Literatur: Arco Plaisir*
Kleine, rote Infotafel
In diesem Artikel geht es nicht nur um die gekletterte Route sondern auch um eine Reihe von groben Fehlern und einem beinahe-tödlichen Absturz einer anderen Seilschaft, die sich in Führung durch einen Bergführer befunden hat. Meine Intention ist es keinesfalls bloßzustellen, zu diffamieren oder heikle Situationen anderer für besonders actionreiche Blogposts zu missbrauchen. Falls dieser Eindruck entsteht: Mail an mich. Wird angepasst.
Wahrscheinlich gehört es auch zum guten Ton hier eine kurze Triggerwarnung auszusprechen. Auch wenn es für die Umstände „glimpflich“ ausgeht und ich (natürlich) keinerlei Bilder aus der Situation habe, werden leichte Verletzungen und reales Unfallgeschehen beim Mehrseillängenklettern in Textform eine Rolle spielen.
Ich versuche der Situation so authentisch und respektvoll wie möglich zu begegnen und den Vorfall aus meiner Perspektive zu schildern – werde aber an einigen begründeten Kritikpunkten nicht vorbeikommen. Wichtig finde ich das vor allem, weil dieser Tag für mich als direkt involvierten „Ersthelfer“ extrem lehrreich war und mein Klettern wahrscheinlich langfristig prägen wird. Ich glaube ferner, dass der Vorfall mindestens dazu dienen kann sich einen möglichen Ernstfall vor die Augen zu führen und sich selbst kritisch zu fragen ob und bis zu welchem Grad man selbst handlungsfähig gewesen wäre. Geht man dann eine Spur sensibler und achtsamer an seine eigenen Bergabenteuer heran, so ist bereits etwas gewonnen.
Seit der letzten richtigen Wanderung sind ein paar Wochen vergangen – vorrangig einem Wohnungswechsel und einer Ausnahmesituation in der Arbeit geschuldet. Der letzte größere Ausflug war wahrscheinlich die Winterbegehung am Grünstein – welche immerhin 2 Monate in der Vergangenheit liegt. Und eh man sich versieht hat sich in dieser Zeit auch schon der Frühling eingeschlichen und eine neue Klettersaison steht klopft zunehmend aufdringlich an die Tür. Und um sich auf den letzten Metern noch angemessen auf eine solche vorzubereiten zieht es uns wie einige Male zuvor ins schöne Sarcatal und in die spannenden Wände rund um Arco. Mit dem beruhigenden Fazit, dass wir über den Winter gar nicht so viel verlernt haben.
Dass wir dann aber direkt mit einem beinahe-katastrophalen Absturz und provisorischen Rettungsmethoden konfrontiert sind, stand eigentlich nicht auf dem Plan…

Il Mercurio Serpeggiante
Unsere Wahl für einen ersten Einstieg fällt auf den Grill-Klassiker Il Mercurio Serpeggiante, dem wir uns bereits einige Male von der Seite angenähert haben. Die Führe liegt eingebettet zwischen der beliebten (bis absurd überlaufenen) Bellezza della Venere und der ebenfalls zu Recht beliebten Luna Argentea. Den selben Wandbereich überwindend misst auch unser Vorhaben etwas über 400 Klettermeter in 11 überwiegend sehr schönen Seillängen. Dabei wird kurz der 6. Grad touchiert – ansonsten klettert man meist zwischen dem 4. und 5. Grad. Im oberen Teil wird spektakulär eine weithin sichtbare, rötliche Dachzone durchklettert – mit luftigen Quergängen in interessantem Fels. Die Absicherung ist wie für die Erschließer typisch „gut“ – mit ausreichend Potential für einige Klemmgeräte und definitiv nicht plaisirmäßigen Abständen zwischen den meist (aber nicht immer) soliden Sanduhrschlingen. Für uns ein schönes Frühjahrs-Teststück in mutmaßlich nicht allzu forderndem Fels.
Für alle anderen aber halt auch.
1. Seillänge (IV)
Verdächtig ruhig geht es am Einstieg zur Sache. Keine fliegenden Steine, keine Warteschlange – und all das trotz für unsere Verhältnisse obszön fortgeschrittener Tageszeit. Wir bestücken unsere Gurte und Hannah steigt wie es die Prophezeiung verlangt in die erste Seillänge ein. Pünktlich dazu gesellt sich doch noch eine Seilschaft zu uns und steigt direkt hinter uns ein. Also doch alles wie immer – Aufatmen.
- Das Default-Startwandl
- Im charakteristischen Blau ist der Routenname angeschrieben
Kennste einen, kennste alle..
Ein Bilderbuch-Arco-Aufschwung führt zu einer etwas höheren aber gut erreichbaren Sanduhrschlinge. Ein bisschen griffig, ein bisschen speckig. Ist das kleine Mäuerchen erstmal überwunden geht es in gestuft-plattiger Kletterei leicht nach rechts querend zum Standplatz. Mit einigen Sanduhren unterschiedlicher Qualität ist die Länge definitiv nicht übersichert – bei Bedarf lässt sich aber auch das eine oder andere Klemmgerät unterbringen. Und auch wenn wir uns hier erstmal wieder an dieses Klettern gewöhnen müssen: überraschend griffig und kompakt. Macht Spaß! Man kann definitiv unlohnender in diese Wandflucht einsteigen. Mal sehen, ob es so weiter geht.
2. Seillänge (IV-)
Wir wechseln die Führung und ich steige dem Miniatur-Pfeiler rechts vom Standplatz auf’s Haupt. Es geht so weiter! Griffige und interessante Kletterei – bereits im unteren 4. Grad. Sehr fein – nur ein wenig zu kurz geraten. Nach wenigen steilen Metern lehnt sich das Gelände zurück und führt im Gehgelände an einen optionalen Standplatz an einem Baum heran. Lässt man diesen aus, sollte man auf dem relativ langen Weg zum Standplatz nicht mehr allzu viele Zwischensicherungen legen. Die Länge ist definitiv die uninteressanteste der Führe – lässt sich aber auch nicht vermeiden und fällt rückblickend auch nicht weiter ins Gewicht. Hat man den Standplatz am Fuße einer offensichtlichen Plattenrippe erreicht, darf man sich auf anhaltend lässige Klettermeter freuen. Oder auf Stau. Denn bereits hier laufen wir auf 2 Seilschaften auf, die den weiteren Verlauf des Tages maßgeblich prägen werden.
3. Seillänge (IV)
Wir warten, bis die Nachsteigerin der Seilschaft vor uns aus dem unmittelbaren Blickfeld gekraxelt ist und folgen auf leisen Sohlen. Der kurze Unmut über den von unten nicht erkennbaren Trubel weicht bald der Begeisterung über den wirklich überraschend guten Fels.

Überwiegend an fixen Sanduhren gesichert geht es durch plattigen Fels, welcher aber von fantastischen Griffen, Rissen und Henkeln durchzogen ist. Dabei sind es auch keineswegs nur einzelne Meter die lohnend sind: Die hier ansetzenden Seillängen klettern sich homogen und genüsslich und folgen stets einer logischen Linie durch den geneigten Vorbau der Wand. Hannah läuft ziemlich direkt wieder auf die Seilschaft vor uns auf und bezieht einen Ersatzstandplatz an einem Bäumchen. Ich folge, schließe auf und mache es mir gemütlich. Obwohl die beiden vor uns schon in der nächsten Seillänge sind wird es hier bereits 50 Minuten dauern, bis wir uns wieder bewegen dürfen. Um das in eine Relation zu setzen – das ist die Zeit, in der eine eingespielte Seilschaft im moderaten Gelände 2-3 Seillängen klettert. Und das ist überhaupt nicht vorwurfsvoll oder herablassend gemeint. Im Gegenteil. Wir haben uns die Tour ja im Wissen um ihre Bekanntheit ausgesucht und hatten heute früh auch keine Lust auf die absurd frühe Anreise, die wir uns vor einigen Jahren für die Nachbarroute auferlegt haben. Wir sind heute tiefenentspannt. Genießen die Aussicht. Recherchieren Klettereien für den Folgetag. Haben heute ohnehin nichts mehr vor.
4. Seillänge (IV+)
Umso schöner, als es dann endlich weiter geht und wir wieder ein bisschen Fels anfassen dürfen. Ich bin im Vorstieg und auch die 4. Seillänge zeigt sich von ihrer besten Seite. Es bleibt homogen und plattig – wird nun aber überraschend steil. Zwei längere Aufschwünge werden durch ein Band getrennt und werfen beide brutal griffige Löcher, Risse und Kanten ab. Oben raus – in einer glatten Platte mit reduzierter Anzahl an ebensolchen Rissen und Löchern – wird es für den oberen 4. Grad kurzweilig sogar recht kühn. Auf den 45 Metern ist brutal viel geboten – das Warten hat sich gelohnt.
Erneut beziehe ich einen mobilen Standplatz und hole Hannah nach. Diesmal nutzen wir die Wartezeit für eine Brotzeit über dem Sarcatal. Auch mal schön.
5. Seillänge (V-)
Hmmm

Ein bisschen zäh ist die Sache schon. Inzwischen hat sich herauskristallisiert, dass vor uns zwei zusammengehörende, italienische Seilschaften unterwegs sind, die teilweise aufeinander warten und damit die Wartezeit, die sich nach unten vererbt, maximieren. Auch hier – kein Vorwurf. Jeder in seinem Tempo. Ein Überholmanöver ist in der verwinkelten Wand unter diesen Umständen und mit dieser Erkenntnis aber erstmal ausgeschlossen. So entspannt wie bei uns scheint es wenige Meter über uns aber auch gar nicht zur Sache zu gehen. Die beiden wirken nicht nur von der Kletterei überfordert. Auch die Sicherungstechnik sieht vorsichtig gesagt wackelig aus. Oder ein wenig härter formuliert – ich kenne Kletterhallen, in denen man mit der dargebotenen Sicherungstechnik vom Hallenpersonal angesprochen und ggf. auch aus der Halle geworfen werden würde. Gemeint ist ständiges Auslassen der Bremshand, die Notwendigkeit bei jeder Bewegung auf das Gerät zu gucken und ein eher unüblicher Winkel der Bremshand zum Gerät, welches seiner Aufgabe so im Zweifel weniger gut nachkommen würde.
Hannah folgt den beiden durch die 5. Seillänge. Diese beginnt mit einem kurzen Aufschwung und einer langen, horizontalen Querung nach links. Bis dahin fällt die Kletterei recht einfach aus. Die Querung mündet in einer seichten Platte. Auf wenigen Metern wird der 5. Grad erreicht – hier aber noch ziemlich unspektakulär. Eigentlich gilt es nur einen etwas technischeren Zug in die Platte zu machen, danach löst sich die Kletterei wieder in Wohlgefallen und genüssliche Klettermeter auf. Am Ende der Seillänge landet man auf einem Band, an welchem die Wand spürbar aufsteilt und der Fels vom grellen Weiß des Vorbaus in das wilde Rot der kühnen Dachzone wechselt.
6. Seillänge (V+)
Nach einer erneut ausgiebigen Pause hat der Nachsteiger der Seilschaft vor uns den Quergang überwunden und ich gehe mit reichlich Abstand den Vorstieg dessen an. Es ist die erste Seillänge, die markant kniffliger ausfällt. Der Fels ist glatt, kleingriffig und ein wenig abdrängend. Der Quergang – an korallenartigem Gestein und in stetigem Auf und Ab – hat seine Schwierigkeitsbewertung verdient und kommt luftig und anhaltend daher. Die Absicherung ist weiterhin gut – im Angesicht eines kleinen Pendelsturzes muss aber schon auch mal mit etwas Abstand zur letzten Sicherung operiert werden. Eigenes Material wie Friends, Keile oder Schlingen ist in dem geschlossenen und abschüssigen Fels kaum sinnvoll einzusetzen. So direkt aus dem Winterschlaf heraus kein Selbstläufer. Aber auch hier – eine sehr schöne und interessante Seillänge.
Am letzten Haken angekommen habe ich erstmals die Möglichkeit den Standplatz in einer kleinen Nische einzusehen. Dort tummeln sich gerade 4 Menschen auf engstem Raum. Eine 5. Person befindet sich im Vorstieg. Vor uns ist also eine Dreierseilschaft und eine Zweierseilschaft.
Sorry it’s full
- Die Seilschaft vor uns im gelben Quergang (V+)
- Warten im Quergang
- Der Quergang im oberen 5. Grad ist gar nicht mal so übersichtlich
- Tiefblick
Gar kein Stress. Ich setze mich in den letzten Haken und warte. Ein luftiges Plätzchen. Aber besser als den anderen zwei Meter weiter oben auf die Pelle zu rücken. Es zeichnet sich eine wilde Konstellation ab, über die ich an diesem Punkt nur Mutmaßen kann. Fakt ist aber Folgendes. Der Vorsteiger der Dreierseilschaft ist ein Bergführer, welcher mit 4(!) gänzlich unerfahrenen Gästen zu ihrem „ersten Mal am Fels“ unterwegs ist. Dabei schleift er zwei der Teilnehmer in der Dreierseilschaft hinter sich her, während die Zweierseilschaft in der verwinkelten Route quasi-autark klettert und dabei aber die platzierten und teils kurios verlängerten Zwischensicherungen der Dreierseilschaft zum Nullen und für den eigenen Vorstieg mitbenutzt.
Andere Länder, andere Sitten?
Flirt mit dem Totalabsturz
So leicht möchte ich es uns nach dem Unfall aus nächster Nähe nicht mehr machen. Was ist also passiert?
Ich sitze – wortwörtlich – die gesamte Dreierseilschaft aus und warte zusätzlich bis der Vorsteiger der Zweierseilschaft zu klettern beginnt. Am Standplatz befindet sich also nur noch die sichernde Italienerin, als ich die letzten Meter fertig klettere und in die kleine Nische aussteige. Die Standplätze der Route sind übrigens ganz gut mit zwei Bohrhaken eingerichtet. So ist es auch hier und ich packe meine Standplatzschlinge unter den vorhandenen Aufbau der anderen Seilschaft, wie es im übervollen Sarcatal ohnehin üblich ist. Der Vorsteiger befindet sich gerade noch in Sichtweite und rund 8 Meter über dem Standplatz. Eine einfache aber nicht abgesicherte, gelbe Rampe führt hier an den Quergang heran, der dann in die Crux der Route führen wird. Der Bergführer hat am Scheitelpunkt der Rampe einen Friend hinterlassen – der Runout über dem Standplatz ist dennoch beträchtlich. Die Kletterei erfordert allerhöchste Konzentration und Präzision.

Als meine Standplatzschlinge hängt und ich mich gerade selbst sichern will sehe ich aus dem Augenwinkel den Beginn dessen, was wahrscheinlich der Alptraum vieler Seilschaften im alpineren Gelände ist. Der Vorsteiger greift in die Expresschlinge an dem Friend, den er nicht gesetzt hat um die Stelle – wie gewohnt – zu nullen. Der Friend reißt aus, die Person fliegt mit maximaler Dynamik aus der Wand.
Mein Kopf sammelt (zum Glück) von selbst in Sekundenbruchteilen die notwendigen Informationen. In wenigen Sekunden haben wir hier einen ungebremsten Sturz in den Standplatz mit der Gewalt von mindestens 16 Metern Fallhöhe. Es gibt keine weiteren Zwischensicherungen. Der Sturz kreuzt meine Seile. Ich bin zwar noch im Vorstieg gesichert aber befinde mich selbst auch 3 Meter über dem letzten Haken. Wenn er jetzt in mein Seil stürzt fliege ich mit aus der Wand. Ohne dass ich es aktiv wahrnehme haben meine Hände einen Mastwurf geknüpft und in den Standplatz eingehängt. Der Sturz klingt schrecklich. Der Stürzende schlägt mehrmals an der Wand auf und verschwindet dann ins überhängende Gelände unter dem Quergang. Eine halbe Ewigkeit später kommt die Kraft in den Standplatz.
Die Sichernde hatte ihren deutlich schwereren Seilpartner mit einem Petzl Reverso in Körpersicherung. Ein Dummy-Runner macht den Sturz zwar irgendwie haltbar – wenn auch zu einem hohen Preis. Sie wird mit der Gewalt von einem mit Seildehnung und Bremsweg rund 20 Meter messenden Sturz in den Standplatz gezogen. Beide Hände schlagen in den Fels und beginnen sofort zu bluten. Als Stillstand eintritt befindet sie sich bis zur Bewegungsunfähigkeit an den Fels fixiert – gefesselt und um jeglichen Handlungsspielraum beraubt durch ihren im freien Raum pendelnden Seilpartner.
Ihr erster Impuls: den Schraubkarabiner am Reverso öffnen. Ihren Partner aus der Sicherung nehmen? Sich selbst befreien? Irgendwas schrauben? Ich greife sofort ein.
Do you need help?
Nicken. Zittern. Schock. Ich tue, was mir logisch erscheint. Ich schnappe mir ihr Bremsseil und hintersichere die gesamte Situation in meinem Zentralpunkt. Redundanz schaffen. Mit vereinten Kräften schaffen wir es unter Last ihr eigenes Material ein wenig zu entlasten und sie vom Fels zu lösen. Ich helfe ihr das Reverso in den Standplatz umzuhängen. Raus aus der Körpersicherung. Ihr Seilpartner hat sich zum Glück berappelt, ist ansprechbar und kann sich bewegen. Das ist pures Glück und eine riesige Erleichterung. Ich sage das nur sehr ungern und nicht leichtfertig – aber dieser Sturz in diesem Gelände hätte mit einer ungünstigen Drehung oder einem Aufschlag am Kopf leicht tödlich verlaufen können. Ich spanne meine Seile zu einem Seilgeländer ab, dessen zweiter Fixpunkt Hannah’s Standplatz in der unteren Seillänge ist, die mich immer noch sichert und den Sturz dank dichter Bäume nur sehr indirekt mitbekommen hat.
Der Abgestürzte kann eigenständig am Seilgeländer wieder zu uns aufsteigen. Seine Begleiterin steht immer noch unter Schock und ist kaum ansprechbar. Was mir kommuniziert wird ist aber, dass es ihr erstes Mal ist. Dass sie mit Bergführer unterwegs sind, der aber schon einen Standplatz weiter und in der verwinkelten Route außer Sicht- und Rufweite ist. Nervöses Lachen. Irgendwie gut gegangen. Klettern halt.
Ich räume ein, dass das ein wirklich ernster Sturz war und biete an, dass ich Hannah nachhole. Hannah könnte dann vorsteigen, mich an einem Strang unserer Halbseile nachholen und einen etwaigen Vorsteiger der anderen Seilschaft am anderen Strang in den Nachstieg befördern. Zu meiner Überraschung lehnen die beiden ab.
We need to stay together
Dass Abseilen keine Option ist dämmerte mir insgeheim eh schon – denn dafür fehlen offenbar Kenntnis und mit Blick auf die leeren Gurte auch Material. Generell – wäre ich nicht vor Ort gewesen, wäre nichtmal ein zusätzlicher Schraubkarabiner vorhanden gewesen um irgendwas zu tun. Schleifknoten – Fehlanzeige.
Was ist also der nächste Schritt? Er steigt nochmal vor – sichtlich angeschlagen und wahrscheinlich noch mit mächtig Adrenalin im Blut. Sie – eigentlich noch unter Schock stehend – sichert ihn erneut vom Körper und weiterhin mehr schlecht als Recht. Der Runout, der den ersten Sturz provoziert hat ist noch länger geworden. Der Friend wurde ja rausgezogen und war zuvor vom Bergführer gesetzt worden. Selber setzen – wie denn?
Ich persönlich kann mir hier rückwirkend nur den Vorwurf machen, dass ich mich stärker dafür hätte einsetzen können (ja, vielleicht sogar müssen), dass es nicht nochmal zu diesem Chaos-Vorstieg kommt, welcher nun glücklicherweise und mit vollem Zug an jeder Zwischensicherung gelingt. Als sich das Feld ein wenig gelichtet hat, hole ich Hannah nach. Die Seilschaft hinter uns flieht per Pendelquergang in die Nachbarroute. Ihnen wird es zu bunt.
Die wichtigsten Schlüsse für mich persönlich…
- Körpersicherung is a Bitch. Die Meinungen dazu gehen bekanntlich auseinander und die Vor- und Nachteile von Körpersicherung contra Standplatzsicherung werden laufend und kontrovers diskutiert. Problematisch wird es in meinen Augen, wenn nur das eine – hier die Körpersicherung – beherrscht wird und dann unreflektiert als Universallösung verwendet wird. In der engen Nische und bei dem großen Gewichtsunterschied wäre eine Standplatzsicherung meines Erachtens die klügere Option gewesen. Der Sturz wäre dennoch hart bis heikel gewesen – das Vorhandensein eines Dummy-Runners muss an der Stelle positiv und potentiell lebensrettend erwähnt werden.
- Behelfsmäßige Bergrettung. Die Verlockung ist groß direkt mit dem Prinzip der Wechselführung, einigen Sicherungsknoten und den Grundlagen der Abseilerei loszuziehen und beeindruckte Touren im alpinen Gelände zu unternehmen. Das geht sich im Regelfall auch ganz gut aus. Ich weiß das, weil ich selbst so angefangen habe und rückblickend viel zu spät damit begonnen habe auch über den Tellerrand dessen was man täglich braucht zu gucken und in ein paar Techniken für den Notfall zu investieren. Schleifknoten? Generell agieren unter Last? Expressflaschenzug? Körperhub? Irgendetwas, das auch im absoluten Schock funktioniert. Ich selbst habe festgestellt, dass ich in dieser Situation halbwegs distanziert habe reagieren können, weil es nicht meine Seilpartnerin war, die abgeschmiert ist. Mit meinem Eingriff habe ich das Minimum beigetragen. Spätestens wenn die gestürzte Person nicht ansprechbar gewesen wäre, wäre es aber auch für meinen damaligen Kenntnisstand mindestens sportlich geworden.
- Führungssituationen. Ich habe einen riesigen Respekt vor der Arbeit von Bergführern. Enttäuscht hat mich dennoch der riesige Raum für Katastrophen, welcher hier über einen Tag hinweg geschaffen und toleriert wurde. Mit meiner aktuell laufenden Ausbildung beim VDBS zum UIMLA International Mountain Leader bin ich zwar lange nicht in dem scharfen Gelände eines Bergführers unterwegs – dennoch verbringe ich viel Zeit damit ein Situationsbewusstsein für Risiken zu schulen und speziell auf die Führung von Gruppen in potentiell gefährlichen Umgebungen anzuwenden. Sorry Kollege, aber das ist kein Schulungsgelände. In einer derart verwinkelten und alpinen Route hat ein Mehrseillängenkurs dieses Niveaus mit einem Bergführer nichts verloren. Insbesondere nicht in dem Glauben sicher unterwegs zu sein.
…was aber bei all dem zu befürchten ist und worüber Hannah und ich uns noch lange die Köpfe zerbrochen haben: diese Schlüsse haben jetzt nur wir gezogen. Für die Teilnehmer des Bergführers hatte die Tour „Erlebnischarakter“. Das Erlebte wurde wahrscheinlich nie richtig eingeordnet oder besprochen. Das sind nur Mutmaßungen. Aber wir sind leider zu dem relativ ernüchternenden Schluss gekommen, dass der Bergführer mit seiner zahlenden Kundschaft und ohne Einsicht in den Sturz keinerlei Möglichkeiten hat, das Geschehen vernünftig aufzuarbeiten. Auch wird er das – unter Wahrung der eigenen Expertise und Rechtfertigung der in unseren Augen mehr als fragwürdigen Konstellation an diesem Tag – ohnehin besser lassen. Als wir die sichtlich angeschlagene Truppe in Seillänge 10 überholen, ist man sich bloß einig, dass irgendwer nachher ein Bier braucht.
So ist er halt, der Klettersport 🙂
Vorwerfen kann man uns wahrscheinlich, dass wir bei offensichtlichen Fehlern nicht früher schon Input geliefert haben. Aber ist das wirklich unsere Aufgabe? Und wo fängt man damit an, wenn der gesamte Aufbau der Gruppen und die Standplätze des Bergführers bereits Grundlage des Diskurses sind. In der Wand habe ich mich dafür entschieden, dass es Eigenverantwortung gibt und ich mich nicht einmische – schon gar nicht bei Kursteilnehmern eines Bergführers und dem Potential viel früher in der Wand für mehr Verwirrung zu sorgen. Ob ich das auch noch so sehen würde, wenn der Sturz drastischere Konsequenzen gehabt hätte?
7. Seillänge (VI)
Hannah, die meine Schilderungen im Schnelldurchlauf übergestülpt bekommen hat, darf sich nun besagte Seillänge aus der Nähe anschauen. Ohne den Vorfall hätte man sich wahrscheinlich nicht gar so viel dabei gedacht. Es ist schon einer der markanteren und luftigeren Runouts in der sonst überraschend gemütlich abgesicherten Tour – die Kletterei ist mit etwas Vertrauen in die Füße aber nicht allzu schwierig. Was schwierig ist, ist eine adäquate Absicherung gegen den eben beobachteten Standplatzsturz. Unten wird Hannah zwar einen großen Totem los – der befindet sich aber direkt über dem Standplatz und verkürzt eventuelle Stürze nur minimal. Am Scheitelpunkt lässt sich dann ein Lila Totem (oder vergleichbares) hinter eine Art Hangelschuppe versenken. Da sich der Riss aber nach oben öffnet wird man nie einen wirklich sinnvollen Winkel für die Kraftaufnahme erreichen und muss – wie eben beobachtet – eher von einem Placebo-Placement ausgehen. Dass es wenig später nur einen alten Schlaghaken gibt, verbessert die Stimmung nur geringfügig.

Hannah arbeitet sich trotzdem souverän und konzentriert durch die Seillänge und mit der nun wieder in engeren Abständen folgenden Zwischensicherungen fällt die Anspannung langsam ab. Spannend ist dann die eigentliche Schlüsselstelle. Hier wird der bis dahin beinahe horizontale Quergang schlagartig aus einer Nische heraus verlassen. Das erfordert einen etwas mutigeren und sehr ausgesetzen Zug über einen kleinen Sinter-Überhang. Danach geht es griffiger und langsam abflachend durch eine Verschneidung heraus in gangbareres Gelände.

8. Seillänge (V-)
Ein bisschen irritiert bin ich schon, als ich sehe dass die Truppe mitsamt Bergführer und zwei leicht verletzten Gästen weiter klettert. Von hier aus sind es immer noch vier Seillängen zum Ausstieg und ein exponierter Abstieg über einen leichten Klettersteig nach Dro. Klar – jetzt fünf Leute abzulassen ist auch keine wirklich feine Lösung. Aber der Weiterweg – teils unter offensichtlichen Schmerzen – definitiv auch nicht.
Abseits davon ist auch die 8. Seillänge äußerst schön und homogen. Und für den unteren fünften Grad auch überraschend steil. Über einen senkrechten Pfeiler mit grandiosen Henkeln und Seitengriffen erreiche ich flacheres Gelände und leicht rechtshaltend den nächsten Standplatz.
9. Seillänge (IV+)
Wir trauen uns und fragen, ob wir überholen dürfen. Am nächsten Stand. Eigentlich macht das jetzt keinen Unterschied mehr, wir sind inzwischen fast 8 Stunden in einer Wand, deren Durchstieg normalerweise die Hälfte der Zeit hätte benötigen dürfen. Ein letztes Mal schauen wir zu wie schwammig vom Körper gesichert wird, 4-5 Expressen ineinander gekettet werden und wie gnadenlos an kleinen, schwindligen Friends und maroden Schlingen genullt wird. Und ein letztes Mal fragen wir uns, wie so viel Gefahr in einem „offiziellen Kurs“ geduldet werden kann. Denn würde besagter Friend versagen, hätten wir den nächsten Bodensturz auf ein Band.
Fragen über Fragen
Die 9. Seillänge beginnt mit einem kleinen aber trickreichen Aufrichter auf einer glatten Platte, welche sich nur zweifelhaft mit dem kleinsten Totem hinter einer Schuppe absichern lässt. Bis zur ersten fixen Sicherung hat man auf jeden Fall die schwierigste Kletterei hinter sich. Dann geht es erneut griffig ein plattiges Wändchen empor und etwas linkshaltend zum Standplatz auf dem nächsten Absatz.
10. Seillänge (V+)
Wir passieren die Gruppe und steigen zügig weiter. Für mich geht es nun durch einen kurzen, griffigen Aufschwung und dann über eine interessante Plattenquerung. Hier dürfen nochmal halbwegs präzise Tritte gesetzt werden – man schiebt und tänzelt sich irgendwie ans Eck, wo es weit links einen erlösenden Henkel gibt. Dann geht es gutmütiger weiter wobei im oberen Teil nochmal ein gewisser Runout über kompakte, raue Platten wartet. Hier nähert sich von unten links die Nachbarroute La Luna Argentea und der tiefere Stand am Ende der Querung gehört zu dieser. Für die letzte Seillänge der Il Mercurio Serpeggiante folgen wir den blauen Markierungen über etwas bröseliges Gehgelände und durch eine vage Schneise gerade hoch an den Fuß eines kleinen, markanten Überhangs.
- Plattentanz in der 9. Seillänge – mit durchaus interessanten, technischen Momenten
- Der kleine Überhang in der letzten Seillänge lässt sich über links ganz gut bezwingen
11. Seillänge (V+)
Und besagter Überhang löst sich über links dann auch überraschend gutmütig auf. Es folgen noch 1-2 schwerere Meter in einem kleingriffigeren Wändchen (eventuell nochmal Einsatzort für ein kleines Klemmgerät) bevor einfacher Fels zum Ausstieg auf einen kleinen Pfad führt. Auch wenn die letzten zwei Seillängen nun noch ein flowiger Abschluss eines langen Klettertages waren steht fest:
Morgen suchen wir uns was Einsameres
Oder stehen einfach mal früher auf. So wie damals. Bei unserem ersten Mal in Arco. Aber man wird halt irgendwie auch alt.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Abseits von unseren heutigen Herausforderungen eine wirklich schöne Route. Selten ist mir in den längeren Linien zwischen Dro und Pietramurata so eine Dichte an spannenden Seillängen im niedrigeren Schwierigkeitsgrad unter die Finger gekommen. Unter den mir bekannten Grill-Klassikern in dieser Wandflucht ist sie neben der La Luna Argentea eine der lohnendsten. Im Vergleich zu dieser, ist die Il Mercurio Serpeggiante aber trotz formal ähnlicher Bewertung von 6 (5 obl.) deutlich zahmer. Die Kletterei ist selten wirklich speckig oder abgegriffen – obwohl die Route offensichtlich sehr beliebt ist. Die Kletterei ist auf langen Strecken überraschend homogen im 5. Grad angesiedelt, es fehlen aber markante Ausreißer nach oben. Die jeweiligen Schlüsselstellen sind oft nur von kurzer Natur und einigermaßen dankbar zu klettern. Obwohl die 7. Seillänge die Schlüsselstelle mit dem kurzen, kühnen Zug über das Sinter-Dachl beherbergt ist mir persönlich der vorherige Quergang in der 6. Seillänge als anhaltend schwierigster Abschnitt in Erinnerung geblieben.
Die Absicherung ist über weite Strecken recht gut und fast schon üppig – zumindest wenn man sich im geforderten Schwierigkeitsgrad wohl fühlt. Die Stände passen eh und sind meist an zwei Bohrhaken und manchmal an Sanduhren oder Baumschlingen zu beziehen. Anders als bei manch anderen Kandidaten der selben Erschließer kommt man hier oft mit dem vorhandenen Material gut aus. Ein kleines Sortiment Friends oder Keile darf aber trotzdem am Gurt baumeln – die häufig verwendeten Fix-Sanduhren sind nicht für die Ewigkeit gedacht. Es gibt definitiv 2-3 Stellen, an denen dann gemessen an der Dichte an Schlingen in leichteren Seillängen plötzlich nichts mehr kommt und die mobile Absicherung auch nicht immer gut gelingt. Diese trüben den Gesamteindruck einer äußerst lohnenden und angenehmen Route aber kaum.
Zusammenfassung
Eine wirklich überraschend tolle Linie mit abwechslungsreicher und trotzdem homogen schöner Kletterei! Zurecht beliebt – ein früher Einstieg lohnt. Für uns wurde der Tag ein bisschen vom Trubel überschattet. Wir sind eigentlich keine Seilschaft, die drängelt oder eine Wand für sich alleine braucht um Freude zu haben – heute war es trotzdem von allem ein bisschen zu viel. Neben den vielen kleinen und großen Lehren des Beinahe-Unfalls bleiben aber auch viele Fragen offen. Etwa die, was passiert wäre, wenn wir uns früher zurückgezogen hätten und die Italienerin alleine in den Stand fixiert geblieben wäre. Und wie viele Erste-Hilfe und Rettungsmaßnahmen genug sind, um sich auch in Zukunft mit einem guten gewissen im Fels zu bewegen. Wahrscheinlich lernt man einfach nie aus.
Thema Sicherung: Es mag sein, daß die Sicherung durch Geräte, vor allem für Anfänger, einfacher ist, aber es gibt nichts, wirklich nichts, daß gegen HMS im Vorstieg spricht.
Uiuiui, ein Glück, dass da nicht mehr passiert ist! Ich traue mich mal, aus der Ferne zu sagen, dass Ihr – zumindest Deiner Schilderung nach – alles richtig gemacht habt. Ihr habt im kritischen Moment geholfen und ihr habt weitere Hilfe angeboten. Wenn die andere Seilschaft diese dann nicht annehmen möchte, ist das deren Entscheidung. Wobei ich es tatsächlich beachtlich finde, dass die beiden mental in der Lage waren, nach einem solchen Sturz in ihrer ersten richtigen Klettertour bis zum Ende weiterzusteigen.
Zum Thema Standplatz- / Körpersicherung: Sobald die Absicherung nicht mehr sportklettermäßig ist, bevorzuge ich klar Standplatzsicherung. Die Situation, in der sich die sichernde Dame befunden hat, ist für mich ein absoluter Alptraum. Sich eigenständig daraus zu befreien ist auch mit mehr Erfahrung nicht einfach. Wenn es richtig alpin wird, setze ich sogar ganz old school auf HMS. Weil es dann egal ist, ob die nächsten Meter hoch, querend oder auch runter gehen. Ich bin jetzt nicht der erfahrenste Alpinkletterer unter der Sonne, habe aber noch kein schlagendes Gegenargument gehört. Und das, obwohl ich mich durchaus schon mit Seilpartnern darüber gestritten habe. 😉
Euch noch viele unfallfreie Touren!
Hi Hannes,
merci für deinen Kommentar & schön von dir zu hören!
Ob die beiden in der „Lage“ waren, haben sie befürchte ich nicht wirklich selbst entschieden. Die Seilschaft war ja Anhang an der Dreierseilschaft mit Bergführer. Nach dem Sturz wurde durchgetauscht, sodass die etwas ramponierteren Gäste nur noch im Nachstieg unterwegs sind. Im Angesicht von Quergängen und teils weiteren Abständen aber auch kein Allheilmittel.
Ich habe vor ca. 1 1/2 Jahren auch angefangen grundsätzlich nur noch HMS für den Vorstieg vom Standplatz weg zu nehmen – hat sich in der Praxis dann doch ziemlich vom Gefrickel mit dem Tuber und dem Risiko eines Sturzes vor dem ersten Umlenker abgehoben. Nachstieg bis auf sehr leichtes oder absteigendes Gelände immer mit Gerät. Die Male Körpersicherung kann ich an einer Hand abzählen. Üblicherweise bei zachen Seillängen von breiten Bändern weg, wo sehr schnelles ausgeben und einholen planbar Prio hat. Mir ist aber neulich auch ein Artikel in der (ich glaube) Bergundsteigen untergekommen, wo diskutiert wurde ob die Standplatzsicherung nicht auch inzwischen überholt sei 😀 vielleicht muss ich da nochmal reingucken
Das wünsche ich dir auch! LG aus Garmisch,
Jan