Eine kleine Skitourenwoche mit Ben war schon seit Monaten geplant und die Urlaubstagen fest auf die zweite Woche des jungen Jahres 2024 gepinnt. Lustigerweise stellt sich genau in dieser Woche nach kleineren Schneefällen um den Jahreswechsel eine ideale Situation ein. Geringe Lawinengefahr, kristallklares und sonniges Wetter, wenig Wind und klirrend kalte Luft.
Womit wir nicht gerechnet haben ist, dass außer uns keiner Lust hat diese Bedingungen zu nutzen. Vielleicht liegt das aber auch an den allgegenwärtigen und komplexen Gefahren, die man auf dem Weg zur Ruderhofspitze auf sich nehmen muss?
SÖÖÖÖÖS!
Wir haben uns eingebildet uns einige Tage im Winterraum der Franz-Senn-Hütte zu verschanzen und von dort einige Ski(hoch)touren zu gehen. Zugegeben – die Ecke ist eher Ben’s Passion. Ich finde es zwar immer wieder genial, wenn ich dort bin – leide sonst aber oft an einer subtilen Lustlosigkeit, die ich inzwischen Stubai-Ötztal-Syndrom getauft habe. Kurz SÖS. Wie ich zu meinem SÖS gekommen bin, kann ich gar nicht genau sagen. Richtig aufgefallen ist es mir erstmals bei unserer Alpenüberquerung 2022. Die Symptome sind vielfältig, äußern sich bei mir aber vor allem in mangelnder Motivation, die höheren Berge der Stubaier und Ötztaler Alpen auf meinen Zettel zu packen und als erstrebenswerte Gipfel zu sehen.
Vieles scheint mir dort sehr austauschbar – die Tatsache in den tiefen und endlos langen Tälern überhaupt keine richtigen Berge zu sehen trägt dazu bei. Vieles sieht gleich aus und die Unterschiede in den Berggestalten manifestieren sich – wenn überhaupt – in den letzten paar hundert Höhenmetern. Schrankogel, Wildspitze, Similaun, Zuckerhütl…keine Ahnung. Die Anziehungskraft, die diese Gipfel (oft vermutlich wegen ihrer Höhe) auf Viele zu haben scheinen, erreicht mich bisher noch nicht. Irgendwie reizt mich im Nahbereich – etwa dem Karwendelgebirge, der Mieminger Kette oder den Allgäuer Alpen so viel, dass ich im Alleingang wahrscheinlich selten bis nie im SÖS-Einzugsgebiet landen würde.
Zum Glück sind Geschmäcker verschieden und gerade Ben, der genau diese Weite und Wildnis liebt scheucht mich immer wieder in diese Ecken. Und dabei kommen verdammt lässige Touren raus.
Zustieg Franz-Senn-Hütte
Die Franz-Senn-Hütte ist im Sommer mit start an der Oberissalm auf immerhin 1742 Metern schnell erreicht. Sie liegt nämlich nur eine etwas steilere Stufe später im Tal und damit 400 Meter höher als der Ausgangspunkt. Im Winter ist die Straße zur Oberissalm gesperrt und der letzte erreichbare Ort ist Seduck. Der Winterweg fällt damit also ein wenig länger aus. Also 4,5 Kilometer länger.
Wenigstens wird einem auf der Forststraße nicht langweilig. Gefühlt alle 50 Meter weisen Schilder in jeglicher Farbe & Form auf die vielseitigen und folgenschweren Gefahren des Lebens hin. Obwohl das einsame, eingezuckerte und klirrend kalte Tal heute ganz lieblich erscheint wird uns schnell klar – der Schein trügt. Abseits von diversen Strafen und Anzeigen drohen uns hier nämlich auch Springfluten, Weidevieh und boxende Murmeltiere. Wir sind mental fix und fertig bevor wir die erste Steigung oder Schwierigkeit gesehen haben.
Die Rucksäcke sind schwer – immerhin schleppen wir nicht nur die relativ umfangreiche Ski- und Hochtourenausrüstung mit sondern auch einen Schlafsack, Klamotte und Verpflegung für 2 Nächte in einem Winterraum. Wie dieser konkret aussieht konnten wir vorab nicht herausfinden und schleppen daher auch einen Gaskocher mit. Auch der Respekt vor der Kälte – zweistellige Minusgrade sind eigentlich durchgehend garantiert – macht sich nun im Gewicht auf dem Rücken bemerkbar.
Wir kommen gut voran. Die Forststraße ist wie eine Piste präpariert, aber die Almen und Siedlungen die wir passieren gleichen Geisterstädten. Dann stellt sich hinter der Oberissalm die bewaldete Steilstufe zur Franz-Senn-Hütte in den Weg. Die breite Straße geht in eine kleine Spur über, die etwas verwinkelt und teilweise kurz ausgesetzt durch die laut Skitourenguru sehr lawinengefährdete Stufe quert. Bei anderen Bedingungen kommt das bestimmt hin – es ist wirklich steil – wir finden aber eine gute Spur vor und sehen auch keine Anzeichen auf den Gleitschnee, der in tieferen Lagen das Hauptproblem darstellt.
In der Querung kommen uns mehrere Leute in der Abfahrt entgegen. Wir schließen daraus, dass wir nicht alleine an der Hütte sein werden. Und dass die gute Spur, die uns hier den Weg weißt auch oben auf die meisten prominenten Gipfel führen wird.
Für den nächsten Tag haben wir uns die Ruderhofspitze vorgenommen. Der Berg ist mit 3474 Metern der vierthöchste in den Stubaier Alpen – steht mit etwas Abstand zum höheren Zuckerhütl und Schrankogel aber relativ dominant über dem Alpeiner Ferner im Westen und dem Stubaital im Osten. Ben ist die Tour im Sommer als Hochtour schonmal gegangen. Obwohl der Berg von unserer Seite technisch relativ einfach ist – im Winter wie im Sommer – liegt damit eine lange und ausdauernde Tour vor uns. Neben einigen Höhenmetern sind auch größere Strecken auf dem Gletscher, zwei steilere Stufen und ein 700 Meter langer Grat zu überwinden.
Franz-Senn-Hütte
Der Weiterweg zur Hütte ist naheliegend. Über einer tiefen Schlucht wird noch ein wenig gequert, dann biegen die allermeisten Spuren auf Höhe der Alpein Alm in Richtung Schafgrübler ab. Aber auch zur Hütte ist gespurt, wir folgen dem Weg durch eine kurze, etwas kritischer anmutende Querung in der aber bereits etwas abgegangen ist. Auf wenigen Metern hat man hier sowas wie eine Geländefalle. Dann überqueren den Alpeiner Bach, bewundern den Versuch an seinen Schluchtwänden mit Sprühanlage einen kleinen Eisfall zu erzeugen und stehen vor der Franz-Senn-Hütte. Der Winterraum ist angeschrieben und direkt an der Nordseite der Hütte. Wir irren trotzdem erstmal eine Weile um das Gebäude. Im Nebengebäude, wo ich inspiriert von der Coburger Hütte einen Winterraum vermute, finden wir die luxuriös beheizte und beleuchtete Toilette.
Der Winterraum überrascht uns auch. Zum einen ist er leer. Also nicht ganz – aber leer an Menschen. Wir gehen davon aus, dass sich das noch ändert. Ansonsten finden wir vier aufgebaute Feldbetten und einige Decken vor. Zwei weitere Feldbetten könnten noch aufgebaut werden. In der Ecke lehnt ein Akia. Ein paar Töpfe und Tassen stehen am Fenster und eine kleine elektrische Kochplatte auf dem Tisch. An der Wand ist eine Infrarot-Heizplatte, die sich für 4h aktivieren lässt. Richtig warm wird es damit zwar nicht, aber unter’m Strich haben wir viel weniger erwartet.
Wir hatten irgendwie andere Bilder gesehen und zweifeln kurz daran, ob das hier der Winterraum ist. Auch vermissen wir die sonst übliche Kasse und Warnhinweise / Regeln. Ein Hüttenbuch finden wir auch nicht. Wir gucken nochmal über die Tür. “Win-ter-raum”. Muss passen. Erstmal Schnee schmelzen.
Die größte Herausforderung ist das elektrische Kochfeld, für dessen Bedienung man eine Doktorarbeit benötigt. Aber wir haben ja Zeit. Und die brauchen wir auch. Irgendwann löse ich mehr durch Zufall das Rätsel und erwische die richtige Tastenkombination. Jetzt bloß nichts mehr anfassen. In einem riesigen Topf schmelzen wir den ganzen Abend über Schnee bis wir einige Liter für den Abend, den Folgetag und die Mahlzeiten zusammen haben. Etwas verwundert sind wir doch als es dunkel wird und wir allein sind. Wir packen unsere Rucksäcke für den Folgetag und sind früh im Bett. Die Nacht ist bestimmt keine warme – tatsächlich schlafe ich aber so gut und lang wie ganz selten in den Bergen.
Talbodenhatscher & 1. Stufe
Zum Sonnenaufgang treten wir vor die Tür und in die kalte Luft. Wir haben mit der Zeitangabe aus meinem Führer und ein wenig Puffer gerechnet und sind fest überzeugt, dass wir am frühen Nachmittag wieder an der Hütte stehen. Nach Süden führt eine schöne Spur am Talboden in Richtung Alpeiner Ferner. Da müssen wir hin. Tiptop.
Durch feinen Pulverschnee geht es zunächst flach und dann leicht ansteigend durch das breite und tiefe Tal. Ben braucht eine Weile um reinzukommen. Ich bin direkt von der Tür weg fit und motiviert. Schneller als erhofft vollziehen wir aber einen Rollentausch. Und während Ben aufwacht und Gas gibt schlägt für mich nach 3 ereignislosen Kilometern schon das Stubai-Ötztal-Syndrom zu und ich merke, wie mir das monotone Geschiebe durch das klaustrophobische Blau immer zäher erscheint.
Die anstehende Steilstufe ist wenig befeuernd, zumal die Spur, der wir folgen hier auch ein wenig auf Abwege gerät. Zumindest habe ich den GPS-Track von Panico auf der Uhr, welcher sich mittig im Talboden hält und dann im etwas gestuften Gelände rechts auf einer vagen Rampe durch den steilen Abschnitt führt. Dabei werden vielleicht mal Stellen 30° erreicht. Zumindest sagt meine Karte das so. Unsere Vorgänger habe sich stattdessen dafür entschieden hier auf der linken Seite unter der Sommerwand durch einen großen Hang zu queren, der eher mit den 45° flirtet und in meinen Augen ein absolut vermeidbares Lawinenrisiko darstellt.
Wir führen eine Grundsatzdiskussion über die Wertigkeit von GPS-Tracks im Gelände (Ben glaubt eher nicht dran) und laufen dann einen auch nicht wirklich guten Kompromiss in dem wir den Hang zwar tiefer queren und eine neue Spur anlegen. Nur um dann im garantiert steilsten Abschnitt wieder mit Spitzkehren zu der Spur unserer Vorgänger hoch zu kreuzen. Die Lawinenlage ist dankbar, der Schnee pulvrig und ohne Windeinfluss. Wir können uns solche Manöver (wahrscheinlich) erlauben. Rückblickend bin ich aber nicht ganz zufrieden mit meinem Durchsetzungsvermögen und dem Weg, den wir letzten Endes gewählt haben. Der Hang war so wahrscheinlich die riskanteste Stelle der ganzen Tour.
2. Stufe am Gletscherbruch
Das Gelände flacht wieder ab und wir erreichen ein weiteres, breites Tal, welches konsequent nach Süden führt. Wir stapfen immer noch im Schatten rum und an der “Aussicht” hat sich mit den Mühen der letzten Kilometer wenig bis nichts geändert. Mein SÖS knallt richtig. Ich bin lange nicht so schnell oder agil wie ich gerne wäre – im Gegenteil. Und wir haben noch eine neue Baustelle.
Unsere Vorgänger sind hier umgedreht und abgefahren. Vor uns liegen weiße Weiten. Keine Spur – nirgends. Nicht hinauf zu den wilden Türmen, zum bekannten Hinterbergl, zum Alpeiner Ferner und den Übergängen zur Amberger Hütte. Nichts. Langsam stellt sich das Gefühl ein, dass der Tag um einiges länger und fordernder wird als vermutet. Im tiefen Schnee zehrt die Spuranlage zusätzlich an der Kraft und wir müssen nun auch eigenständig den elegantesten Weg durch die abweisende Bergwelt bahnen.
Wir stapfen weiter. Ben spurt das Allermeiste – ich krieche hinterher. Etwas zu weit rechts durchqueren wir das etwas kürzere Tal und halten auf die nächste Stufe zu. Im Sommer kommt hier die Gletscherzunge runter. Für uns präsentiert sich nur eine steile Schneemauer an deren oberen Ende man die Umrisse des Gletscherbruchs erkennen kann. Wir machen mehrere Rampen aus, über die man nach rechts Höhe machen kann und entscheiden uns für die hinterste. Auch hier weichen wir vom GPS-Track ab – diesmal finde ich unsere Variante aber relativ elegant. In steilem aber angenehmen Gelände halten wir uns auf die Mauer zu und folgen direkt vor ihr einer Rampe nach rechts in die Sonne und auf die flache Ebene des Alpeiner Ferners.
Alpeiner Ferner
In glitzerndem Pulverschnee erreichen wir die Sonne und im selben Moment die magische Weite des Alpeiner Ferners. Ich fühle mich immer noch nicht wirklich fit – habe aber endlich wieder das Gefühl ein Ziel vor den Augen und einen Grund für mein Handeln zu haben. Da der Alpeiner Ferner auf seiner Ideallinie selbst im Sommer nicht allzu spaltenreich ist, steht für uns rasch fest, dass wir ihn auch im Aufstieg ohne Seil begehen. Die Schneehöhen sind dieses Jahr ziemlich überdurchschnittlich und die hartgefrorene Schneedecke unter dem frischen Pulverschnee absolut tragend. Spalten – sofern vorhanden – liegen 2-3 Meter tiefer. Und das Seil ist damit nur noch Trainingsgewicht.
Im vielfach beschriebenen Bogen überqueren wir das große Gletscherbecken, welches von den dunklen Zacken der umliegenden Berge gesäumt wird. Es fühlt sich an wie Wildnis. In keine Richtung ist irgendetwas zu erkennen, was auf die Existenz der Menschheit hinweisen würde. Nichtmal vor boxenden Murmeltieren wird hier oben gewarnt. Wir schwenken nach Osten, umgehen die sichtbare Spaltenzone mit einem respektablen Abstand und arbeiten uns den etwas steileren Hang neben dem markanten und soweit ich das überschauen kann namenlosen Zacken hinauf. Das Ziel ist längst vor Augen. Der Gipfel der Ruderhofspitze, die lange Mauer des SSW-Grates und südlich davon die Hölltalscharte am Ende des zweiten, etwas höheren Gletscherbeckens.
Viel lohnender als der Blick nach vorne ist aber einer über die eigene Schulter. Im Hintergrund baut sich langsam der von dieser Seite unverschämt markante und freistehende Schrankogel auf. Und unsere winzige Spur bahnt sich einen kleinen Pfad durch diese große Bergwelt. Wir sind immer noch allein. Wir werden es den Rest des Tages bleiben.
Rechts neben der sichtbaren Spaltenzone geht es mäßig steil hinauf in das kleine, höher liegende Gletscherbecken, welches im Süden in der noch verdeckten Hölltalscharte endet. Hier finden wir tatsächlich an einem sonst sehr pulvrigen Tag eine Ebene mit hartem Harsch. Wenig später ist die Hölltalscharte erreicht und der Blick hinüber zum Skigebiet Stubaier Gletscher macht auf.
Hölltalscharte
Nach links geht es auf den langen SSW Grat zur Ruderhofspitze. 700 Meter habe ich gelesen. Irgendwie schaut es kürzer aus und Ben erinnert sich, dass der Grat im Sommer nicht wirklich schwer war und keine nennenswerte Kletterei beinhaltet. Offensichtlich ist der felsdurchsetzte Kamm heute auch kein Kandidat um auf Skiern aufzusteigen. Scheinbar ging das irgendwie schonmal und vielleicht hätten wir uns oben ein bisschen Einsinken gespart. Wir entscheiden uns auf jeden Fall hier zu Fuß und mit Steigeisen weiter zu stapfen und lassen unsere Ski an der Hölltalscharte zurück.
In meinem Optimismus werfe ich 40 Minuten bis zum Gipfel in den Raum. Ein Blick auf die Uhr zeigt – so richtig viel länger dürfen wir eigentlich eh nicht mehr brauchen. Die Sonne steht schon tief, wir waren (ich war) wirklich nicht schnell und auf nun auch schon ein Stückchen über 3000 Metern macht sich langsam die Höhe bemerkbar.
SSW-Grat (I)
Ich mobilisiere echt nochmal ein paar ungeahnte Kräfte. Der Wechsel vom monotonen Skilatschen zum Weg suchen und bahnen an einem steilen Grataufschwung belebt. Zuerst geht es mäßig steil hinauf, der Grat bleibt an den meisten stellen relativ breit. Ein paar kleine Stufen und Blöcke müssen aber trotzdem überklettert werden und an zwei, drei Ecken zieht sich der Grat kurz zu einer hübschen aber auch etwas luftigeren Firnschneide zusammen. Bald lasse ich meine Stöcke stehen und flitze mit Gully weiter.
Nach vielleicht 200 Metern Strecke und knapp 80 Höhenmetern macht der Grat einen Knick nach Norden und führt nun lang und flach im stetigen Auf und Ab auf die Ruderhofspitze zu. Wir werden wieder langsamer, immer wieder sinken wir hier tief ein und die Höhe und die vergangenen Stunden hemmen den Auftrieb. Wir halten uns am Grat, umgehen einige Wächten und müssen immer wieder ein kurze Stück in die steile Südflanke ausweichen um einzelne Gratzacken zu umgehen.
Es gibt ein unfassbar albernes Video, in dem ich 2 Minuten lang auf der Stelle trete, bis ich mich irgendwann über einen kleinen Schneehaufen gerobbt habe. Jede Bewegung ist in Zeitlupe und wir kapieren erst später, wie wir hier so unfassbar viel Zeit liegen lassen haben. Wir kämpfen und wirklich Schritt um Schritt dem nun wieder sehr fernen Gipfelkreuz entgegen. Aufnahmen von Everest-Expiditionen wirken dagegen rasant. Wir machen Nordic Walking, die machen Sprint. Die machen einen Hillary Step, wir machen alle Hillary Steps.
Der finale Gipfelanstieg beinhaltet mehr Felskontakt, fällt uns damit wieder leichter. Auch sind von Süden über die Mutterbergalm schon ein paar Bergsteiger auf der schwereren Route hier oben gewesen. Am Ende des flachen Grates stoßen wir auf ihre Spuren und sinken nur noch bei jedem dritten Schritt ein. Ein paar brüchige Stellen und exponiertere Züge später ist der Gipfel zum Greifen nah. In goldenem Abendlicht und surrealer Stille erreichen wir die Ruderhofspitze.
Gipfel Ruderhofspitze
Eine gewisse Brutalität liegt in der Luft. Okay, es ist wunderschön hier oben, die Luft ist klar und ich stelle beeindruckt fest, dass die Weitsicht bis in die geliebten Dolomiten reicht. Langkofel, Rosengartengruppe und die Drei Zinnen schmücken den Horizont. Aber wir sind auch unmittelbar vor Sonnenuntergang auf 3474 Metern rausgekommen und haben noch einen langen Weg in unseren Winterraum vor uns. Die Tour war mit all der Spurarbeit, fehlender Akklimatisation und ihrer puren Länge eine Wucht und die winterliche Landschaft kann – aus der falschen Perspektive gesehen – auch sehr trostlos sein. Zumindest sind wir hier halbwegs
Die Sonne verschwindet über der Hölltalscharte und unseren Skiern. Ich halte mich hier mit Zeiten zurück – sie sind nicht relevant und immer von der Tagesform und den Bedingungen abhängig. Es gibt Touren, bei denen ich sehr schnell war und auf die ich stolz bin. Auch auf die heutige Tour bin ich stolz. Aber wir waren definitiv nicht schnell und damit finde ich unseren Negativrekord fast schon wieder erzählenswert: 2 Stunden haben wir vom Skidepot über den Grat auf die Ruderhofspitze gebraucht. Also für die letzten 700 Meter Wegstrecke einer Tour, die an den 18 Kilometern kratzt. Wir sollten retour ganz wesentlich schneller sein, wenn wir nicht komplett in die Dunkelheit laufen wollen.
Ich ertappe mich bei einem Gedanken, den ich so nicht von mir selbst erwartet hatte. Ich dreh normalerweise mittelschwer am Rad, wenn der Zeitplan nicht aufgeht. Ich reagiere vorsichtig gesagt nicht nur mit Liebe auf unerwartete Situationen am Berg und werde nervös, wenn ich das Gefühl habe die Kontrolle zu verlieren oder eine Chance ungenutzt zu lassen, die Karten nochmal neu zu mischen. Sonne geht also bald unter?
Komplett tiefenentspannt. Ich frage mich wo das herkommt. Vielleicht, weil der Weg zwar lang aber technisch einfach war? Zumindest hätte ich bis eben nicht vermutet, dass ich mal nach einem viel zu langen Tag auf einem gar nicht so kleinen Berg rauskomme und es mir total egal ist. Abfahrt im Dunkeln? Ja mei. Murmeltiere sind nachtaktiv? Wurscht.
Abstieg
Nach einer kurzen Rast werfen wir uns wieder in den SSW-Grat. Diesmal liegt das Ziel unter uns und das Gestapfe geht schneller. Viel schneller. Bergab war meine initiale Zeitschätzung korrekt, wir erleben einen völlig wilden Sonnenuntergang auf der Hälfte des Grades, der passenderweise genau auf die knallrote Sonne zuläuft. Die Gegenanstiege fallen minimal aus und noch im üppigen Dämmerlicht erreichen wir die Hölltalscharte.
An der Stelle sagen Bilder vermutlich mehr als 1000 Worte, der Sonnenuntergang gehört zu einem der allerwildesten und das obwohl ich in der Beziehung schon eine Menge solcher provoziert habe und das so ziemlich jedes Mal sage. Wir tanzen auf dem Schneegrat unser Spur nach, während die Berge ringsum glühen.
Als wir den Knick am Grat erreichen, ist uns relativ klar, dass wir einen wichtigen Zwischensieg erfochten haben. Zumindest waren wir bergab wesentlich schneller und haben uns damit die Zeit erspielt im mehr als ausreichenden Dämmerlicht den Gletscher abzufahren. Was…nett ist. Denn so haben wir eine gute Chance unserer kleinen Spur exakt zurück zu folgen und vielleicht sogar noch einen kleinen Puffer für die obere Stufe am Gletscherbruch.
An der Hölltalscharte ist inzwischen ein eisiger Wind aufgekommen und mit der fehlenden Sonne macht sich die Kälte zum ersten Mal bermeklich. Rund -20° Celsius werden ringsum gemessen und ohne Bewegung gefrieren die Jacken und Handschuhe schnell durch. Ohne große Worte bauen wir schnell um. Abgefellt haben wir vorher schon, was bestimmt eine relativ schlaue Aktion war. Steigeisen wegräumen, Pickel verstauen, Schuhe in den Abfahrtsmodus, Stirnlampe auf.
Abfahrt
Fairerweise – wir hatten uns die Abfahrt ein bisschen anders vorgestellt und über den langen Bergtag hinweg schon relativ erfolgreich verdrängt, wie flach lange Abschnitte der Tour waren und wie tief der Schnee am Talboden liegt. Wenige Minuten später sind wir schon vom Gletscher runter – im Harsch des oberen Beckens konnte man recht gut Fahrt aufnehmen und sich dann in unserer Aufstiegsspur ganz entspannt über den zentralen Alpeiner Ferner tragen lassen. Am Übergang ins unvergletscherte Gelände müssen wir ein paar Meter auf den Scheitelpunkt der oberen Stufe ansteigen. Ich versuche an unserer Aufstiegsspur zu bleiben, Ben meint aber bald weiter westlich eine etwas schönere Abfahrt gefunden zu haben, die auch mit weniger steilen Hängen punktet. Ich quere im feinsten Pulverschnee zu ihm rüber. Der GPS-Track ist auch weiter westlich von uns – im Aufstieg haben wir einen etwas direkteren Weg gewählt.
Inzwischen ist es komplett dunkel. Bei der Einfahrt in das schattige Tal fällt das fahle Dämmerlicht vom Gletscher weg und wir sind in Kürze nur noch zwei Lichtpunkte, die durch die stille Bergwelt hüpfen.
Die Stufe entpuppt sich dann doch als etwas abenteuerlicher. Die flache Rampe, in die wir eingefahren sind endet einige hundert Meter später in steil abfallenden, felsdurchsetzten Abbrüchen. Die hellen Felsplatten sind teilweise mit blankem Wassereis überflossen und im weißen Licht der Stirnlampen kaum vom Schnee abzugrenzen. Kurzum – nicht ganz trivial. Wir passen unser Tempo an und arbeiten uns sorgfältig auf schmalen Rinnen über zwei solcher Stufen. Mit dem begrenzten Radius der Stirnlampen tut sich hier beinahe ein kleines Labyrinth auf. Letzten Endes finden wir aber rasch eine weitere Rampe, die hinüber zur Gletscherzunge führt und in einem kurzen, sehr steilen Pulverschneehang wieder ins offene Gelände und auf unserer Aufstiegsspur führt.
Nun haben wir natürlich auf der einen Seite geilen Tiefschnee. Dieser führt aber auch zu äußerst wenig Schwung. Zu wenig Schwung um überhaupt nennenswert Strecke in den folgenden, flachen Talabschnitt hinein zu machen. Sehr früh sind wir am schieben. Stur und zäh stampfen wir durch unsere Aufstiegsspur durch das dunkle Tal zur nächsten Stufe. Irgendwie ist es zu flach um wieder aufzufellen. Wir erreichen die Stufe, fahren wieder in ein paar genial staubigen Schwüngen im Schein unserer Stirnlampen hinab und landen rasch am Talboden. Und wissen aus der vorherigen Stufe, dass wir auch hier schieben dürfen.
Die verbleibenden 2 Kilometer zum in der Ferne tanzenden Licht der Hütte sind eine reine, meditative Geduldsübung durch das absolute Schwarz einer Nacht ohne Mond. Über uns der Sternenhimmel, unter uns der knirschende Schnee und das Funkeln der Eiskristalle im Licht der Stirnlampen. Ben fasst es zusammen:
Gibt es Bedingungen, unter denen man die Abfahrt am Stück machen kann? Vielleicht im Frühling mit hartem Firn?
Total egal. Eine undefinierbare Weile schweigenden Latschens später erreiche ich die immer noch leere Hütte und unseren kleinen Winterraum. Ben ist ein Stück zurückgefallen und hüpft als kleiner Lichtkreis durch das Tal. Ich koche schonmal Wasser.
Der nächste Tag
Das Schrandele haben wir komplett verworfen. Eigentlich sollte die Ruderhofspitze nämlich nur die Aufwärmrunde werden. Absolut übereifrig – wann anders.
Stattdessen holen wir uns die ausgefallene Abfahrt in den perfekten, anhaltenden Hängen unter Schafgrübler und Horntalspitze zurück und schaffen so noch ein geniales Kontrastprogramm zum Vortag:
Die Abfahrt, ein Traum in weiß, entschädigt für all das Geschiebe der letzten Nacht bevor es über die lange Forststraße sausend wieder nach Seduck und zurück in die Normalität geht. Weg von den ungespurten Modetouren, dem SÖS und eiskalten Nächten, den zu kleinen Abendessen und überall lauernden Killermurmeltieren.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Technisch einfache aber lange Skitour, die zumindest bei den für uns geltenden Bedingungen (Powder pur) eher mit dem Gesamterlebnis punktet und im Sinne der Abfahrt kaum lohnend ist. Wir haben den Gletscher mit den überdurchschnittlichen Schneemassen 2023/2024 seilfrei überquert, hätten aber alles dabei gehabt. Für den Grat waren Steigeisen und Pickel angenehm, es geht aber bestimmt auch ohne – ein paar Gramm und Sicherheitsreserven einsparend. Die Kletterei am Grat überschreitet kaum den I. Grad und kann oft im Osten umgangen werden – der Gipfelaufbau steilt etwas auf und ist nicht überall fest und wird bei ungünstigen Bedingungen vermutlich die Crux der Tour sein.
Der Weg zur Ruderhofspitze ist nur ausdauernd – drumherum dafür sehr gutmütig. Das Gelände ist bei vergleichbaren Bedingungen nie nennenswert ausgesetzt oder heikel. Auch in der Abfahrt gibt es wenige Herausforderungen und nur ein paar steile Hänge, die nicht wirklich absturzgefährdet oder mit Hindernissen durchsetzt sind. Gehpassagen sind – so würde ich vermuten – meistens auch in der Abfahrt einzuplanen.
Zusammenfassung
Ein langer Tag im Herzen der Stubaier Alpen, den ich nicht missen möchte. Ich nehme aber auch eine gewisse Demut mit – vor allem vor streckenmäßig langen Skitouren, Spurarbeit im Tiefschnee und dem Stubai-Ötztal-Syndrom.