Zu dieser Tour gibt es eine Vorgeschichte. Ben ist mit einem Kumpel vor ein paar Wochen schonmal in die Zwölferkante eingestiegen – als kleine, chillige Warm-Up-Tour für viel größere Vorhaben an den Folgetagen. Irgendwas mit Hochtour, irgendwas mit Nordwand. Krasses Zeug halt. Nicht so ‘ne kleine Kante vorne im Wetterstein.
Daraus wurde eine unfreiwillige und zweitägige Odyssee für die beiden. Inklusive Schneefeld, wilder Wegwahl in den ersten Seillängen, immenser Zeit in der Wand, Nebel und Dunkelheit am Ausstieg und Notbiwak in den steilen Grashängen über dem Höllental. Ich war an dem Abend reichlich gestresst, denn das kurze Update um 17:00 aus der Route ließ schon vermuten, dass bei dieser kleinen Kletterrunde nicht alles ganz rund gelaufen sein muss. Um 23:41 – auch im Hochsommer ist es da dunkel – dann die letzte Nachricht:
Danach waren die Akkus leer und ich zarte 24h relativ versucht die Bergwacht einzuschalten. Seitdem hat die Zwölferkante wohl einen ganz besonderen Platz in unseren Herzen. Aber das Rätsel um die ersten Seillängen ist noch ungelöst. Denn hier sind Ben und sein Kletterpartner bei ihrer Begehung in vielfach schwereres, brüchiges und absolut ungesichertes Gelände gelangt.
Die Zwölferkante klemmt am namensgebenden Zwölferkopf – einem kleinen aber scharfen Gipfel im schroffen Waxensteinkamm in der vordersten Front über Garmisch und Grainau. Er ist so ungeschickt zwischen den Waxensteinen eingeklemmt, dass er aus vielen Perspektiven untergeht und definitiv kein touristisches Ziel darstellt. Gute Sache – denn selbst der Normalweg aus dem Höllental ist steil, heikel und einsam. Der Berg bleibt also – wie die meisten Gipfel in diesem Kamm – überwiegend kraxelnden Liebhabern oder liebhabenden Kraxlern vorbehalten. Von Grainau aus fällt einem dann aber doch die tiefe Mittagsscharte im Waxensteinkamm auf, an dessen rechter Seite eine steile, üppige und makellose Felsplatte aufragt. Nicht ohne Grund hat es diese bizarre Wand in Walter Pause’s “Im schweren Fels” geschafft. Da soll’s heute lang gehen. Wie immer zu Fuß.
Zustieg (II)
An einem brutal warmen Sommertag starte ich mit Ben, der ja in der Route bereits ortskundig ist, in Hammersbach. Irre, was für Massen hier ins Höllental aufbrechen. Mir war das nicht so bewusst. Aber irgendwie muss der Stau an der Randkluft ja auch zustande kommen und heute sind wirklich ideale Bedingungen um sich am Höllentalferner anzustellen. Als wir auf die Forststraße in Richtung Mittagsreiße abbiegen, sind wir schlagartig alleine und machen in der Dämmerung rasch die relativ zähen Höhenmeter.
Die Ankunft an der Mittagsreiße ist immer mit einer gewissen Hassliebe verbunden. Egal wo man hin will – das nächste Stück wird einfach erstmal ätzend. Der kleine Pfad, der sich erst links und später rechts an der brüchigen Rinne entlang schlängelt ist steil, bröselig und dank Morgentau für uns auch reichlich nass. Entlohnt werden wir für die Mühen nur mit einem wilden Alpenglühen am Zwölferkopf, wo der obere Teil unserer Route auch schon das erste Licht abbekommt. An einem großen Block deponieren wir unsere Stöcke, die den Aufstieg bisher um einiges erleichtert haben. Das heißt aber auch – wir verabschieden uns jetzt schon von der Abstiegsvariante auf der Rückseite durch das Höllental. Zumindest sofern wir unser Equipment lieben.
Die Blöcke werden nach oben hin immer größer, fester und geschliffener und ab einem gewissen Punkt, macht es mehr Spaß einfach direkt im Rinnengrund durch die Felsen zu turnen als an den Seiten nach Pfaden und Steinmännern Ausschau zu halten. Das Ziel ist eh das selbe: ein sperrender Felsriegel vor der tief eingeschnittenen Mittagsschlucht. Im Frühjahr hält sich hier ein Schneefeld – Ben ist bei seiner Begehung vor einigen Wochen extra nochmal umgedreht um einen meiner Gullys mit auf ihr Abenteuer zu nehmen. Heute ist davon nur noch ein trauriger Rest übrig. Etwas Kälte strahlt dieser Klecks aber trotzdem ab und macht das Ambiente inmitten schroffer und schattiger Felsmauern noch ein wenig bedrohlicher.
Wir kommen vor dem Felsriegel zum Stehen. Ben klettert von rechts noch einige Meter hinauf um sich dort mit Klettergurt, Helm und Schlosserei zu bestücken. Mich zieht es links zu einer Verschneidung, die aus der Nähe betrachtet ziemlich brüchig ist. Dafür habe ich mich hier unten schon umgezogen. Auch fein. Und nachdem ich den Bruch gebändigt und Ben oben den Gurt angelegt hat geht es weiter nach Rechts auf unsere heutige Wand zu. Orientierungsmäßig ist der Einstieg die Schlüsselstelle – zumindest habe ich sowas vielerorts gelesen.
Ist der Felsriegel erstmal erklommen, geht es relativ logisch und kurzweilig hinüber zur Wand. Dabei läuft man auch an einem rot markierten Abseilstand vorbei und hält sich mehr oder weniger auf dem kleinen Grat. Eigentlich erkennt man aus der Ferne auch schon eine vage Verschneidung, welche auf die plattige Kante hinausführt. Es ist auch relativ logisch, dass es davor nicht links bzw. geradeaus über mehr als senkrechten, brüchigen und dunklen Fels gehen kann und ein einfacherer Weg her muss. Wir stoßen in einer kleinen Rinne auf einen rustikalen Standplatz mit zwei alten Schlaghaken und einer sehr schrottigen, alten Schlinge. Bis hierhin kommt man ohne nennenswerte Kletterei. Hier begann Ben’s Reise vor einigen Monaten auch. Muss man vor dem ersten Stand bereits schwer und / oder sehr exponiert klettern ist irgendetwas falsch gelaufen. Auf der anderen Seite – so ganz richtig sind wir ja auch nicht. Denn irgendwo soll es auch einen ersten, gebohrten Stand geben. Wir finden ihn auf Anhieb nicht und haben nicht die Muse ihn weiter zu suchen.
Dieser Artikel lese sich also keinesfalls als Tourenguide oder Ideallinie. Die haben wir bestimmt nicht überall getroffen. Aber – und so viel kann ich schonmal vorwegnehmen: wir sind lebend durchgekommen. Offensichtlich. Und das auch ein gutes Stückchen eleganter (und vor allem viel schneller) als bei Ben’s Abenteuertour.
1. Seillänge (II-III)
Ich will etwas anderes versuchen und schnappe mir den ersten Vorstieg. Ben zeigt die Rinne rauf:
Mich zieht es aber nach Rechts. Auch wenn das im ersten Moment überhaupt nicht intuitiv ist. Denn das heißt, dass ich vom Standplatz weg ziemlich direkt und senkrecht das kleine, sperrende Wändchen überklettern muss, in das dieser geschlagen ist. Ben’s schiefer Blick spricht Bände, als ich mich irgendwie um die Ecke wuchte. Auch ich habe durchaus meine Zweifel, ob ich nicht gleich kleinlaut wieder zurück komme. Doch direkt hinter der Kante lehnt sich das Gelände zurück und gibt den Blick auf einen logischen Weg frei. Direkt vor mir steckt ein festgefahrener Friend im Fels. Schonmal keine Erstbegehung. Weiter oben wartet eine gefädelte Sanduhr. Ganz gewiss keine Erstbegehung.
Auf kalten und stellenweise feuchten Kalkplatten quere ich zunächst auf einer einfachen Rampe aufsteigend nach rechts und dann in einer breiten Rinne gerade hinauf. Und ganz oben leuchtet eine violette Reepschnur, die zwei solide Bohrhaken zu einem beinahe Traumstand verbindet. Erste Seillänge und abseits vom fehlenden ersten Stand direkt einen Volltreffer gelandet. So kann man einen Bergtag starten. Ich hole Ben nach, der nach links in den senkrechten Bruch zeigt:
Respekt dafür. Gar kein Bock.
2. Seillänge (IV)
Wir hängen nun direkt unter einer sehr deutlichen und kletterbar anmutenden Verschneidung. Eigentlich das Kernstück des unteren Abschnitts, denn hier sollte definitiv der Weg des geringsten Widerstandes zur Kante liegen. Ben quert nach rechts raus, findet einen Schlaghaken und arbeitet sich dann durch den griffigen Fels hinauf. Einige Meter später wechselt er an die rechte Seite und folgt einer gestuften Rissspur in leichteres Gelände außerhalb meiner Sicht. Auf dem Weg gehen sich auch nochmal ein paar Schlaghaken aus und die Klemmgeräte bleiben erstmal am Gurt. Nur die Suche nach dem nächsten Standplatz dauert etwas länger, da er im weitläufigen Gelände überall und nirgendwo sein könnte. Am besten orientiert man sich nach der Verschneidung gerade hoch bzw. leicht nach links gen einfacher Schrofenrampe. Das wird die nächste Seillänge. Und dann findet sich mit etwas Abstand zur Verschneidung auch der nächste gebohrte Standplatz.
Als ich im Nachstieg mitten in der Verschneidung hänge donnert plötzlich ein ziemlich ansehnlicher Steinschlag aus der Westwand des kleinen Waxensteins in die Mittagsschlucht. Bergsport – muss man mögen. Im Angesicht der Kletterei, verdränge ich den Moment relativ schnell und mache mir nicht allzu viele Gedanken. Rückblickend muss ich aber anerkennen, dass das gute Gefühl unten in der Schlucht am Einstieg eher trügerischer Natur war und es – wie vermutlich unüberschaubar oft – mal wieder gut gegangen ist.
3. Seillänge (II-III)
Ganz easy und ereignislos auf einer deutlichen Rampe nach Links. Nicht wundern – hier steckt nichts Fixes. Zumindest bei unserer Begehung. Ben will schon seilfrei rum marschieren und kommt nur aufgrund meiner sehr zügigen Umbauarbeiten am Stand in den Genuss einer Nachstiegssicherung.
Der Stand liegt genau auf der Kante und damit an dem Punkt, der erstmals den Blick auf das weitläufige Plattenmeer der eigentlichen Kante freigibt. Der folgende Abschnitt, mit viel Gras durchsetzt, sieht dabei aber dermaßen flach und einfach aus, dass wir beschließen ihn kurz am laufenden Seil durchzufräsen. Wahrscheinlich nehmen andere Seilschaften hier auch einfach kurz das Seil auf. Dabei sollte man nur nicht übersehen, dass man in der direkten Falllinie von Steinschlag aus der Tour steht und es einige Meter weiter hinten ordentlich gen Mittagsschlucht abbricht.
Laufendes Seil (III)
Wir halten uns weiter Rechts als die (wohl felslastigere) gewöhnliche Routenführung. Nach kurzen Schrofen geht es auf einer um einige Meter tiefer gelegten Wiese im Kantenbereich entlang, bis wir eine kurze Verschneidung zurück auf die felsige Fläche finden. Diese klettert sich dann im Detail gar nicht mehr gar so einfach und ist vermutlich schwieriger als alles was wir oben in den Schrofen vorgefunden hätten. Naja. Sind ja am Seil, irgendwo zwischen uns klemmt bestimmt ein Friend und wenige Meter über der Picknickwiese hält sich der Gruselfaktor auch in Grenzen. Und überhaupt – bombenfester Fels.
Den nächsten Standplatz mit einer orangenen Schlinge finden wir hinter einem markanten Latschenfleck rechts an der Kante. Dieser ist in meiner Erinnerung aber nicht gebohrt und stiftet kurzweilige Verwirrung. Wir finden aber auch nichts anderes. Vielleicht sind wir hier schon ein Stückchen zu hoch, denn die folgende Seillänge bis unter den etwas höher liegenden Wulst entpuppt sich als ziemlich kurz.
4. Seillänge (III)
Über griffige und recht einfache Platten geht es – nun aber wieder ein Stückchen steiler und schwieriger – auf einen sperrenden Wulst zu. Ich erreiche ein Band, dem ich einige Meter nach Links in eine Nische folge und einen gebohrten (yay) Stand finde. Alles in allem eine kurze und ereignislose Seillänge im festesten Fels, die mit einem Schlaghaken und einem höchstens mittelmäßigen lila Totem aber auch nicht nennenswert abgesichert ist.
5. Seillänge (IV)
Ben geht die kleine, etwas abdrängende und steile Verschneidung an. Sie führt mit wenigen etwas kniffligeren Zügen wieder in leichteres Gelände und zum nächsten Standplatz. Die Detailtiefe meiner Schilderungen lässt erkennen, wie gleichmäßig und weitläufig diese “Kante” ist. Dabei sind wir heute noch kein einziges Mal auf einer Kante geklettert und werden es auch nicht mehr. Richtig luftig ging es auch noch nicht zur Sache. Und so bleiben in der prallen Sonne und auf dem schneeweißen Plattenpanzer nur wenige Eckpunkte oder Facetten, welche die Seillängen voneinander unterscheiden würden.
Den kleinen Wulst erkennen wir immerhin in der Panico-Topo wieder. Wir sind jetzt in der offiziell neunten Seillänge. Für uns ist es die Fünfte. Eine scheinen wir uns auf wunderbare Weise ganz zu Beginn gespart zu haben. Drei sind wir gerade am laufenden Seil umgangen. Einfache Mathematik. Alles fein. Damit bleiben auch nur noch zwei schwere Seillängen im IV. Grad, die uns von den drei entspannteren Ausstiegslängen trennen. Bis hier waren wir reichlich schnell. Ben kann seine damalige Route nur irgendwo links von uns inmitten der Platten vermuten. Dadurch, dass sie den Einstieg sehr steil und direkt geklettert waren müssen sie mittiger auf die breite Kante gestoßen sein und dann einer etwas schwierigeren Variante (IV+) mit wenigen Schlaghaken gefolgt sein. Aber heute läuft’s!
6. Seillänge (IV, Zwischenstand)
Ich bin dran mit dem Vorstieg und dampfe relativ unbeschwert geradeaus in die herrlich kompakten Wasserrillen. Wirklich ein irrer Fels hier – gnadenlose, geneigte Wasserrillen soweit das Auge reicht. Dazwischen geschlossene Platte. Die Zwölferkante klettert sich durchweg wie eine Wand und hat mit einer Kante nichts gemein. Genau hier war in dieser Seillänge – sofern ich das mit gründlichen Recherchen überblicken kann – mein Fehler. Ich war zu weit links und damit im potentiell schwereren Gelände. Zwischensicherungen – ich rechne zumindest mit zwei wegweisenden Schlaghaken – finde ich überhaupt nicht. Ich verteile eine ganze Reihe Friends, so richtig gute Risse finde ich aber kaum. Erst zwei solide Sanduhren sorgen für subtile Entspannung. Wirklich gut ging es mir in dieser Seillänge aber nicht. Die Wasserrillen sind von einer ganz feinen, splittrigen Kruste überzogen, welche immer wieder unter den Tritten nachgibt. Brauchbare Griffe finde ich auch nur einigermaßen wenige und so schiebe ich mich Meter für Meter höher. Wohlwissend, dass ein Rückzug oder Sturz hier ziemlich unchillig ist.
Die Herausforderung für mich war hier vor allem psychischer Natur. Wobei sich diese dann ja auch auf die Kletterfähigkeiten niederschlägt. Als Ben und der Stand irgendwo unten im Plattenmeer versunken ist, wird es doch relativ einsam und orientierungslos hier oben. Die Seillänge fühlt sich endlos an und ich mache mir schon Sorgen, dass ich keinen Standplatz und auch keine Möglichkeit für eine Improvisation dessen finde, bevor mir das Seil ausgeht.
Ich mache Pause an einer der Sanduhren und schaue mich um. Es gibt wirklich keinen offensichtlichen Anhaltspunkt für einen Standplatz. Das “halbe Seil” von Ben ist auch schon ein paar Meter her, ich schätze, dass ich jetzt so 40 Meter geschafft habe. Eigentlich sollte ich also sogar schon auf Höhe des Standplatzes sein?
Im Eifer des Gefechts und mangelnden Genuss improvisiere ich einen Standplatz an 3 Friends. Die Theorie dahinter habe ich, praktisch in einem realen Szenario gebraucht noch nicht. Und so fühle ich mich an den eigentlich brauchbaren Sicherungen in einem festen Riss gar nicht so wohl. Auch weil Ben sich im Nachstieg nun nochmal das mit Abstand schwerste Gelände des Tages geben darf, das sich vielerorts eher wie eine V+ geklettert hat.
Während ich so sichere, entdecke ich ein gutes Stück über mir einen roten Schlaghaken. Hm. Ob das noch gereicht hätte?
7. Seillänge (IV)
Ben erreicht meinen Stand und übernimmt die Führung auf einen höher liegenden, weiteren Wulst zu. Er erinnere sich an diese Stelle. Meine Nerven beruhigen sich erst, als der den Schlaghaken erreicht hat und danach in einer etwas gestufteren Rinne rasch an Höhe gewinnt.
Um das also nochmal zusammenzufassen. Vermutlich(!) ist die Route hier rechts in Kantennähe einfacher. Man macht dort scheinbar(!) die Höhe und läuft dann horizontal auf einem Band unter dem sperrenden Wulst nach links zum Standplatz. Meine Quellen sprechen von 40 Metern. Ich würde diese Seillänge gerne nochmal klettern – ich kann mir keinen richtigen Reim daraus machen. Wir hatten 60 Meter Halbseile dabei. Ich war auf jeden Fall 10 Meter über dem halben Seil und Ben’s gerader Weiterweg von meinem improvisierten Standplatz war (Bild unten links) auch keine Sache von wenigen Metern. Wenn ich also davon ausgehe, dass ich an meinem Standplatz noch 20 Meter Seil gehabt hätte und Ben in der folgenden Seillänge geschätzte 15 – 20 Meter unterwegs war, dann wäre der Stand für mich nur ganz knapp erreichbar gewesen. Der einzige Erklärungsansatz ist, dass ich unten zu weit nach links gequert bin und hier ein paar Meter Seil gelassen habe, die ich sonst in Kantennähe gerade hoch gemacht hätte. Da wir den gebohrten Standplatz nach meinem Zwischenstand ziemlich direkt von unten erreicht haben, war ich aber auch nicht so fern ab vom Schuss. Ein bisschen Mythos und Fragezeichen bleibt also doch noch – soll ja beim nächsten Mal auch nochmal spannend sein.
8. Seillänge (IV)
Da Ben meine Seillänge vollendet hat, fällt mir nochmal ein Vorstieg zu. Diese Seillänge, die letzte vor dem leichteren Gelände, beinhaltet auf dem Papier sogar die schwierigste Einzelstelle, stellenweise ist von IV+ die Rede. Mich beeindruckt der kleine Überhang / Wulst nicht mehr. Die Plattenlänge mit Verhauer war viel schärfer zu klettern und die Absicherung ist mit einem Schlaghaken über der Stufe auch wieder besser. Ist der kleine Überhang an guten Griffen überwunden, so geht es um eine plattige Kante links herum in eine eindrucksvolle Nische in der Wand. Für mich ist das hier die schönste Seillänge der gesamten Zwölferkante mit schöner Kletterei in festem Fels bei abwechslungsreicher und eindrücklicher Landschaft.
9. Seillänge (II)
Nun kommen eigentlich nur noch drei Seillängen im II. Grad. Also normalerweise Gehgelände. Da der Kamin in dem unsere Nische zusammenläuft aber nochmal etwas steiler und trickreicher aussieht bleiben wir am Seil und Ben steigt die Länge vor. Als ich ihn am Stand erreiche, sind wir uns einig, dass das eine durchaus lustige II war. Klar – nicht wirklich schwer. Aber woanders steht auf so einem Kamin auch schnell mal III oder IV. Aber sowas kennt man ja schon – alles relativ.
Hinter dem Kamin lehnt sich das Gelände dann endgültig zurück und wird schlagartig äußerst brüchig. Zumindest wenn man im Rinnengrund bleibt. Es gibt wohl auch eine Variante, die in besserem Fels rechts auf und über die Kante führt. Wir wissen davon nichts und bleiben in der relativ intuitiven, breiten Rinne. Lustigerweise ist dieses Stück im Vergleich zum Rest der Tour nochmal relativ luxuriös eingerichtet. Gerade jetzt, wo wir beschließen für die letzten zwei Seillängen das Seil wegzupacken.
Ausstieg (II)
Angenehm und weder wirklich ausgesetzt noch steil in der Rinne aufwärts. Wo diese zu brüchig wird, lässt sich gut auf die ebenfalls griffigen und einfachen Seiten ausweichen. Wir halten uns ab einer gewissen Höhe eher rechts und folgen ein paar Bändern und Rampen auf den Grat. Hier macht der wunderschöne Blick in Richtung Eibsee wieder auf. Gegenüber sieht der große Waxenstein lächerlich nah und greifbar aus – der Grat hinüber dürfte aber noch ein paar trickreiche Stellen haben und das ist Stoff für eine andere Tour.
Der kleine Gipfelgrat ist dann unproblematisch und führt in wenigen Minuten auf den unbekreuzten und einsamen Gipfel. Auch ringsum ist nicht allzu viel los. Eine Person am großen Waxenstein. Über den Tag verteilt wenige Besucher an seinem kleinen Bruder. Alle Gipfel im Kamm teilen dieses Schicksal und bleiben von den Staus an Alpspitze, Zugspitze & Co. verschont. Die Wege sind zu mühsam, mögliche Entschärfungen (in Form von Gondeln und Hütten) nicht erschlossen und das Niveau selbst auf den Normalwegen über lange Strecken hoch und konsequent. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass das so bleibt.
Abstieg (I-II)
Nach einer kurzen Rast und obligatorischen Gipfelfotos geht es an den Abstieg. Und mit jedem Meter wächst mein Respekt für Ben und seinen Kollegen, die hier in völliger Dunkelheit und Nebel abgestiegen sind. Der Normalweg hat es für meinen Geschmack nochmal ziemlich in sich. Die Kletterstellen im I. oder II. Grad sind weniger das Problem – sie liegen im festen Fels. Ich störe mich eher an den extrem steilen Serpentinen in der Nordflanke, die halb gehend und halb kraxelnd abgestiegen werden. Dabei befindet man sich im absoluten Absturzgelände und ich ziehe mehr als einen Griff aus der felsdurchsetzten Wiese. Mich stresst’s ein wenig. Ich mag’s nicht so, wenn von den heiligen drei Punkten alle wackeln oder bröseln.
Ich hatte auch gehoftt, dass das Stück in die Mittagsscharte ein wenig kürzer ist. Letzten Endes sind wir vom Gipfel dann doch nochmal 30 sehr konzentrierte Minuten unterwegs, bis wir die scharfe Mittagsscharte erreichen. Links pfeift es in die dunkle Mittagsschlucht hinab. Rechts etwas weniger steil und weniger dunkel ins Höllental. Trotzdem ein sehr wildes Fleckchen Erde. Ben ist bei seiner Katastrophenbegehung nach rechts relativ orientierungslos gen Höllental abgestiegen, bis die Hänge so steil wurden, dass die beiden sich an einer Wurzel anbinden und die Nacht im Sitzen biwakieren. Das steht für heute hoffentlich nicht mehr auf dem Plan.
Wir haben nun die Wahl der Qual: nach links über die Abseilpiste zurück in die Mittagsschlucht oder nach rechts über den steilen Schafsteig ins Höllenta… ach Moment. Die Stöcke liegen ja links. Nagut.
Verlängerung (III+)
Und dann wird es die dritte Möglichkeit, die man nicht im Führer liest. Warum denn auch? Wir hängen zwei luftige Seillängen an und landen mit kurzem aber anspruchsvollen Gegenanstieg auf dem kleinen Waxenstein. Hier endet die detaillierte Beschreibung, da jemand den ich kenne (und mag) befürchtet, dass ich diesen Berg damit zum Modeberg mache. Ein Blick in meine Besucherstatistik dürfte solche Ängste zwar ausräumen und warum das hier keine Touristenattraktionen werden ist auch naheliegend – aber versprochen ist versprochen.
Mit der Verlängerung der Tour kaufen wir uns in jedem Fall nochmal einen langen, fordernden und komplizierten Abstieg auf scharfen Graten und durchaus ernsten Kraxelstellen. Ich kenne den Abstieg bereits und weiß worauf wir uns einlassen. Eigentlich hatte ich auch gehofft Ben möglichst ausführlich und authentisch davon zu erzählen. Am Ende kratzen wir, irgendwo zwischen vielen Stunden in der Sonne, einem überlangen Bergtag und einsetzender Dehydration dann aber doch ein wenig an seinem Limit. Eine Grenze, von der ich nicht dachte, dass ich sie mal finde. Es dauert wirklich lange, bis das Gelände wieder zum sorgloseren Steigen einlädt und als wir wieder bei unseren Stöcken sind leuchtet schon eine goldene Abendsonne über die Ammergauer Alpen.
Und so wanken wir irgendwann wieder in Hammersbach aus dem Wald. Getrieben vom Durst. Und vom ablaufenden Parkticket. Vor allem vom ablaufenden Parkticket. Hinter uns liegt eine in Summe anspruchsvolle und lange Tour. Auch wenn die Zwölferkante selbst diesmal ziemlich schnell und flüssig ging, wurde es ein langer Tag in der brüllenden Sonne und wildem, meist vertikalen Wettersteinkalk.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Die Zwölferkante ist eine typische, klassische Linie. Die Wegwahl ist – je nach Kletterkönnen und Sicherungsbedürfnis – recht frei. Haken, Sanduhren mit Schlingen oder Markierungen zum stumpfen Nachklettern sucht man vergebens – wahrscheinlich tut man sogar gut daran nur in die Wand einzusteigen, wenn man auf sowas auch jederzeit verzichten könnte. Ein Rückzug ist je nach Position in der Wand nur schwer möglich, bei schlechter Sicht dürfte sich die Route ohne Ortskenntnis schnell in ein ziemliches Inferno verwandeln. Obwohl die Kletterschwierigkeiten wirklich überschaubar sind – der einzige richtige Ausreißer war unser (wahrscheinlicher) Verhauer in der oberen Plattenzone – landet diese Tour in meiner ganz persönlichen Liste vom Gesamtanspruch her erschreckend weit oben. Nicht ganz einfache Wegfindung, Steinschlaggefahr, fehlende Rückzugsmöglichkeiten, dünne Absicherung, langer und nicht trivialer Abstieg sind nur kleine Aspekte, die zu diesem Gesamtbild führen. Für mich auf jeden Fall nicht die nette Kante von nebenan, die man mal kurz zum Feierabend heizt. Vom Gesamteindruck eher eine Dolomitentour als bayrische Genusskletterei.
Wir waren mit 2 x 60m Halbseilen unterwegs. Das ist auch die Mindestanforderung, wenn man sich die Option der Abseilpiste in die Mittagsschlucht offen halten will. Daneben waren Schlingen für (wenige, aber vorhandene) Sanduhren sinnvoll. Ebenso bin ich froh gewesen, ein durchaus üppiges Sortiment an Keilen und Friends mitgebracht zu haben um nicht komplett auf das Auffinden der Standplätze angewiesen zu sein. In meiner langen Plattenfahrt sind diverse Klemmgeräte zwischen #0.3 und #2 im Fels gelandet. Auch in anderen Seillängen gab es Momente, wo die eine oder andere zusätzliche Sicherung Sinn gemacht hat. Tatsächlich ist das Gelände aber nicht durchgehend schwer und im Schnitt eher unter dem IV. Grad anzusiedeln. So zumindest mein Eindruck. Fit sein sollte man trotzdem. Das ist absolut individuell – aber ich war an einer entscheidenden Stelle echt ordentlich am flattern und die kniffligeren Moment müssen meist zwingend und noch viel öfter mehr oder weniger ungesichert überwunden werden.
Fazit
Sehr großzügige und wilde Linie in der markanten ersten Reihe über Grainau, die in Länge, Absicherung und Schwierigkeit nicht unterschätzt werden sollte und in der auch erprobte Seilschaften ihren Spaß haben dürften. Nicht wirklich schwer, aber etwas ernst(er). Mit deutlichem Puffer über dem IV. Grad und einiger Flexibilität in Sachen Absicherung klettert sich auf jeden Fall entspannter und wer seine Klemmgeräte daheim lässt, sollte sich seiner Sache sehr sicher sein. Mir fällt auf Anhieb keine vergleichbare Kletterei ein, bei der Licht und Schatten so dicht beinander liegen. Die extremen Unterschiede in Begehungszeiten und wahrgenommener Schwierigkeit untermauern diesen Eindruck. Man kann hier eine echt geile oder echt miese Zeit haben – und dazwischen liegen oft nur wenige Meter. Für mich ein schöner, aber auch erdender Bergtag, an dem ich die Zwölferkante trotz gutem Tempo und kaum nennenswerter Problemen als alpine Mini-Longline kennengelernt habe.