Ich wünsche mir so sehr, dass die korrekte Übersetzung des Routennamens “Das strange Vögeln der Amelie” ist.
Leider gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung.
Aber manche eben doch. Zum Beispiel der Wunsch, die wunderschöne und spannende Kante am Piccolo Dain als Finalschlag des kurzen Arco-Trips zu klettern. Und das kombiniert mit einem vorherigen Durchstieg der Parete del Limaro (eine Wand am Vorbau des Piccolo Dain) auf der Route Orizzonti Dolomitici. Zusammen ergibt das 18 Seillängen Sportkletterei bis in den 6. Grad hinein – eine Welt in der ich mich im Jahr 2023 eigentlich noch gar nicht gesehen hatte.
Die Route durch den Vorbau hatte zwar gut und schnell funktioniert – war aber auch ernüchternd voll und ereignislos, sodass uns die Wand mit gemischten Gefühlen auf dem breiten Plateau ausspuckt. Wenige Meter vom Ausstieg entfernt schimmert zum ersten Mal die markante Linie durch das trockene Buschwerk die mit rund 250 Metern Kletterlänge über die luftige Kante der Südostwand des wuchtigen Berges führt. Von unserem jetzigen Standpunkt aus ein recht überschaubares Vorhaben – am Vortag aus dem Tal aber gefühlt unerreichbar. Denn obwohl er auf allen Seiten deutlich überragt wird, gibt der Piccolo Dain durch seine Pyramidenform und etwas isolierte Lage über den Dächern des Örtchens Sarche eine eindrucksvolle Gestalt ab.
Der Zustieg ist geschenkt, die Höhenmeter haben wir gerade kletternd in der Parete del Limaro gemacht und nun gilt es nur noch kurz den breiten Wanderweg zu queren, einige Meter abzusteigen und dann schmaleren Pfaden folgend auf die Kante zuzulaufen. Kriegen wir hin. Entlang einiger solider Fixseile führt ein deutlich erkennbarer Pfad in das brüchige und staubige Gelände unter der Kante. Immer wieder darf und muss im II. Grad gekraxelt werden und kleine Schrofenaufschwünge werden auch ohne Fixseile überwunden.
1. Seillänge (VI-)
Rascher als gedacht befindet man sich am Fuß der Kante, an der das Gelände deutlich aufsteilt. Auf der Suche nach dem ersten Standplatz unter der erkennbaren Verschneidung kraxeln wir nochmal ein paar Schrofen hinauf, die in eine kleine Verschneidung unter der eigentlichen Verschneidung führen. Wird schon passen. Hier ist es nirgends ausgesetzt und sehr weitläufig. Im Kopf habe ich, dass die 1. Seillänge halt irgendwie an dieser Verschneidung beginnt. Während ich da so stemme und kraxel und schiebe kommen mir erste, berechtigte Fragen:
Warum ist denn das seilfreie Zustiegsgelände plötzlich so griffarm und technisch?
Warum ist da ein Bohrhaken?
Wieso liegt hier überall Stroh?
Hannah hat das Wändchen weiter links überwunden und landet mit mir auf dem selben Vorsprung. Hier geht die steile und glatte Verschneidung hinauf. Ich vermisse trotzdem noch einen Standplatz. Der Blick in die Topo lohnt. Wir sind über die Hälfte der ersten Seillänge, online mit V/V+ bewertet, bereits aus Versehen seilfrei geklettert und waren uns dabei sicher noch im schrofigen Zustiegsgelände zu sein. Irgendwo 20 Meter unter uns war wohl ein Standplatz, den wir im Eifer des Gefechts übersehen haben. Während ich die Seile raushole und in den Gurt schlüpfe – Platz haben wir auf unserem sandigen Vorsprung genug – überlege ich noch eifrig, ob das jetzt lustig ist oder nicht. Irgendwie ist es ja eine lustige Geschichte, dass wir etwas solo geklettert sind ohne es überhaupt zu merken. Und vor allem in einem Schwierigkeitsgrad, den ich aktuell niemals wissentlich ungesichert angehen würde. Aber irgendwie sollten wir auch mal wieder lernen in die Topo zu gucken. Die entspannte Absicherung und die kurzen Zustiege im Sarcatal nehmen vielen Touren ihren wahrgenommenen Ernst. Vieles klettert sich so intuitiv und genüsslich, dass man verleitet ist sich einfach durch die schönen Felswände treiben zu lassen. Aber ab und zu – das haben wir in diesen Tagen öfters zu spüren bekommen als in einem Jahr klettern zuvor – kann man auch einfach mal nachschauen wo es langgeht.
Hannah stiegt vor und spreizt sich sauber durch die gar nicht so einfache und relativ glatte Verschneidung. Auch im Nachstieg tu ich mir nicht ganz leicht. Die Risse sind doch relativ fein, der eine oder andere Griff wackelt ein wenig und die Tritte haben auch schon eine leichte Politur. Alles in allem ein weiterer Kaltstart – obwohl wir eigentlich eingeklettert sind. Die Amelie dürfte – so zumindest auf dem Papier, auf das wir ja nun wieder öfter gucken wollen – doch nochmal eine Portion schwerer sein als unsere vorherige Zustiegstour.
Am Ende der Verschneidung geht es auf einem sandigen Band nach rechts zum Stand. Quasi Gehgelände. Ganz schön viel Schotter hier. Und ganz schön wenig Exposition.
2. Seillänge (V)
Ich schnappe mir das scharfe Ende und steige in die zweite und recht unspektakuläre Seillänge ein. Das Gelände empfinde ich hier noch als ziemlich brüchig – das stand auch so in der Tourenbeschreibung. Immer wieder scheppert es ringsum und teils aus Richtungen, in die ich gar keinen Stein geworfen habe. Spannend.
Von oben kommt eine Menge Kleinzeug geflogen und der starke Wind an der Kante gibt der Kletterei eine etwas ungemütlichere Stimmung. Wir wurden gewarnt, dass man in den ersten Seillängen und ganz besonders am 3. Stand äußerst exponiert für Steinschlag ist. Über uns ist niemand in der Route und so bleibt es zum Glück bei kleinen Kieseln und Schotter die irgendwo über uns von Vorsprüngen gefegt werden und in die Büsche umher hageln. So richtige Plaisierstimmung kommt aber nicht auf. Ich steige über eine kurze, einfache Stufe und lande dann im brüchigen Gehgelände.
Trotz sehr guter und durchgehender Absicherung mit Bohrhaken übersehe ich die korrekte Wegführung über einen kleinen Turm / Pfeiler inmitten all der Brösel und halte mich intuitiv in einer kurzen, brüchigen Verschneidung hinauf zum Stand. Letzteren habe ich nämlich bereits gesehen. Erst auf halber Höhe in der Verschneidung kapiere ich, dass 2 Meter links neben mir die Bohrhaken über deutlich festeren Fels führen und bin dennoch zu faul die Spur zu korrigieren. Passiert den Besten. Und zu denen zähle ich ganz bestimmt nicht.
3. Seillänge (VI-)
Im böigen Wind und unter dem regelmäßigen aber noch recht unbeeindruckenden Prasseln kleinerer Steine verschwindet Hannah nach links ums Eck und in die 3. Seillänge. Diese führt erstmals an und unter die Kante, die hier vor uns aus dem Boden wächst und auf die wir uns bisher in Verschneidungen und Stufen hingearbeitet haben. Während es um’s Eck herum noch etwas brüchig und unübersichtlich ist folgen dann einige Meter extrem schöne und kompakte Plattenkletterei in nicht zu schwerem Fels. Lediglich der Meter vor dem Standplatz gestaltet sich spannend und fordert – zumindest in unserem Ansatz – einen kurzen Quergang auf Reibung mit wenigen bis keinen Griffen. Die Topo spricht hier von einer VI-, die zwar sehr kurzweilig aber vermutlich schon berechtigt ist. Vor allem wenn man bedenkt, was wir in Arco schon alles als VI- angedreht bekommen haben.
4. Seillänge (VI-)
Vor uns baut sich eines der absoluten Herzstücke der Route auf. Über 35 Meter führt ein leicht geneigter und markanter Doppelriss durch eine sonst überwiegend geschlossene und glatte Platte. Die Seillänge war bereits im Zustieg und in der der Draufsicht deutlich zu erkennen und wusste schon hier zu beeindrucken.
Mit einer Mischung aus Respekt und Vorfreude gehe ich den Vorstieg an. Die gute und stets passende Absicherung entschärft die Tour spürbar und man kann sich eigentlich sehr sorglos auf die Kletterei einlassen. Ich bin trotzdem gespannt, was die Seillänge für mich bereithält. Die Schwierigkeit beherrsche ich auf dem Papier – ich weiß aber aus dem Klettergarten, dass anhaltend und konstant “schwierige” Kletterei mich schnell aus dem Konzept bringt. Hier fehlt mir noch ein bisschen die Ausdauer näher an der Erschöpfung souverän weiter zu klettern. So lange ich keine Kraft brauche, dürfen die Einzelstellen auch gerne zwei Grade schwieriger sein. Aber sobald man sich mal durchgehend und über mehrere Meter festhalten muss – Neuland. In der Draufsicht ist noch nicht ganz ersichtlich, was genau dieser wilde Doppelriss vom Kletterer fordern wird.
Laut unserer Topo wird die Seillänge von unten nach oben immer schwieriger. Direkt über dem Stand klettert sich der Riss scheinbar noch im V. Grad und wird dann nach oben raus schwieriger und erreicht unter dem Stand erneut eine VI-. Die ersten Meter schrumpfen meine Zuversicht mächtig. Wenn dass der leichtere Teil ist, so wird das oben gleich richtig lustig. Der Einstieg in die Risse klettert sich durchaus knifflig mit Tritten auf Reibung und wenigen Griffen. Ich beginne schon früh, den eher wulstigen und kantenlosen Riss einzuspreizen und mich dann mit Drücken, Stemmen und Gewicht verlagern hochzuarbeiten. Die Rechnung geht auf – ich komme langsam rein und in dem immer souveräner werdenden Rhythmus folgt eine Exe nach der anderen. Im immer noch rauschenden Wind hoch über Sarche stellt sich ein ziemlich intensiver Flow ein.
Ich glaube mich hat diese Seillänge so begeistert und überrascht, weil ich sie mir nicht oder nicht mit der Ruhe und Sicherheit zugetraut hatte. Die Seillänge war dabei aber auch nicht leichter als erwartet. Es hat einfach irgendwie alles gepasst und die Tritte auf Reibung, die konzentrierten Riss- und Fußwechsel saßen perfekt. Keine Bewegung war umsonst oder doppelt – die Seillänge ist sich intuitiv ausgegangen. Und wird dabei nach oben hin immer leichter?
Zumindest waren Hannah und ich uns da sehr einig. Man wechselt relativ schnell in den rechten der beiden Risse und gewinnt an diesem an Höhe. Immer wieder ist es hilfreich einen Fuß im jeweils anderen Riss zu platzieren oder den, die Risse trennenden, Wulst zu umarmen. Etwa 8 Meter unter dem Standplatz schiebe ich mich über den Wulst wieder komplett in den linken Riss und erreiche dort ziemlich rasch den Standplatz. Tatsächlich finden sich – obgleich vieles wirklich plattig und mit Handauflage zu kraxeln ist – immer wieder sehr gute und feste Henkel im Rissgrund. Man muss sie nur finden.
5. Seillänge (VI)
Nachdem ich gerade meinen Spaß mit den Doppelrissen hatte, darf Hannah sich nun die Schlüsselseillänge der Route antun. Zumindest, wenn man der Topo glaubt. Diese beginnt zwar in luftigem aber wesentlich leichterem Gelände und soll dann auf eine schwere Platte führen. Ich schaue Hannah zu, wie sie sich doch ohne viel Zögern durch die von unten nur schwer einschätzbare Plattencrux arbeitet und aus meinem Sichtfeld verschwindet. Kurz danach heißt es schon Nachkommen für mich.
Beim Nachsteigen bin ich beeindruckt, wie Hannah mit deutlich kürzerer Spannweite die Stelle gelöst hat. Mir fällt die Platte recht leicht. Aber auch nur weil ich die zwei Kanten, die über ein paar recht filigrane (aber vorhandene) Tritte von rechts nach links verbunden werden müssen, direkt zu Fassen kriege. Ohne wäre es wohl spannender geworden und was auch immer Hannah an der Stelle gezaubert hat sollte auf jeden Fall saubere Fußarbeit und gute Nerven an kleinen Leisten beinhaltet haben.
Drumherum passiert in der Seillänge, die an einem großen Baum auf einem Vorsprung endet, nicht übermäßig viel nebst der homogenen und festen Kletterei, welche die gesamte Route prägt und für uns überall gut lösbar war. Spätestens hier hängen wir die Seilschaft hinter uns, die mit deutlich Abstand in die Tour eingestiegen waren endgültig ab. Wir haben die Amelie bis auf kurzen Sichtkontakt mit der anderen Seilschaft völlig für uns.
6. Seillänge (VI-)
Der Ritt auf der tollen Kante neigt sich schon dem Ende zu – nur noch zwei vollwertige Seillängen á 40 Meter trennen uns von einer kurzen und leichten Ausstiegslänge in den angeblich heiklen Abstieg.
Aber erstmal geht es noch mit dem Hintern über die senkrechte bis überhängende Südostwand des Piccolo Dain. Diese fällt zarte 200 Meter auf den Vorbau und weitere 300 Meter auf die Dächer von Sarche ab. Keine allzu verrückten Zahlen, wenn man ab und an klettern geht. Aber die gnadenlose Steilheit und Glätte dieser Wand war dennoch eine neue Erfahrung.
In der 6. Seillänge gibt es schonmal einen kleinen Vorgeschmack darauf – die Route führt, einem kurzen Pfad / Band nach rechts folgend um’s Eck und leitet in einen steilen und plattigen Aufschwung über der Südostwand. Der plötzliche Zugewinn an Exposition ist deutlich spürbar. Bisher war die Route Vieles – aber nie so richtig ausgesetzt.
Gut meine erste Reaktion in der Draufsicht war unbegründet. Wie so oft. Zumindest stellt sich das für mich schnell heraus, als ich mich wieder auf den Fels konzentriere und in die eigentliche Kletterei einsteige. Hier kann einem die Psyche bestimmt einen Strich durch die Rechnung machen und das Vorankommen an kleinen, luftigen Tritten und Kanten deutlich erschweren. Ich bin dafür heute nicht mehr anfällig und empfinde die Seillänge als relativ einfach – bei mir stellt sich sogar das Gefühl ein, dass hier die plötzliche Exposition in die Bewertung mit eingeflossen sein muss.
Es muss zwar immer noch geklettert werden – an guten Kanten und Leisten löst sich aber alles für meinen Geschmack recht angenehm und logisch auf und eine richtige Crux gibt es in diesem Abschnitt nicht zu überwinden. Den Stand am Wandbuch kann man meiner Meinung nach auch nicht verfehlen – wir wurden aber gewarnt, dass man sich hier wohl versteigen, den letzten Bohrhaken übersehen oder durch die Botanik geradeaus aussteigen kann. Fühlte sich für mich wenig naheliegend an. Aber seid hiermit gewarnt. Oder so.
7. Seillänge (V-)
Auf erneut deutlicher Spur und kurzem Gehgelände gelangt man an das finale und leicht geneigte Wändchen. Platten mit großen und griffigen Löchern und Rissen. Hannah steigt vor und navigiert rasch durch die hier wieder häufiger vorhandenen Büsche und Sträucher. Das tut der Seillänge aber keinen Abbruch.
Was der Seillänge einen wortwörtlichen Abbruch tut ist ihr Standplatz auf der rechten Begrenzungskante, den Hannah mit einem “Aaalter ist das exponiert” erreicht. Keine Ahnung was die meint. Von meinem Standplatz zwischen den Bäumen und mit viel Platz und Erde lässt sich nur erahnen, was da drüben abgeht. Ich folge und stelle fest, dass die Kletterei beinahe leichter ist als angegeben und sich wirklich genüsslich an den rauen, herrlichen Plattenkanten entlangschlängelt. Es wird fast nur in die Wand gequert – wirklich Höhe wird hier nicht mehr gemacht und als ich einen Meter unter dem Standplatz an die Kante gelange weiß ich was Hannah meinte.
Unter den Füßen ist nichts. Der Kletterschuh, der mit einigen Millimetern auf einer Kante im Fels haftet trotzt 500 Metern Tiefblick auf die Dächer von Sarche. Es ist die Perspektive aus einem Flugzeug heraus. Die Wand unter uns ist so steil, dass sie für uns nicht erkennbar ist und es sich anfühlt als würde der kleine Kantenabschnitt an dem man klettert in der Luft schweben. Sowas (die Südostwand) zu klettern ist nochmal eine ganz andere Baustelle. Wir haben uns diese Position über Amelie nur erschlichen und sind lediglich kurze Besucher in der absoluten Vertikalen.
8. Seillänge (IV)
Die 8. Seillänge ist streng genommen gar keine solche mehr. Es gilt lediglich die verbleibenden 15 Meter hinauf auf einen kleinen Pfad zu überbrücken. Ich gehe vom Stand links weg die luftige Kante empor weil es sich mit dem luftigen und kleinen Stand kaum sinnvoll anfühlt Plätze zu tauschen und ich von links gekommen bin. Eigentlich wäre es rechts rumgegangen – ich überspringe einen Bohrhaken und lande schnell im leichten aber erdigen und rutschigen Ausstiegsgelände. So schnell wie die irre Exposition gekommen ist, ist sie schon wieder hinter ein paar Büschen verschwunden.
Abstieg (II)
Ein richtiges Gipfelerlebnis gibt es nicht. Wer seinen Triumph über die vögelnde Amelie angemessen feiern möchte, tut dies am luftigen Stand nach der 7. Seillänge. Danach kommt nichts mehr. Die Route endet nicht auf dem Gipfel des Piccolo Dain sondern ein gutes Stück tiefer am Ende der Südostwand. Von hier führt nach Südwesten auf einem deutlichen Pfad der anspruchsvolle, aber markierte Abstieg zurück auf den Vorbau und dort über Wanderwege zurück nach Sarche.
Man muss nicht lange suchen um über diverse Gruselgeschichten zu stolpern. Manch einer hat hier die Seile wieder rausgeholt. Super heikel. Verdirbt den Genuss der Route.
Wir verlieren wenig Zeit am Ausstieg der Route – eine Aussicht gibt es zwischen den dichten Büschen sowieso nicht mehr zu genießen und es ist auch langsam Zeit Feierabend zu machen und zurück nach Garmisch-Partenkirchen zu fahren. Also hinein in das Abenteuer Abstieg.
Die kritische Strecke ist kurz – wird aber nach unten hin immer schwerer. Wir sind mit unserem (vermutlich flotten) Tempo knapp 20 Minuten im Absturzgelände und haben das Seil nicht nochmal gebraucht. Die Berichte lügen aber zumindest nicht, wenn sie behaupten, dass dieser Abstiegsweg heikel ist. Die wenigen Fixseile sind zwar stellenweise hilfreich – befinden sich aber in einem nicht immer guten Zustand. Man tut wohl gut daran, wenn man brüchige und sandigen Müll im II. Grad souverän und konzentriert abklettern kann – und nach der Amelie auch noch den Kopf dafür hat. Der eine oder andere morsche Ast und kleine Strauch wird zum Griff. Auf jeden Fall war der Abstieg hier aus einer Auswahl von bisher 6 Mehrseillängen im Sarcatal der fieseste. Das Problem sind weniger die Felsstufen und “Klettereinlagen” (die allesamt gut kontrollierbar sind) sondern die fixseillosen Verbindungsstücke in steilem, staubigen Schotter bei recht hoher Konsequenz sollte ein Rutscher oder Sturz nicht aufgefangen werden.
Auf der anderen Seite – wer Zu- und Abstiege im Gebirge kennt – bei denen oft ganz andere Manöver gefahren werden als in der eigentlichen Kletterei, wird wenig beeindruckt sein. Der Abstieg verlangt nichts, was nicht vielfach im Repertoire eines normalen Alpinkletterers vorhanden ist. Lediglich im oft eher sportlichen und gemütlichen Sarcatal und in unmittelbarer Nähe zu präparierten Klettergarten-Pisten wird der eine oder andere überrascht gewesen sein, wenn er mit seiner Balance und Trittsicherheit für einige Meter ohne helfendes Fixseil oder Ferrata seines eigenen (Un-)Glückes Schmied ist.
Die Amelie ist in Summe kein völliger Selbstläufer. Sportklettern – ja definitv. Bei einem Wettersturz würde ich aber ungern im oberen Teil der Route sein, der Abstieg dürfte dann von heikel zu gefährlich wechseln und ein Abseilen über die Route ist ziemlich konservativ gesagt schon arger Schmarrn. So zumindest meine Diagnose. Man sollte sich also vorab den einen oder anderen Gedanken und Plan-B zurechtgelegt haben. Und ich lerne auch erst nach und nach, dass das nicht selbstverständlich von Jedem gemacht wird.
Ab Erreichen des Vorbaus geht es über einen leichten Wanderweg ins Tal und sehr direkt zurück zum Ausgangspunkt. 4 Tage mit 6 Mehrseillängen in Arco kommen zu einem Ende – und werden bestimmt nicht die letzten sein. Auch die Eisdiele in Sarche, die wir fast schon traditionsgetreu aufsuchen, wird uns nicht zum letzten Mal gesehen haben.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Wir haben in der Amelie eine meiner Meinung nach dezentere aber intelligentere Absicherung vorgefunden als in der direkt zuvor gekletterten Orizzonti Dolomitici. Die Haken waren immer an der richtigen Stelle, in guter Qualität und im leichten Gelände dünner gesät als an den Schlüsselstellen. Zumindest für uns hat sich das extrem flüssig angefühlt – ich habe nicht einen Gedanken an zusätzliche Absicherung verschwendet. Die Route kann hinsichtlich des Materials wirklich als Sportkletterei verstanden und angegangen werden. Wir waren routinebedingt mit 60m Doppelseilen unterwegs und hatten damit wahrscheinlich weder Vor- noch Nachteil. Die Route erfordert das bestimmt nicht – viele Seilschaften werden hier auch mit Einfachseilen einsteigen. Zumal Abseilen vielerorts ohnehin keine (logische) Option ist.
Die Kletterei ist homogen im oberen V. und unteren VI. Grad einzuordnen und wird nach oben hin immer schöner und wilder. Die teils eingezeichnete Schlüsselstelle in der 5. Seillänge findet für mich nur bedingt statt und reiht sich relativ nahtlos in die übrigen Seillängen ein. Am anspruchsvollsten finde ich die anhaltend interessante 4. Seillänge und, sofern ein gewisses Maß an Respekt vor Exposition vorhanden ist, auch die 6. Seillänge. Es gibt keine einzige überflüssige oder leichte Seillänge – lediglich der 2. Seillänge konnte ich nicht viel abgewinnen. Diese ist aber in Kauf zu nehmen um zu dem tollen Gelände im oberen Teil zu gelangen. Insgesamt eine wunderschöne Sportkletterei mit perfekter Absicherung, die in Sachen Steinschlag und Wetter aber mit Umsicht genossen werden will.
Zusammenfassung
Eindrucksvolle Sportkletterei mit durchaus alpiner Note – was hier nicht der Absicherung in der Tour geschuldet ist. Wer eine gepflegte, präparierte und objektiv völlig ungefährliche Blumenwiese erwartet wird bereits im Zustieg, relativ sicher am 3. Stand und allerspätestens beim Abstieg enttäuscht werden.
Wer dem wenig Gewicht beimisst wird eine toll abgesicherte, logische und homogene Kletterei in an den schweren Stellen bestem Fels vorfinden. Ich würde hier jederzeit wieder einsteigen und lediglich einen anderen Zustieg wählen. Und die 4. Seillänge…seufz…die will ich eh nochmal.