Eigentlich waren wir diesmal gar nicht zum Klettern am Lago. Doch nachdem wir schon bei der Anreise spontan rechts rangefahren sind um etwas zu kraxeln war die Hemmschwelle relativ niedrig den Trend nach einer Biwaknacht im Rohbau auch bei der Abreise fortzusetzen. Aufgewärmt haben wir dafür eine Route(n Kombination) die wir schon Ostern auf dem Zettel hatten und dann hinten angestellt hatten. Und das vor allem mangels Attraktivität – da wir bisher beim frequentierten und zugänglichen Sportklettern oft den wenigsten Spaß hatten.
Wenn man nun also von Torbole kommend das Ostufer in Richtung Süden abfährt, passiert man unweigerlich einen Tunnel, der in eine beinahe künstlich anmutende, geneigte Felsplatte gebohrt ist. Genau hier befindet sich der Klettergarten Corno di Bo, in dem bei gutem Wetter zahlreiche Kletterer über der Straße umher toben. Seine Lage – über dem Tunnel und direkt über dem blauen Wasser des Gardasee ist bestimmt interessant. Auch sein surreal plattiger und bis auf wenige Risse makelloser Fels. An eben einem solchen Tag würde es mich hier aber nicht hin ziehen. Es fehlt das Besondere. Es fehlt der Reiz.
Heute ist das anders. Es ist windig bis stürmig. Theoretisch ist auch irgendwann Regen angesagt und wirklich warm ist es im Mai 2023 auch noch nicht. Der Gardasee liegt dunkel und wellenreich unter uns als wir von der Parkbucht das kurze Stück auf der Begrenzungsmauer an der Straße zum Klettergarten balancieren. Wahrscheinlich die gefährlichste Tat des Tages. Die Wände am Westufer über Limone hängen in düsteren Wolken und als wir den Tunnel erreichen ist der Anseilplatz unter der Platte menschenleer. Keine Überraschung. Immer wieder erwischen uns einzelne Tropfen. Wir haben Jeans an. Und wollen klettern gehen.
Grund für dieses nicht ganz professionelle Auftreten ist der Faktor Sportklettern. Die Routen am Corno di Bo sind mit Bohrhaken übersäht – von jedem Standplatz kann abgeseilt werden. Wir wollen einfach mal unverbindlich Platte klettern und uns dieses Eck anschauen – und haben hier die Möglichkeit das ohne Risiko und aus dem Auto heraus zu machen. Ausgesucht hatten wir uns im April bereits eine kurze Mehrseillänge durch die skurrile Felswand – die Tony il Telefonista, die mit einer V+ bzw. 5a angegeben ist. Bergsteigen.com macht es sich an der Stelle relativ einfach und zeichnet eine Routenkombination aus Pritt und Tony il Telefonista ein – übersieht aber, dass dabei laut Schild am Klettergarten auch eine Seillänge in die Route Norex gequert wird. Vor meinem geistigen Auge ist das Chaos an einem schönen Sommertag mit vielen Seilschaften in der Wand perfekt. Frauenwasserl lässt grüßen. Und es gibt laut einer Tafel am Klettergarten auch wirklich eine Tony il Telefonista, die von ganz unten nach ganz oben führt – allerdings anders läuft als in der Online-Topo markiert. Im Falle also nach der Tafel gehen. Oder in unserem Fall freie Fahrt und freie Wahl.
Eigentlich ist eh alles völlig egal, da die Wand je nach Gusto über eine beliebige der vorhandenen Routen erstiegen werden kann. Wobei tatsächlich nur die Tony il Telefonista mit ihren 5 Seillängen bis ganz oben an den Strommast reicht und dabei rund 100 Meter fast makellosen Plattenpanzer überwindet. Darunter lassen sich diverse Routen kombinieren – vor allem bis zu einem markanten Band nach der 2. Seillänge hat man diverse Routen, die mit nur wenigen Metern zwischen sich parallel durch die bizarre Wand laufen. Kaum zu glauben, dass so etwas natürlich entstanden ist – fühlt man sich doch eher wie bei der Besteigung einer überdimensionierten Betonrampe im Skatepark.
1. Seillänge (Pritt, IV+)
Hannah steigt in die Pritt ein und arbeitet sich fotogen und schnell am gezackten Riss empor – stellt aber auch schon bald fest, dass die Route wohl schon einige Begehungen gesehen hat. Die Tritte im Riss sind geschliffen und speckig. Ringsum ist nur Platte. Auch wenn ich das schon gesagt habe – es handelt sich wirklich um ein äußerst bizarres Stückchen Stein. Und ich werde aus auch noch öfter sagen.
Hannah erreicht den Stand, welcher hier mit Kette verbunden und mit Abseilring ausgestattet ist.
Beim Nachsteigen versuche ich mich auch in dem speckigen Riss zu halten – weiche aber rasch mit den Schuhen auf die geneigte Platte aus. Wie geil…das hält. Es braucht kurz etwas Überwindung sich der Reibung der Schuhe anzuvertrauen aber die Wandneigung erlaubt es, selbst auf den ersten Blick völlig glatte Stellen anzutreten. Winzige Unebenheiten werden zu luxuriösen Tritten und ich schließe schnell zu Hannah auf.
Jaaaah…und das hält. Bevor ich diesen Enthusiasmus über die für uns neuartige Kletterei in die zweite Seillänge tragen kann muss ich noch kurz meinen Schuh binden. Dann geht es weiter.
2. Seillänge (Pritt, V-)
Wir bleiben in der Route “Pritt” die schnurgerade entlang der Bohrhaken weiter hinauf zieht. Der Riss ist zu Beginn zugewachsener, nicht mehr ganz so speckig und verläuft sich dann in einem in der Draufsicht makellosen und geschlossenen Plattenpanzer. Während der Riss in der ersten Seillänge noch viele brauchbare Griffe abgeworfen hat ist hier, wenige Meter unter dem breiten Band mit Standplatz, plötzlich Schluss. Deshalb ist die Seillänge mit einer V- wohl auch einen Hauch schwerer bewertet. Dieser Hauch macht sich aber durchaus bemerkbar.
An ein paar kleinen, horizontalen Leisten geht es hoch und das neu gewonnene Vertrauen in die Reibung der Kletterschuhe hilft durchaus. Unter einem bereits hier ein etwas ungewohnter Tiefblick auf die Autos, die aus dem Tunnel herausschießen und die geneigte Fläche. Aber geile Kletterei – ganz anders, als was uns bisher so untergekommen ist. Ich erreiche ein Band, welches nach rechts leicht ansteigt und so breit ist, dass man angenehm stehen und laufen kann. Hier ist die eleganteste Stelle um die Route zu wechseln. Unsere Pritt ist nach den zwei Seillängen ohnehin geschafft und es zieht uns ganz nach rechts an die Begrenzungskante der Platte. Ich suche mir den vorletzten Stand im Bereich des Bandes aus. Der offizielle Stand der Route Norex liegt hier etwas tiefer als meine letzte Zwischensicherung am Band und hätte zu einem etwas wilderen Seilverlauf geführt.
3. Seillänge (Norex, V+)
Hannah schnappt sich das scharfe Ende und zieht vom letzten Stand vor der Kante noch ein Stück nach rechts auf dem immer schmaler werdenden Band und dann über abermals geschlossene Platten nach oben. Die Seillänge ist mit V+ bewertet und sollte damit nochmal ein gutes Stückchen schwerer ausfallen. Dafür ist Hannah aber ganz schön flott im Zustieg. Als sie die Kante erreicht bleibt das sonst obligatorische “Woah geht’s da runter” auch aus. Ich hätte erwartet, dass das Felsschild, auf dem wir klettern rechts abrupt abbricht und einen luftigen Tiefblick auf die Wasserfläche freigibt. Irgendwas stimmt da nicht.
Ich steige nach und erreiche die Kante. Nagut. Der Tiefblick beschränkt sich auf gute 5 Meter bis zu einer weiteren Gesteinsfläche, ausgesetzt ist das wirklich nicht. Und die Kletterei ist wirklich wieder einfacher. Zwar tritt man nach wie vor auf Reibung oder winzige Einbuchtungen in der Platte, die griffige Kante entschärft das ganze aber merklich. Hannah hat direkt eine Theorie parat.
Als ob. Wir sind hier doch nicht in der Boulderwelt München Ost. Letzten Endes ist diese Seillänge aber wirklich die schönste in unserem Zickzackkurs durch die Felsfläche und begleitet von Windböen und gelegentlichen, einzelnen Regentropfen entsteht ein doch recht dramatisches Ambiente. Und mittlerweile – nach 3 Seillängen ja quasi schon ein alter Reibungskletterei-Hase – tritt sich die raue Platte ganz ungeniert.
Am Stand angekommen sehe ich ein irres Funkeln in Hannah’s Augen, welches sich unmissverständlich gegen einen Feigenbaum einige Meter neben der Route richtet. Schon den ganzen Vormittag bestanden Fantasien, von einem der zahllosen Bäumchen einen Zweig mitzunehmen und daheim einzupflanzen. Und dieser Kandidat – mitten in lebensverneinenden und kompakten Felsplatten – muss ein besonders potentes Exemplar sein. Lange Rede kurzer Sinn, im Nachstieg macht Hannah einen kurzen Abstecher.
Vielleicht doch nicht so potent. Vielleicht doch nicht so Darwin.
4. Seillänge (Unbekannt, VI)
Vor uns tun sich zwei Wege auf. Geradeaus, einer mehr oder weniger ausgeprägten Spur von Rissen folgend, würden wir nun schlussendlich in die “Tony il telefonista” gelangen. Links gibt es noch eine Seillänge, die in einem Bogen über eine deutlich strukturlosere Plattenzone zieht und dann aber in den selben Standplatz mündet. Diese Seillänge ist lustigerweise auf dem Schild nicht eingezeichnet. Dafür kennt sich Bergsteigen.com nun aber wieder aus, zeichnet den Abschnitt ein und versieht ihn mit der Bewertung VI. Wir überlegen nur kurz und ich steige mit einem souveränen “Ja jetzt ist eh schon egal” in die Seillänge ein. Mein rasches Steigen findet aber ein ebenso rasches Ende, als die Platte nach einem kleinen Bäumchen plötzlich extrem glatt wird. Das ist doch nochmal was anderes. Auch scheint der Fels hier etwas sandiger, fragiler und die Oberfläche mit ganz dünnen Flechten besetzt. Alles schwache Ausreden – mein neugewonnenes Reibungs-Kung-Fu reicht in dem Moment jedenfalls nicht mehr und ich nulle die Stelle mit Hilfe des Bäumchens. Hannah bewahrt im Nachstieg den kühleren Kopf und steigt direkt durch die ersten, schweren und glatten Meter.
Danach löst sich diese Seillänge in einer sehr schöne Abfolge von feinen Leisten und Rissen in der Platte auf, bevor sie nach rechts in den letzten Standplatz führt.
5. Seillänge (Tony il Telefonista, IV)
Hannah sprintet beinahe durch das leichte Gelände der “Tony il telefonista” auf den Strommast zu und macht an diesem Stand. Ich komme ebenso schnell nach. Der Wind fegt hier oben ganz ordentlich durch und übertönt die Autos unter der Wand. Ein letzter Blick über die lustige Platte und schon folgen wie den Steigspuren nach links zum Abstiegsweg. Wir hätten auch recht komfortabel abseilen können, haben uns aber doch für den Abstiegsweg entschieden. Eigentlich sollte man die nichtmal 100 Meter dort ja auch rasch beseitigt haben.
Abstieg (II)
Rückblickend wäre abseilen bestimmt auch ganz lustig gewesen. Der Pfad führt schmal und lose über der Plattenwand entlang. Hier bei Betrieb bloß keine Steine lostreten – die halten nicht mehr an. Immer wieder “hilft” ein sehr dünnes Stahlseil über glatte Stufen und kleine Quergänge, wobei es nicht nur wegen des Durchmessers einer Reepschnur mit Vorsicht genossen werden sollte. Es dauert nicht lange bis ich, nachdem ich mich mehrmals an dem Seil festgehalten habe, eine Stelle finde an der der Sicherungsstift einfach nur in der Erde steckt und mit Leichtigkeit herausgezogen werden kann. Gut – irgendwas und irgendwo wird das Seil schon halten. Aber so richtig genüsslich spaziert es sich hier über der glatten Platte auch nicht lang. Immer wieder wechseln glatte Platten mit erdigen und bewachsenen Abschnitten, in denen man einfach hofft mit dem nächsten Tritt auch den Weg zu treffen. Meine Idee, die Kletterschuhe anzulassen, finde ich an der einen oder anderen Stelle durchaus brauchbar. Ich habe aber auch die gemütlichen Schlappen an.
Ist die Platte erstmal überquert so biegt der Pfad nach links ab und folgt einem kleinen Grat / einer kleinen Rippe in sehr direkter Linie zurück zur Straße. Hier wird das Gelände für meinen Geschmack leichter und etwas unverbindlicher. Aber auch hier darf nochmal der eine oder andere erdige IIer im Abstieg gekraxelt und gestemmt werden. Wenige Minuten später stehen wir auch schon wieder an der Straße. Zu- oder Abstiege von Klettergärten sind ja oft etwas alpineres Zeug – und dieser sticht da bestimmt nicht als sonderlich schwer hervor. Wer aber wirklich entspannt Sportklettern will, seilfrei doof findet und noch nie über abschüssigen Schotter balanciert ist seilt einfach ab. Für uns hat das schon gepasst – wobei ich doch hin und wieder geflucht, über das heikle Stahlseil gestaunt oder über nahende Schlangenbisse gescherzt habe.
Die gefährlichste Tat des Tages bleibt aber gewiss der kurze Weg an der Straße zurück zur Parkbucht.
Der Klettergarten Corno di Bo hätte es normalerweise wahrscheinlich nicht hier her geschafft. Nicht bei gutem Wetter, nicht mit Andrang, nicht als geplanter Ausflug. Ich bin auch einigermaßen froh, dass wir über Ostern im Sarcatal keinen wirklichen Wert auf diese Ecke gelegt haben und stattdessen viel tollere Mehrseillängen erleben durften. So ist es aber ein Manifest für die Spontanität einfach mal kurz aus dem Auto zu springen und sich auf einen ganz neuen Kletterstil einzulassen. Denn so radikale Reibung haben wir bisher noch nicht gebraucht. Und da konnte unsere Routenkombination (und wahrscheinlich alles in dieser Wand) definitiv beeindrucken und faszinieren. Mit Wind und einem dunklen und schäumenden Gardasee unter uns wird der Tag dennoch in Erinnerung bleiben – und vielleicht den einen oder anderen animieren auch mal aus dem Auto zu springen um etwas Neues zu probieren. Es könnte sich lohnen.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Definitiv ein brauchbares Übungsobjekt um seine Plattentechnik etwas zu verfeinern. Die Wand ist konstant in der selben Neigung und oft von kleinen Rissen und Leisten durchzogen – die Kletterei an vielen Stellen auch leicht und intuitiv. Allerdings auch nur, wenn man ohne Henkel auskommt und verstanden hat, dass man auch mit den Beinen klettern kann. Wer gerne an Dingen zieht und rupft, dürfte staunen welche gähnende Leere hier schon im 4. und 5. Grad herrscht. Wir haben einen Moment gebraucht um uns in den Rhythmus einzufinden. Die Versicherung grenzt an Übertreibung, die wenigsten werden überhaupt genügend Exen besitzen um jeden Haken mitzunehmen. Gerade im unteren Teil sind die Abstände im Zentimeter bis Meterbereich. Nach oben hin wird es zwar stellenweise etwas dünner – man folgt aber konstant einer deutlichen Linie von Klebehaken in sehr sehr gutmütigen Abständen. Die Stände sind perfekt eingerichtet und verbunden – oft auch mit Abseilring versehen. Die Seillängen sind konstant 30 – 35 Meter lang und wir waren mit einem 60 Meter Einfachseil unterwegs.
Zusammenfassung
Wahrscheinlich einer der wenigen “Klettergärten” die ich hier überhaupt dokumentieren werde – die lässige Plattenkletterei und schöne Lage über dem Lago machen aber durchaus was her und sollte ich dort nochmal vorbeifahren und eine leere Wand vorfinden…nun ja. Ich würde vermutlich wieder ranfahren.