklich sich kurz an recht kleinen und scharfen Leisten festzuhalten – man findet im rauen Kalk aber auch ein paar einigermaßen gute Tritte und kann über die Kante und auf das Band greifen. Dort wird man nur überrascht sein, dass es hier nicht wie üblich den einen Henkel gibt, der einen aus dem steilen Fels rettet. Manches ist locker, Vieles ist unkonkret und nicht allzu griffig. Die eigentliche Schwierigkeit ist nach meinem Geschmack also das verlassen der steilen und luftige Crux – obwohl man diese in der eigenen Wahrnehmung bereits überwunden hat.

Danach setzt steile und plattige Kletterei an – zunächst durch eine kurze Rissverschneidung und dann durch flacher werdendes und sich gut auflösendes Plattengelände.

Aaah…Sonne

4. Seillänge (II)

Der Standplatz an einem Block vermittelt den Übergang in ein wirklich flaches Wandstück – man könnte es auch einfach Gehgelände nennen. Ich genieße die ersten Sonnenstrahlen, die direkt vom benachbarten Zugspitzgipfel zu uns runterbraten und flitze schnell durch die Seillänge, in der sich für die gebotene Kletterschwierigkeit doch einige Haken finden lassen.

Hier hat man nur die Chance zu weit nach rechts abzudriften und auf das Hakenmaterial vom Normalweg und seiner Variante “Äppelerswändli” zu entdecken und anzupeilen. Auf’s Sonnenspitzl gelangt man so allemal. Nur eben nicht mehr über die Esperanto, die hier eher linkshaltend auf eine ansteigende Rampe abzielt. Der Standplatz befindet sich einige Meter vorgelagert an einem Block.

5. Seillänge (V)

Wir kommen langsam aber sicher in den Flow. Die Finger sind aufgetaut, die Umgebung vertrauter und übersichtlicher, die Ruhe hier oben wohltuend. Hannah geht die nächste Seillänge an. Diese führt – in unserer übereinstimmenden Einschätzung wesentlich einfacher als die leichter bewertete 2. Seillänge – auf den plattigen Rücken und dort ansteigend durch eine hübsche Rissverschneidung empor. Die Platte ist mit reichlich positiven Tritten ausgestattet, die Rissverschneidung lässt sich schön und griffig angehen! Geiles und flowiges Gelände. Nur die Runouts werden hier ein wenig länger und man muss schon zweimal hinschauen, bis man die nicht zu zahlreichen Haken überhaupt entdeckt.

Im österreichischen Schneekar herrscht inzwischen Trubel, der Stopselzieher gleicht einer Ameisenstraße. Am Sonnenspitzl sind wir völlig allein und nur die regelmäßigen Rufe im Schneekar und das Surren vorbeigleitender Seilbahnen erinnert an die Außenwelt.

6. Seillänge (V+)

Ich gehe das an, was sich als die wahrscheinlich schönste Seillänge der Route herauskristallisiert – 40 Meter unfassbar anhaltende Kletterei im oberen 5. Grad. Dabei wird luftig und steil ein plattiger Pfeiler erklettert, der mit kleinen Leisten und spannender Kletterei punktet. Weniger rupfen, weniger Kraft – dafür präzise und teils kühne Tritte, Balance und technische Einzelstellen. Ziemlich beeindruckend und an diesem Tag genau so, dass ich gefordert und nicht überfordert bin – zwei Zustände die heute relativ eng beinander zu liegen scheinen.

Einstieg in die äußerst schöne und homogene 6. Seillänge

Auf dem letzten Meter mündet der Pfeiler in einer extrem brüchigen Schotterrinne und obwohl Steinschlag auf seinen Sicherer kaum vermeidbar ist sollte er natürlich vermieden werden. Der Standplatz ist zudem wahrscheinlich einer der ungemütlicheren am Sonnenspitzl. Ich hole Hannah nach, die wenig später begeistert ihren Kopf über die Kante streckt und zu mir aufschließt. Die Wiener-Neustädter-Hütte liegt nun schon ganz schön weit unter uns – ein Blick ins Topo verrät aber, dass wir gerade mal knapp über die Hälfte der Seillängen geklettert sind und uns noch vier Längen vom Gipfelkreuz trennen. Sah gar nicht so groß aus, dieses Sonnenspitzl. Fühlt sich inzwischen aber durchaus groß an.

Hannah am Ende der 6. Seillänge
7. Seillänge (IV+)

Plattig, kompakt und griffig geht es aus dem steilen Wandabschnitt hinaus in wieder etwas einfacheres Gelände. Einer vagen Rinne folgend erreicht man einen weiteren Absatz mit Platz und flachem Gelände, an dem der vorletzte Aufschwung zum Gipfel ansetzt. Das wissen wir natürlich noch nicht. Rein optisch, würde man jederzeit einen ersten Blick auf das kleine Gipfelkreuz erwarten und ist mehr als überrascht über das doch einigermaßen unübersichtliche, verschlungene und gestufte Gelände, das sich auf diesem kleinen Türmchen tummelt.

8. Seillänge (IV-)

Ich überquere ein wenig Schotter und steige einen kurzen Kamin durch ein plattiges Wändchen hinauf auf ein Schotterband. Keine wirklich interessante Seillänge – allerdings mit einigen potentiellen Geschossen für den Nachsteiger bestückt und entsprechend vorsichtig anzugehen.

9. Seillänge (V-)

Ein wenig Schrott vom Technohügel Zugspitze muss auch hier rüber geweht sein – zumindest führen die Bohrhaken der 9. Seillänge durch reichlich rostige Stahlkabel, die vielleicht mal zur Befestigung des Gipfelkreuzes gedient haben und dann einfach in die Wand geworfen wurden. Ein kurzer, griffiger aber nicht ganz fester Überhang will noch überwunden werden – danach geht es relativ gemütlich im inzwischen bekannten Gelände auf den letzten, flacheren Absatz von dem nun auch nur 30 Meter höher das kleine Gipfelkreuz auszumachen ist.

Yeehaww

Bei aller Freude über den bald erreichten Gipfel kann man auf den letzten und leichten Metern aber nochmal richtig wirkungsvoll abschmieren: obwohl sie kompakt aussieht ist die hier zum Gipfel ziehende Platte extrem morsch – viele Griffe und Tritte lassen sich einwandfrei abräumen und die Absicherung ist dem geneigten Gelände angepasst recht dünn.

10. Seillänge (III)

Wie auf rohen Eiern wurschtel ich mich die letzten Meter zum Gipfel empor und versuche Hannah, die etwaigem Bombardement schutzlos ausgeliefert wäre, nicht doch noch einen Stein überzuziehen. Einige Meter umsichtige Kletterei später erreiche ich das Gipfelkreuz, wuchte mich hinauf und krall mich erstmal an dem soliden Eiskreuz fest. Leck’ ist das schmal alles.

Während Hannah am Gipfelkreuz gesichert nachsteigt schaue ich mich ein wenig um. Ein sehr spezieller Gipfel – so viel steht fest. Direkt gegenüber hängt die fast schon beklemmend üppige und unstrukturierte Wand des Zugspitzecks, welches uns nochmal um 250 Höhenmeter überragt. Nach Ehrwald absolut freier Fall ins Gamskar, wo sich rund 800 Meter unter meinen Füßen der Aufstiegsweg durch den Schotter schlängelt. Der Gipfel selbst ähnelt eher einem Grat – einem verdammt schmalen Grat. Rangieren oder Picknickdeckenwerfen geht sich fast nicht aus, ich klemme wie auf einem Reitgrat auf der schmalen Schneide.

Der wahre Gipfel überragt das Gipfelkreuz nochmal um 2 Meter und ist über eben den schmalen Grat zu erreichen, auf den auch das kleine Gipfelkreuz genagelt wurde. Nach Süden führt ein Kamin auf ein abschüssiges, mit Kies überzogenes Plateau, welches an die dustere Schlucht zwischen Sonnenspitzl und Zugspitzeck führt. Am Ende dieses Laufstegs soll ein Abseilring einen Weg in die Schlucht und zurück ins Gamskar ermöglichen – der übliche Abstieg. Ein wilder, kleiner Gipfel.

Hannah in der letzten, brüchigen Seillänge

Laut Gipfelbuch gab es in den letzten Jahren nur 3-4 Besteigungen. Schlägt man eine weitere Seite um, ist man eigentlich schon bei meinem Geburtsjahr. Ich überschlage kurz, ob ich jemals auf einem derart einsamen Gipfel stand – zumal ich davon ausgehen würde, dass die meisten Aspiranten der hier gebotenen Klettereien nicht auf den Eintrag in das hübsche Büchlein verzichten werden. Ich komme zu dem Ergebnis, dass das mein einsamster Gipfel bisher sein müsste. Selbst gewisse (und hier natürlich nicht dokumentierte) Terrortürmchen in den Ammergauer Alpen, deren Existenz von Locals akribisch verschwiegen wird sind regelrechte Modetouren im Vergleich zu der Frequenz, in der hier geklettert wird.

Das klingt jetzt alles sehr episch. Aber irgendwie passt das auch so gar nicht zu der Kletterei, die wir hier vorgefunden haben. Ist den Leuten wirklich der Zustieg zu weit? Geht wirklich niemand zum Klettern auf die Wiener-Neustädter-Hütte? Andere Routen von viel zweifelhafterer Qualität werden an Sommertagen selbst unter der Woche regelrecht überrannt, während hier beinahe perfekt eingerichtete Kletterrouten auf einen wirklich eindrucksvollen Gipfel im Dornröschenschlaf schlummern?

Oder liegt es etwa am Abstieg, der beinahe eine eigenständige Unternehmung darstellt?

Abseilen über “Die Schwere”

Da uns das Gelände hinter unserem kleinen Spitzl nicht wirklich anlächelt, entscheiden wir uns für die im Panico Kletterführer erwähnte Option über die Nachbarroute Die Schwere abzuseilen. Der etabliertere Abstieg würde vom Gipfel in die düstere Schlucht zwischen Sonnenspitzl und Zugspitzeck führen und hier mit Abseil- und Abkletterpassagen wieder ins österreichische Schneekar führen. Da uns Panico aber den Flo ins Ohr gesetzt und wir aus der Nachbarroute ideales Material haben blitzen sehen, entscheiden wir uns für die Sonnenseite. Ein wenig Argwohn ist dabei – es ist immer ein gewisses Wagnis über eine Route abzuseilen, die man nicht bereits im Aufstieg begutachtet hat. Zumal wir uns hier weiterhin in einer einsamen und wenig besuchten Vertikale bewegen.

Im Hinterkopf haben wir aber auch, dass wir, falls uns das vorgefundene Material nicht gefällt, auch in die Esperanto ausweichen und über diese Abseilen können. Die Stände sind zwar unverbunden, allerdings mit je einem Klebehaken ausgestattet, der sich über dem jeweiligen Bohrhaken befindet. Nicht ganz Lehrbuch – besser als Dolomiten allemal.

Zum Glück kommt es gar nicht dazu, Die Schwere ist absolut passabel zum Abseilen eingerichtet. Die Stände sind verbunden, an zwei Stellen opfern wir ein wenig Reepschnur um die Standplätze nachzubessern. Es befindet sich auch in jedem Stand ein Ring, Schraubglied oder Schraubkarabiner. Das Manöver sollte trotzdem nicht unterschätzt werden – wahrscheinlich ist der übliche Abstieg schon schneller. Immerhin 7 Mal darf mit 60 Meter Doppelseilen abgeseilt werden. Da die Seillängen der Route einigermaßen lang sind, gibt es keine geschickten Abkürzungen oder Möglichkeiten zum Zusammenlegen.

In den oberen Längen lassen wir ab um den Steinschlag zu minimieren. Wer hier abseilen möchte, sollte sich zu 200% sicher sein, dass keine Seilschaft mehr über die Route auf- oder absteigt. Wir sind das heute. Speziell die oberen beiden Abseilfahrten bergen ein ziemlich offensichtliches Steinschlagrisiko und alles was sich hier oben löst nimmt in dem darunter liegenden Plattenpanzer so richtig Fahrt auf. Zum Glück ist man an den Standplätzen beim Abziehen aber einigermaßen geschützt.

Plattenmeer

Beim 3. Abseiler leiste ich mir einen kleinen Fehler und verpasse den im gigantischen Plattenmeer beinahe unsichtbaren Standplatz nach 42 Metern. Nach einigem Suchen wird es mir zu blöd und ich parke mich an einem Bohrhaken und einer kleinen Sanduhr. Hannah findet den Standplatz dann, richtet den nächsten Abseiler ein und es geht weiter durch die beeindruckenden Wasserrillen.

Meer Plattenmeer

Eine weitere Abseilfahrt später landen wir auf einem Absatz, an dem ein Fixseil nach rechts in die Wand führt. Spannend. So ganz offensichtlich ist nicht, wo es hier weitergehen soll – zum Wandfuß fehlen noch rund 100 Meter. Von dem durchaus aufwendig gespannten Fixseil ist in der Topo auch nichts zu sehen. Rückblickend würde ich sagen, dass man diesem wohl einige Meter exponiert in die Wand folgen und dann vom letzten Befestigungshaken des Seiles mit Schraubglied abseilen kann. Über diesen Weg gelangt man ziemlich direkt auf den nicht ganz offensichtlichen Standplatz auf einem schmalen Pfeiler in einer großen Verschneidung.

Wir wissen es zu diesem Zeitpunkt nicht besser und seilen direkt vom Standplatz auf dem Plateau ab. Das geht sich auch gut aus – es gilt nur 35 Meter zu überwinden. Allerdings darf unten raus kräftig gependelt werden, um den Standplatz (im Abstiegssinne rechts) zu erreichen und mit reichlich senkrechtem Kalk unter dem Hinter ist das ein Manöver, das bestimmt nicht jeder als uneingeschränkt lustig empfinden wird. Ich muss hier sogar eine kleine Stelle auf den Pfeilerkopf klettern, während das Seil droht mich nach hinten wieder in die Wand schwingen zu lassen.

Der Feierabend ist zum Greifen nah. Noch einmal richtig weit und ordentlich luftig abseilen. Idealerweise nicht über die brüchige Rinne linkerhand sondern auf dem Pfeiler bleibend, über den auch die erste Seillänge Der Schweren verläuft. Schaut ziemlich interessant aus und landet auf dem Wunschzettel – der Kalk hat hier punktuell fast granitartige Formationen gebildet und ragt in dunklen, glatten Platten mit symmetrischen Rissen und Verschneidungen empor.

Hannah landet unten auf dem kleinen Altschneefeld am Wandfuß und stapft in aperes Gelände. Ich folge, bestaune kurz die auch hier lohnend und gut abgesichert anmutende Kletterei und hüpfe dann auch über die kleine Randkluft auf den steilen, rutschigen Firn.

Seil abziehen & Abfahrt

Inzwischen ist es zugezogen und ein paar düstere Wolken verdecken das Zugspitzmassiv. Obwohl wir zum angekündigten Nachmittagsgewitter noch reichlich Puffer haben, baut sich im Westen über den Ammergauer Alpen schon eine dunkle Wand auf. Als wir die Wiener-Neustädter-Hütte passieren, donnert es das erste Mal. Da es auf den Nachmittag und Abend erst so richtig losgehen soll, entscheiden wir uns für den Trailrun nach Ehrwald. Soll ja Leute geben, die das hauptberuflich machen.

Abstieg
Renn oder brenn

30 Minuten später stehen wir schon auf der Waldschneise, die in wenigen Metern zur Talstation der Zugspitzbahn führt. Nass geworden sind wir. Eindrucksvolle Wasserfälle in den wilden Westwänden des Zugspitzmassivs durften wir auch bestaunen. Hat schon was, dieses Trailrunning. Die Entscheidung war auf jeden Fall die richtige, denn das was danach kommt dürfte eines der gröberen Unwetter der Sommersaison 2024 gewesen sein, das ich auch nur ungern auf der Wiener-Neustädter-Hütte ausgesessen hätte.

Kurz WhatsApp tippen. Bekannte von uns waren heute genau gegenüber am Daniel unterwegs, der etwas früher in den Wolken verschwunden ist. Sie sind schon lange wieder unten.

Träumchen.


Schwierigkeit, Versicherung und Material

Bestimmt eine etwas inhomogenere Tour, die wir uns aber uninteressanter und rustikaler vorgestellt haben. Stattdessen gibt es gute und neuwertige Absicherung, überwiegend festen Fels und ein eindrucksvolles Türmchen zu erleben. In Summe mit Zustieg, Abstieg und Abseilfahrt und Abstieg ergibt sich dann doch ein eindrückliches Tagesprogramm in einer hübschen Ecke des Wettersteingebirges. Die Kletterei – unterbrochen von einer Seillänge Gehgelände und einigen brüchigen Schrofenpassagen – ist in den meisten Längen ziemlich lässig und abwechslungsreich. Gerade die vier Seillängen im oder über dem 5. Grad lassen sich keinesfalls auf Einzelstellen reduzieren, sondern sind tolle, anhaltende Klettermeter und auch im 4. Grad lassen sich noch tolle Abschnitte finden. Die Schwierigkeiten sind für meinen Geschmack recht passend bewertet – die Crux bestimmt nicht geschenkt aber auch recht kurz.

Die Esperanto ist gut aber nicht übertrieben mit soliden Bohrhaken abgesichert, an den Standplätzen befindet sich ein Bohr- und ein Klebehaken. Im leichten Gelände gibt es auch weitere Runouts, die sich im plattigen Gelände nicht immer mit mobiler Absicherung entschärfen lassen und auch in den schweren Längen muss stellenweise etwas vom Haken weggeklettert werden. Wir empfanden das aber alles sehr angenehm und ausreichend – obwohl wir einige Friends und Keile dabei hatten, kamen solche nur einmal und nie wirklich obligatorisch zum Einsatz.

Zum Abseilen über Die Schwere sind auf jeden Fall zwei 50 Meter Seile notwendig – zum normalen Abstieg über die Südseite mag ich gar nichts sagen, sofern ich den nicht mal gemacht habe. Vom Bauchgefühl her würde ich aber vermuten, dass dieser bei passenden Bedingungen schneller ist und früher auf sicheren Boden führt. Die Abseilerei über Die Schwere ist auf jeden Fall möglich aber zeitintensiv, nicht überall völlig trivial und vor allem in den oberen Abschnitten stark steinschlaggefährdet.

Zusammenfassung

Ganz anders als erwartet! Was als “kleiner” und eher behelfsmäßiger Plan ausgegraben wurde entpuppte sich als wirklich lohnende und interessante Kletterei in einer eigentlich wunderschönen Ecke des Gebirges. Im Schatten des Stopselziehers lässt sich auf jeden Fall viel mehr Ruhe und Abenteuer finden als am Riffeltorkopf oder im Einzugsgebiet der Alpspitze.

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