Keine Tour 2023 stand unter so schlechten Vorzeichen wie die Nordkante an der Roggalspitze. Und dafür kann der Berg überhaupt nichts. In einer ganz und gar selbstkonstruierten Odyssee und Verkettung dummer Zufälle landen Ben und ich dann aber doch noch auf dem markanten Gipfel, der von Garmisch aus gesehen beinahe das Ende der Welt markiert.
Das Lechquellengebirge ist nun auch nicht wirklich um die Ecke aber in die Bilder und Optik der Roggalspitze Nordkante hatte ich mich schon vor einiger Zeit verliebt. Sie ist Teil der Tourenliste in Walter Pause’s “Im schweren Fels” – der wesentlich genüsslicheren Variante des Kultführers “Im extremen Fels” und reiht sich damit nahtlos in einen Typus von Klettertour ein, den ich sehr zu schätzen gelernt habe. Denn die meisten Ziele, die ich aus diesem Pool bisher kennenlernen durfte, vereinen moderate Schwierigkeiten mit äußerst schönen und spektakulären Linien in teils wilder Umgebung. Vom Gesamtanspruch her aktuell genau passend, da dünne Absicherung oder spannendere Navigation häufig doch für ein Abenteuer gut ist und ich in diesen Routen bisher viel mehr erleben durfte als in den “schwereren” Bohrhakenleitern.
So schön die Route auch ist – die weite Anfahrt schreckt ab. Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass man sich ab und zu auch mal eine neue Perspektive gönnen darf. Und da mir für einen ganzen Urlaub in der Ecke die Ziele fehlen und das Lechquellengebirge bisher noch nie auf irgendeinem Weg lag, habe ich mich damit abgefunden, dass es mal ein etwas längerer und aufwendigerer Tagesausflug werden wird. Sofern man diese Kante denn klettern mag. Was definitiv der Fall ist.
Die Idee mit der wir in diesen Tag gestartet sind war bereits impulsiverer Natur, denn eigentlich hatten Ben und ich uns bereits für die Nordkante der Roggalspitze entschieden als sich am Vorabend spontan unsere Mitbewohnerin Ronja in den Plan einhängt. Ronja war mit uns bisher einmal im Klettergarten und hatte sich dort im IV. und V. Grad durchaus ganz gut angestellt. So war die Idee einer Dreierseilschaft geboren – wohlwissend, dass das bestimmt nicht die ideale Route für derartige Experimente ist. Hinzu kommt – wie so oft – dass ich egal wie sehr ich mich bemühe keinen frühen Start durchgesetzt bekomme. Ich mein…wer um 8:00 morgens aufbricht hat grundsätzlich die Kontrolle über sein Leben verloren. Es ist Oktober und die Tage sind schon wieder mächtig kurz. Aber die kollektive Gemütlich überwiegt meinen Drang um 3:00 Nachts aufzubrechen und so einigen wir uns zu meiner Entzückung auf 8:00 und den eben angeprangerten Kontrollverlust. Zumindest werden wir so ganz bestimmt nicht vor Mittag einsteigen und haben eine einwandfreie Chance mitten in der Wand von der Dunkelheit überrascht zu werden. Wobei die Dunkelheit ja oft nicht wirklich überraschend ist.
Eigentlich raucht mein Optimismus schon ab, als um Punkt 8:00 Semmeln im Ofen landen und wir erst ein gutes Stück später loskommen. Ich denke über eine zweite Stirnlampe nach. Die Anfahrt beginnt heiter mit wilden Genreverirrungen, die Stimmung kippt bei den ersten kurvigeren Strecken. Sowohl Ben als auch Ronja ist schlecht. Ich muss kurz rechts ranfahren. Die beiden stapfen gleichermaßen verstrahlt und würgend ums Auto und probieren sich an allen möglichen Übelkeits-Bewältigungsstrategien. Am Ende ist mein Auto Schuld – denn es sei so gebaut, dass es Übelkeit begünstigt. Das ist ein Argument. Ich habe inzwischen schon zur Hälfte mit meiner Roggalspitze abgeschlossen und auch ein Blick aufs Navi stimmt nervös. Die eigentlichen Kurven kommen erst noch.
Irgendwann geht es weiter und nur durch einen weiteren Zufall erreichen wir den traumhaften und immerhin auf einer Höhe von 1827 Metern gelegenen Spullersee. Die “Mautstraße” in das Tal kostet nämlich zarte 20 Euro.
Ich kippe meinen Geldbeutel um und bekomme irgendwie €19,50 zusammengekratzt. Was ohnehin schon ein grober Zufall ist. Kein normaler Mensch, hat so viel Münzgeld dabei. Im Hintergrund schnaufen meine beiden Mitfahrer aufgrund der erneut (eigentlich gar nicht so) kurvenreichen Straße, während ich versuche den Kassenautomaten zu bändigen und mir überlege, wo ich jetzt noch eine Münze übersehen haben könnte. Ich muss nicht erwähnen, dass ich als einziger etwas Geld dabei habe. Ein vorbeikommender Fahrradfahrer, der dieses Trauerspiel beobachtet hat rettet uns dann mit einer Spende von 50 Cent den Tag. Es geht weiter. Und jetzt ist die Straße wirklich schmal und kurvig. Mit letzter Kraft erreichen wir den Parkplatz am See, der nach den unten aufgewendeten Mautgebühren netterweise kostenlos ist.
Ich will es gar nicht beschönigen. Ich bin etwas gereizt. Klar für die Übelkeit kann erstmal keiner was aber es ärgert mich schon, dass unser Höllenritt hierher vermutlich umsonst war, wir ohnehin zu spät aufgebrochen sind, ich nur durch Zufall die Mautgebühren zusammengekratzt bekommen habe und nun mit zwei käsebleichen Mitbewohnern am gefühlten Arsch der Alpen stehe.
Wir brechen zaghaft in Richtung Ravensburger Hütte auf. Ben und ich sind rege am diskutieren und abwägen. Für mich ist die Roggalspitze gestorben. Selbst wenn sich Ben halbwegs gut fühlt – Ronja schaut weiterhin nicht gut aus und ist bisher noch keine Mehrseillänge geklettert. Bei besten Bedingungen und mit reichlich Zeit ließe sich das alles bestimmt mal machen aber wir sind spät dran und auch der Abstieg von der Roggalspitze soll kein wirklicher Selbstläufer sein. Wir überlegen noch kurz, ob wir stattdessen auf den eventuell etwas einfacheren und schneller erreichbaren Ostgrat der Plattnitzer Jochspitze umschwenken – verwerfen dies aber aus Mangel von überzeugenden Argumenten rasch. Dann einfach nur Wandern heute. Als wir einen Kilometer und rund 100 Höhenmeter vom Parkplatz weg sind, lässt Ronja die Bombe platzen.
Passt. Umdrehen. Mir ist eh schon alles egal. Doch jetzt hat Ben irgendwie wieder Feuer gefangen und wirft die Idee in den Raum, dass wir uns trennen und Ben und ich die Roggalspitze in Angriff nehmen, während Ronja sich einen entspannten Tag am See macht. Ich tu mir schwer damit – wir sind zu dritt als WG-Ausflug angereist und sollten auch zu dritt was unternehmen. Ronja scheint mit der Idee aber auch nicht allzu unglücklich zu sein und so übergeben wir ihr den Autoschlüssel und vereinbaren uns per Handy auf dem Laufenden zu halten.
BIDDEWAAHS? Fairerweise – Ronja ist neu nach Garmisch gezogen und hat mit Bergen nun wirklich wenig am Hut. Eigentlich ist es ja auch schön, wenn jemand für einen Tag in der Natur nicht direkt sein Handy mitschleppen muss. In der Situation – so stellen Ben und ich später fest – haben wir auch einfach viel zu wenig kommuniziert und Packlisten abgestimmt. Wir nehmen uns vor, das beim nächsten Mal besser zu machen. Und dann aber hoffentlich auch eine kleinere Tour anzugehen. Denn die Roggalspitze, die sich inzwischen unwirklich im Talschluss auftürmt sieht groß aus und wir werden uns nun ziemlich beeilen müssen um hier noch eine Begehung bei Tageslicht abzuliefern. Ronja bekommt dann übrigens Ben’s Handy und unsere Wege trennen sich. Während sie unten die schöne Landschaft bei tollem Herbstwetter erkundet werden wir gleich ordentlich frieren und von eiskalten Windböen durchgeschüttelt werden. Die geplante Begehung zu dritt – so müssen wir am Ende des Tages auch feststellen – wäre ein ziemliches Fiasko geworden und hätte vermutlich niemandem Spaß gemacht.
Zustieg
Die Ravensburger Hütte ist schnell und einfach erreicht. Die Landschaft hier oben ist wunderschön – weite, wellige Wiesenhänge und ein paar schroffe und markante Kalkgestalten wechseln sich ab. Nicht umsonst wird das Lechquellengebirge als eine der schönsten Regionen der nördlichen Kalkalpen gehandelt und wir dürfen es heute in herbstlicher aber sonniger Einsamkeit erleben. Durch den “hohen” Start am Spullersee hält sich der Zustieg zur Route in Grenzen und wir kommen schnell voran. Auch das Gelände ist stets leicht und die Kante und ihr Einstieg schon aus der Ferne gut zu erkennen.
Kurz vor der Brazer Staffel, einer kleinen Almhütte, biegen wir nach rechts auf eine ansteigende Forststraße ab, welche wenig später in einen Pfad übergeht, der in ziemlich direkter Linie unter die Nordkante der Roggalspitze leitet. Hier klemmt ein kleines Schotterfeld, die “Schneegrube”, zwischen den schroffen und abweisenden Gipfeln. Auf etwas über 2300 Metern biegen wir nach rechts in das recht feste und grobe Geröll ab und erreichen – viel einfacher und entspannter als gedacht – die Rinne links neben der Nordkante.
Die Nordkante ist übrigens nicht die bizarre und plattige Kante, die mit drei senkrechten und stellenweise je nach Perspektive überhängenden Stufen schon von weither mächtig Eindruck schindet. Das ist der Nordostpfeiler, den es erst im unteren 7. Grad gibt. Da geht es bei uns doch etwas gemütlicher zur Sache und unsere Kante ist im unteren Teil eher noch eine weite aber steile Rampe, die sich dann nach oben hin markant zusammenzieht.
Wir entdecken vor uns eine Dreierseilschaft, die gerade den ersten Standplatz mitten in der Rampe erreicht hat. Hätte ich mir nur ihre genaue Position besser eingeprägt. Doch wir sind zu beschäftigt mit dem Geröll und landen wenig später in der tiefen und kühlen Schlucht zwischen Nordostpfeiler auf der linken Seite und Nordkante auf der rechten Seite. Dort gewinnen wir über einige große, geschliffene Blöcke im II. Grad noch einige Meter und finden rechterhand ein schönes, kleines Plateau am Fuße der Wand um die Gurte anzulegen.
1. Seillänge (IV-)
Ich steige – jetzt schon mit kalten Fingern – in den steilen und nicht immer festen Fels der ersten Seillänge ein. Der obligatorische Kaltstart ist heute sprichwörtlich kalt. Ich finde einen Haken und einen fixen Friend aber die Absicherung bleibt eher dünn. Wirklich viele Stellen für Klemmgeräte fallen mir nicht auf, Sanduhren gibt es auch nicht so richtig. Als ich – durchaus langsam und konzentriert, da hier viele große Blöcke auf ihre Talfahrt warten – schon etwas Strecke gemacht habe taucht in einer glatten Platte links oben ein Schlaghaken (in meiner Erinnerung mit kleinem Ring) auf. Dieser, nicht so richtig intuitiv in meiner Linie liegend, lenkt mich ab und bringt mich von der Route ab. Selbst mit extralanger Alpinexe gibt es ab diesem Punkt nur noch Reibung und die immer kompakteren und unübersichtlichen Platten darüber klettern sich zunehmend schwieriger.
50 Meter in die Wand muss ich einsehen, dass ich mich verstiegen habe. Vom gebohrten Standplatz keine Spur. Mich zieht es mehr nach links. Ben meint der Stand wäre weiter rechts. Ich hänge mit kalten Fingern in den mal losen und mal völlig griffarmen Schrofen und habe nicht gerade die allerbeste Zeit.
Mühsam klettere ich einige Meter ab zu einem großen, tiefen Riss an den ich mich erinnere. Hier baue ich notgedrungen einen Standplatz mit 3 Friends und hole Ben nach. Da der Riss diesmal ziemlich genial ist, fühle ich mich zum ersten Mal an einem mobilen Standplatz wohl und überwinde das kleine Trauma aus einer recht ähnlichen Situation an der Zwölferkante. Im Nachstieg findet Ben den gebohrten Stand rund 10 Meter unter und leicht rechts von mir. Er hatte also Recht. Damit lässt sich zusammenfassen – nicht links vom Schlaghaken ablenken lassen sondern der leichtesten Linie ganz leicht nach rechts folgen. Die zweite Seillänge – das hilft dann vielleicht auch bei der Orientierung – führt dann durch eine vage, gestufte, in der Wand aber durchaus wahrnehmbare Verschneidung empor auf die erste Schulter.
2. Seillänge (III)
Ben steigt weiter und quer nach rechts einige Meter in die besagte Linie, welche in Kantennähe auf die erste Schulter leitet. Da meine Seillänge etwas länger ausgefallen ist wird seine etwas kürzer und ziemlich schnell ist der nächste Standplatz gefunden. Durchaus hübsch – sogar mit großem Ring zum abseilen. Das Gelände ist hier leichter, gestufter und fester und wir haben das Gefühl, dass wir nach den kleinen Startschwierigkeiten nun in die Tour gefunden haben.
Wir haben allerdings auch das Gefühl, dass Bergfex mal wieder gelogen hat. Gut – es ist fast schon verbreiteter Konsens, dass man sich nur mit akutem Sterbewunsch auf diesen Wetterbericht verlässt. Auf jeden Fall ist es in den letzten Minuten schlagartig zugezogen und oben an der Kante hören wir den eisigen Wind rauschen. Und irgendwie war doch den ganzen Tag Sonne vorhergesagt?
3. Seillänge (Zwischenstand, III)
Ich steige wieder vor und flitze nun durch das leichte, geneigte und inzwischen angenehme Gelände. Es gibt viele Wege, die Rampe auf der wir uns befinden wird aber dennoch immer schmaler und damit auch übersichtlicher und aufgeräumter. Die Absicherung ist dünn bis nicht vorhanden – zumindest verteile ich auf dem Weg nur einen kleinen Klemmkeil und einen Friend. Ich finde, nachdem ich schon einige Strecke gemacht habe einen Ringhaken, den ich mit einem #2 Totem zu einem Standplatz verbinde. Vor mir steilt das Gelände nochmal kurz auf und korrekterweise hätte ich hier wahrscheinlich noch 15 Meter weiter gemusst um den kleinen, horizontalen Absatz der 2. Schulter zu erreichen. Sonst wären nämlich alle Topos falsch. Dann lieber den Fehler bei sich selbst suchen.
Auf der anderen Seite habe ich hier auch einen einwandfreien Standplatz und Sichtkontakt zu Ben, der zu Zeiten immer lauter werdender Böen einiges Wert ist. Die meisten Rufe werden bereits geschluckt und die Zeit unsere Taten regelmäßig mit der Topo abzugleichen nehmen wir uns unter den Bedingungen auch nicht.
4. Seillänge (III)
Ben führt den kurzen Aufschwung auf die 2. Schulter an. Hier darf einmal echt hübsch geklettert werden – eine kleine, steile Mauer mit einem schiefen Riss macht es einem für einen kurzen Moment gar nicht so einfach und hätte in einer weniger klassischen Linie bestimmt auch den IV. Grad verdient. Ich steige nach, freue mich über die vergleichsweise anregende Kletterei und stehe wenig später bei Ben auf der schmalen 2. Schulter. Anders als zuvor ist nun absolut klar, was mit “Kante” gemeint war. Denn hier zieht sich die Nordkante plötzlich zusammen und nach Westen stürzt eine steile, makellose und plattige Wand ab. Vor uns zieht die scharfe und steile Linie empor und mit dem Wind nimmt auch die Begeisterung für diese wilde Felsgestalt zu.
5. Seillänge (IV-)
Da wir unseren (meinen) Zwischenstand aus der 3. Seillänge zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz durchschaut hatten, vermuteten wir hier bereits in der 6. Seillänge und damit vor der speckigen Schlüsselstelle zu stehen. Diese soll ein kleiner, schwieriger Überhang (IV+) in der Kante sein und schon reichliche Begehungsspuren aufweisen. Das kommt gut hin, denn auch vor uns liegt ein sperrender Aufschwung, der mit einem Bohrhaken entschärft ist und schon in der Draufsicht spiegelglatt erscheint.
In Wirklichkeit sind wir noch eine Seillänge tiefer – also laut Topo in der 4. Seillänge und einer eher unscheinbaren IV- Ecke, die sich für mich aber als Schlüsselstelle herausstellt. Es geht relativ ausgesetzt und gerade für die Füße rutschig an gar nicht so griffigen, schrägen Rissen entlang. An irgendeinem Punkt muss man hier unbequem aufstehen und sich dann über die Kante schieben. Für Ersteres benötige ich im Eifer des Gefechts einen Griff in die Exe, welchen ich einem Sturz in Ben und den Standplatz vorziehe. Eventuell habe ich etwas übersehen – aber auch Ben empfand die Stelle mit Abstand am schwierigsten.
Ist die Kante erstmal erreicht geht es luftig und kühn an wundervollen und nun auch wieder relativ rauen Wasserrillen empor. Ich legen noch einen lila Totem und finde dann einen Bohrhaken einen Meter rechts vom früher erkennbaren Schlaghaken. War die Begeisterung im speckigen Aufschwung und ruinierten Rotpunkt kurz betrübt, so hebt sie sich hier wieder enorm. Wäre es nicht so gruselig windig, kalt und wild hier oben, könnte man beinahe von Genusskletterei sprechen. Die Platten und Kanten begeistern, manche Griffe sind unwirklich dünn und fest. Es lässt sich ziemlich schön und kontrolliert klettern wobei der Tiefblick über die strukturlose Westwand beeindruckt und allgegenwärtig ist.
Einen kleinen, steilen Wulst unter dem Standplatz umgehe ich einen Meter weiter rechts und lande dann am nächsten Standplatz an der Kante. Der Blick nach oben offenbart unseren Denkfehler – denn hier ist der eigentliche Überhang, der die Schlüsselstelle darstellen soll, deutlich zu erkennen.
6. Seillänge (IV+)
Ben steigt in die kurze Platte unter dem Überhang und erreicht diesen schnell. Ich höre ein “Wow” von oben. Der Tiefblick nach Osten auf die linke Seite der Kante muss wohl noch wesentlich eindrücklicher sein. Der Überhang ist schnell überwunden und die Entwarnung folgt prompt:
Ich folge und muss Ben wie so oft Recht geben. Der kleine Überhang ist unfassbar ausgesetzt und beinahe unwirklich abdrängend – links rauscht eine gefühlt überschlagende Wand in den Schluchtgrund hinab und die Kante an der man klettert ist hier nur einen halben Meter breit. Vergleiche mit der Delagokante sind für einen kurzen Moment durchaus zulässig. Allerdings ist die Stelle wirklich nicht schwer und überraschend henklig. Klar – auch hier bemerkt man die vielen Begehungen der Tour – aber zwischen den großen Tritten und Griffen kommt mir das viel weniger kritisch vor als in dem seltsamen Aufschwung zuvor. Ein paar wenige Züge später steht man schon im leichteren Gelände, welches zum Standplatz unmittelbar unter dem kurzen, horizontalen Felsgrat der 3. Schulter führt.
7. Seillänge (I)
Der kurze horizontale und schmale Gratabschnitt ist bestimmt die Fotobox der Nordkante. Ganz eine tolle Stelle – die keine wirklich lohnende Seillänge abgibt aber nach meinem Gefühl auch weder an die vorherige noch an die kommende Seillänge angehängt werden kann.
Zwischensicherungen gibt es keine und so balanciert man doch einigermaßen achtsam über den einfachen aber brutal exponierten Gratabschnitt. Inzwischen hat man ordentlich Höhe an der Kante gewonnen – das merkt man in alle Richtungen. Der Blick ist inzwischen in fast jede Richtung brachial schön. Im Hintergrund fasziniert die kleine Wildgrubenspitze mit ihren wechselnden Gesteinstypen und einem unwirklich kontrastreichen Kalkpanzer, der aus dem sonst schottrig-grasig anmutenden Berg herausragt. Rechts hat man inzwischen einen freien Blick auf den Talkessel, zurück zum Spullersee, zur Ravensburger Hütte, auf den kleinen Alpsee und auf gar nicht so ferne Regenschwaden.
Immerhin löst sich an diesem markanten Wegpunkt endgültig die Verwirrung, die aus meinem Zwischenstand in der 3. Seillänge entstanden ist und wir wissen, dass uns jetzt noch drei lange Seillängen vom Gipfel und Gerüchten zufolge heiklen Abstieg trennen.
8. Seillänge (IV)
Nach meinem chilligen Quergang – dessen Sicherung maximal homöopathischer Natur ist – steigt Ben in eine weitere, großzügige Plattenlänge rechts der Kante ein. Zunächst vermittelt ein gutgriffiger Riss den Zugang zu dem ersten Klebehaken. Dann ist eine kurze, trittarme Plattencrux zu überwinden, die Ben mit einem souveränen “kann sein, dass ich da gleich fliege” kommentiert. So weit kommt es nicht – dennoch ist das Zuschauen für einen kurzen Moment fast so spannend wie das Klettern. Im Nachstieg tue ich mir mit deutlich größerer Reichweite dann relativ leicht, die Stelle zu überwinden. Man muss trotzdem mal kurz richtig sauber Platte treten und ist dabei im Vergleich zum Rest der Tour äußerst gut abgesichert. Danach geht es wie gehabt kantig, plattig und luftig im festen Idealkalk empor zu einem Standplatz genau auf der scharfen Kante.
Ich schließe zu Ben auf. An dem Punkt sind wir relativ still und beißen uns Länge für Länge durch. Zwar sind wir mit ausreichend Ausrüstung unterwegs – auch Handschuhe und weitere Jacken wären an Bord. So richtig angenehm wird die Begehung aber nicht mehr und wir haben beim Blick gen Weste doch recht konkrete Bedenken, doch noch vom Regen überrascht zu werden. Anders als die Dunkelheit wäre dieser wenigstens wirklich überraschend. Immerhin hat Bergfex 130 Stunden Sonne vorausgesagt.
Auf der anderen Seite haben wir enorm viel Spaß, weshalb ich hier auch nur sehr wenig auf die widrigen Umstände eingehe. Der Wetterumschwung sorgt für absolut eindrückliche und mystische Landschaften und die Erinnerungen an diese Tour haben sich bei mir viel mehr eingebrannt als jede Schönwetterkletterei der Vergangenheit.
Und obwohl die Dreierseilschaft vor uns auch noch nicht so weit weg sein kann fühlen wir uns ziemlich alleine. Alleine an der Nordkante, alleine an der Roggalspitze. Vielleicht sogar alleine im Lechquellengebirge.
9. Seillänge (III+)
Eine Seillänge aus der Kategorie “Was hat der Topomaler denn hier geraucht”. Zumindest geht das Gebotene mit Abstand als schärfste III+ meines Lebens in die Geschichte ein. Ich habe das Gefühl langsam die kritische Masse erreicht zu haben, an der die Stellen, die das noch übertreffen würden, immer seltener auftauchen. Klar sind Bewertungen immer subjektiv und vom Geländetyp und den eigenen Präferenzen abhängig. Aber für die Klassiker – so ruft mir auch Ben im Nachstieg zu – ist es doch hilfreich alle Erwartungen über Bord zu werfen und einen ordentlichen Puffer mitzubringen. Man stelle sich vor, dass der Taubenstein Südgrat oder die Linke Achsel am Kofel theoretisch zum selben Preis zu haben sind. Völlig abwegig.
Denn während ich mich bei den beiden bayrischen Kollegen durchaus ab und an frage, warum ich jetzt eigentlich genau ein Seil mitgebracht habe und bei Ersterem auch bei miesesten Verhältnissen solo unterwegs war freue ich mich hier über jeden Friend, den ich irgendwie in die kompakten Platten geknotet bekomme.
Vom Stand geht es – wenig intuitiv und super luftig einen Meter nach rechts in die glatte Plattenwand. Dort führt eine mal griffige und mal durchaus spannende Rissspur zu einem kleinen Absatz, an dem wieder auf ein kleines Podest auf der Kante gequert werden kann. Hier finde ich einen Haken und einen Moment der Entspannung, denn an sonst sehr weitläufiger und nicht immer optimaler Absicherung mit Klemmgeräten klettert sich die exponierte Passage dann doch eher fordernd. An einigen Ecken muss man sich durchaus kühn zwischen den seichten Wasserrillen einklemmen oder auf Reibung an der plattigen und an wenigen Stellen auch etwas polierten Wand aufwärts steigen.
Dann geht es wieder zurück in die luftige Wand und einen zweiten, sehr ähnlichen und ebenfalls mental fordernden Abschnitt nach oben. Die Seillänge ist leichter als die Schlüsselmomente unten – im Gesamtanspruch aus Länge, Absicherung und Tiefblick aber doch ein ziemliches Brett. Die windumtoste Westwand und die immer wieder kurz einsetzenden Tropfen auf dem weißen Kalk verschärfen diesen Eindruck. Am Ende habe ich diverse Cams & Totems zwischen #0.3 und #3 untergebracht – 4-5 werden es schon gewesen sein – und bin wie auch schon an der Zwölferkante froh, bei der Schlosserei nicht an Gewicht gespart zu haben.
Ben braucht eine Weile und arbeitet sich fotogen durch die irre Platte. Wir stehen am Fuße der letzten Seillänge und hoffen, dass es nun keine großartigen Überraschungen mehr gibt. Sowohl Zeit als auch Herbst-Kuschelwetter sind fortschreitend und wir haben uns an den kalten Platten ganz ordentlich ausgetobt.
10. Seillänge (IV-)
Laut Topo geht es ganz unmissverständlich in eine Verschneidung. Diese ist ebenfalls direkt über dem Standplatz ganz unmissverständlich zu erkennen. Stören tut mich nur, dass von den zwei Haken, die hier eingezeichnet sind jede Spur fehlt.
Rechts führt ein gangbares Band an der Westwand entlang – an seinem Ende erspähe ich einen Bohrhaken und darüber auch eine “Verschneidung”. Vielleicht da drüben?
Ich hatte einfach nur zu viel Zeit mich umzusehen und meiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Die Haken rechts gehören zu einer der Westwandrouten – schätzungsweise der Ravensburger Westwand. Wenn man dem Gefühl folgt, dann sieht die Verschneidung schon am sinnvollsten aus und als Ben dort ein wenig Höhe gemacht hat taucht rechts auch schon der versprochene Haken auf. Vom Stand ist er nicht zu erkennen.
Im Panico hat diese Verschneidung sogar eine IV+ bekommen. Keine Ahnung was da los war. Die Roggalkante hat bestimmt ihre spannenden Momente – in der letzten Seillänge befinden sich in meinen Augen aber keine mehr davon. Zwar erfordert der Übergang nach rechts aus der Verschneidung heraus nochmal kurze, konzentrierte Züge – er ist aber auch gleichermaßen griffig wie rau und gut zu lösen. Die Bewertung wäre woanders wahrscheinlich passend – im Plattenmeer der bisherigen Längen hebt er sich aber wenig hervor und könnte im Kontext dieser Route auch eine III. bekommen.
Was auch nicht hinkommt ist die Länge – wir haben mit Infos von Bergsteigen.com nach 20 Metern einen Stand gesucht und es dann schnell aufgegeben. Hier ist die Angabe aus dem Panico die richtigere: 45 Meter.
Nach der Verschneidung geht es eine etwas brüchige Rampe nach rechts über die Westwand (Vorsicht – keinen Steinschlag auslösen) und dann nochmal durch eine kurze, zweite und etwas rustikalere Verschneidung / Nische hinauf zu einem gebohrten Standplatz. Ben holt mich nach, ich komme schnell durch die eher gutmütige Seillänge und stelle dann erfreut fest, dass das Gelände zum Gipfel einfach und kurz ist.
Gipfelanstieg (I)
Wir folgen kurz dem vagen Nordgrat zum bereits sichtbaren Gipfelkreuz. Die Exposition lässt hier ziemlich schlagartig nach, die Felsqualität allerdings auch. Dem regen Abwärtstrieb des sandigen Untergrunds widerstrebend strampeln wir die letzten Metern zum Gipfelplateu. Viel Zeit nehmen wir uns dort nicht – der Himmel hinter der bleiernen Wolkendecke färbt sich bereits orange, Ronja hat sich im Tal schon auf den Weg in Richtung Parkplatz gemacht und wir haben noch einen scheinbar nicht ganz einfachen, alpinen Abstieg über den Normalweg vor uns.
Trotzdem sind wir begeistert – von dem wilden Ritt auf der genialen aber auch respekteinflößenden Kante. Von der andersartigen, schroffen Landschaft. Und von der Tatsache, dass es überall ringsum schüttet und wir um wenige Kilometer Luftlinie und bis auf wenige Tropfen verschont geblieben sind.
Abstieg (I-II)
Zäh ist er schon – vor allem im mittleren Teil. Aber ich habe es mir schlimmer vorgestellt. Und länger. Passend zur generell professionellen High-End-Begehung zerreißt es mir ziemlich direkt am Gipfel die Schnürrsenkel meiner Zustiegsschuhe. Fairerweise – die waren schon ziemlich durch und haben mit dem Jubiläumsgrat ein paar Tage zuvor einen passablen Gnadenstoß erhalten. Anders als heute hatte ich am Jubiläumsgrat aber ein Paar Backupschuhe für genau solche Abenteuer dabei. Heute verwandelt sich der linke Schuh also in eine stabile Alpinpantoffel und würzt den Abstieg noch ein wenig nach.
Die ersten Abschnitte sind steiles Absteigen und Abklettern über meist feste Kalkstufen. Erst einige Höhenmeter tiefer führt der Weg an einem nicht wirklich vertrauenswürdigen Stahlseil in eine feuchte, sandige und steile Rinne, die mit Mergel gefüllt ist. Mergel – so musste ich lernen – ist jener sandig-lehmiger Schutt, der speziell in dieser Region den starken Kontrast zu den helleren Kalkplatten bildet. Ganz was feines hat sich der Tourismusverein Lechquellengebirge dort auf jeden Fall ausgedacht. Das Zeug ist die perfekte Mischung aus steil und haltlos und kann nicht sinnvoll abgefahren werden. Die Rinne ist dann einfach wirklich nervig und bei Andrang bestimmt steinschlaggefährdet. Zum Glück ist sie dabei aber auch nicht allzu lang und nirgends exponiert. Und so ist es nur ein etwas mühsamer Hatscher, bis eine weitere schrottige Seilversicherung an einer Engstelle nach rechts in steileres aber festeres Gelände führt.
Als wir ums Eck in die sehr steilen Schrofenflanke kommen gibt es gleich mehrere freudige Entdeckungen zu machen. Zum einen wäre da die Sonne, die auf den letzten Metern dieses grauen Tages drauf und dann ist unter der Wolkendecke hervorzubrechen und uns noch einen unverhofften Sonnenuntergang zu beschweren. Zum anderen die Tatsache, dass uns nur noch wenige, sehr steile aber teils versicherte Kraxelmeter vom Gehgelände trennen.
Natürlich kommt es so. Die Berge enttäuschen nie.
Den Tag als facettenreich zu bezeichnen ist wohl eine grobe Untertreibung. Es ist wirklich viel passiert, als wir heute morgen viel zu später aber dafür mit Semmeln bewaffnet aus Garmisch losgefahren sind. Und an so einen Moment und Abschluss habe ich an keinem Punkt geglaubt.
Wir frohlocken durch die verlassene und epische Bergwelt und erreichen das einfache Schotterfeld, dass uns in die gemütlichen Wiesenpfade bringt. Auf direkter Spur geht es der Dämmerung entgegen. So viele Kleinigkeiten haben dazu geführt, dass wir doch noch hier gelandet sind. Wahrscheinlich hätten wir irgendwo umdrehen müssen. Wir hätten nie herausgefunden, was wir verpasst haben.
Bei einbrechender Dunkelheit erreichen wir auf den leichten Wanderwegen das Auto, wo Ronja auf uns wartet und von ihrem schönen Wandertag erzählt. Ben’s Handy ist nun um ein paar Bilder voller geworden. Und auch die Rückfahrt nach Garmisch ist weniger katastrophenreich als die Hinfahrt.
Kann man so machen.
Muss man aber auch nicht.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Ganz bestimmt haben die etwas raueren Bedingungen die Kante für uns einen Hauch bösartiger erscheinen lassen, als sie bei Idealbedingungen ist. Dennoch handelt es sich in meinen Augen mal wieder um eine der ganz spektakulären, klassisch-rustikalen Linien, die trotz “leichter” Kletterei einen ganz ordentlichen Gesamtanspruch entwickeln. Die Route steht der ebenfalls durchaus abenteuerlichen und häufig unterschätzten Zwölferkante in nichts nach. Die Kletterei sollte keinesfalls als entspannte Einsteigertour verstanden werden, die Absicherung ist über lange Strecken dünn und in meinen Augen beinahe zwingend mobil zu ergänzen. Eine vielleicht relativ bekannte Luftige Kante (V-) im Dammkar klettert sich um ein Vielfaches einfacher und spielt in einer komplett anderen Liga.
Die mir vorliegenden Topos sind ein wenig eigenartig und ich würde hier viel mehr als bei anderen Touren ein wenig mit den Schwierigkeitsgraden spielen. So empfand ich den kurzen Aufschwung an der 2. Schulter eher als V- anstelle von VI-, die wirkliche Schlüsselstelle kletterte sich eher leichter, ist mit IV+ aber wahrscheinlich relativ authentisch bewertet. Die vorletzte, lange III+ Länge müsste in meinen Augen wieder ein gutes Stück schwerer ausfallen, die auf dem Papier schwerer bewertete Verschneidung oben raus klettert sich nach meinem Empfinden dann wieder viel leichter.
In Sachen Material waren wir mit 60m Halbseilen unterwegs und hatten einen ganzen Haufen Cams zwischen #0.3 und #3 dabei. Am intensivsten fiel dabei die vorletzte Länge aus, die mit 45 Metern luftigster III+ mindestens 4-5 Klemmgeräte unterschiedlicher Größen geschluckt hat. Ansonsten sind Stände gut gebohrt, Zwischenhaken an neuralgischen Punkten geklebt. Dazwischen findet man einige Schlaghaken unterschiedlicher Qualität. In Summe lässt sich die Tour gut absichern – bleibt aber stellenweise kühn und wer keine Klemmgeräte dabei hat, kann stellenweise auch gleich seilfrei gehen. Wissenswert ist vielleicht noch, dass ein Rückzug aus der Kante an den vorhanden (unverbundenen) Ringhaken wahrscheinlich möglich wäre – ich hatte diese Option im Geiste ausgeschlossen.
Fazit
Wild, dass das noch was wurde.
Ein durchaus eigenartiger Bergtag, der bestimmt nicht überall so lief wie gedacht. Dafür haben Ben und ich noch relativ gut funktioniert und abgeliefert. Der Grat zwischen Erfolg und Rückzug, zeitigem Durchkommen und einbrechender Dunkelheit oder Trocken bleiben und Geduscht werden war heute aber spürbar schmal. Schmaler als sonst. Fast so schmal wie die Nordkante an der Roggalspitze. Die wirklich ein ganz atemberaubendes, vertikales und bizarres Stückchen Fels ist. Bei guten Bedingungen ein unwirklich elegante Linie in bis auf ganz unten und ganz oben allerperfektesten Kalkgestein. Für uns ein sich anbahnendes Abenteuer, das wir mit ausreichend Puffer im Klettervermögen, Material und Kleidung gut in Zaum gehalten haben.