Wir haben uns ja durchaus Gedanken gemacht, was wir so klettern wollen und können. Beim Wälzen diverser Kletterführer und Topos bin ich auch über die Gran Diedro am Due Laghi gestoßen und das Foto von einer riesigen Verschneidung hat meine Aufmerksamkeit erregt. Ein Blick auf die nächste Seite, lässt die kurze Aufregung direkt wieder abschwellen. Im 6. Grad sind wir eigentlich noch nicht unterwegs. Für 2023 war angedacht sich im alpinen Gelände und Mehrseillängen mal den 5. Grad anzutesten und zu festigen. Das Buch unterteilt die Kletterrouten in Arco außerdem in “Sportklettern” und “Alpinklettern” und dort in die Stufen S1 – S3 (bzw. alpin R1 – R3). Diese Stufen stellen aufsteigend die Schwierigkeit / Ernsthaftigkeit der Absicherung dar. Mit der Angabe R1-R2 platziert sich diese riesige Verschneidung also im unteren Mittelfeld der alpin abgesicherten Touren – wir sind eigentlich zum Sportklettern in und um Arco. Nichts wie weg hier.
Als Relikt blieb diese Tour dennoch in unserer Online-Liste liegen – kann man ja irgendwann mal machen. Beim nächsten Besuch, mit mehr Erfahrung, später im Leben.
Oder halt wenn einen nach 3 schönen Routen im Sarcatal und einer zumindest für Hannah alkoholhaltigen Nacht am wechselhaftesten Tag des Wochenendes der völlige Größenwahn packt. Und wir die Route aus einer guten Quelle empfohlen bekommen haben. Ich kippe meinen Rucksack aus und begutachte unser Kletterzeug. Wir bauen also um. Einige Alpinexen und in der Topo gezählte Sanduhren später steht fest – so richtig viele Ausreden bleiben gar nicht. Ein paar Keile und Cams haben wir auch dabei.
Mit 9 Seillängen führt die Gran Diedro (Diedro = Verschneidung) zunächst durch eine markante und breite Verschneidung, die man schon aus der Ferne über dem Lago di Santa Massenza ausmachen kann und mündet dann in Kanten und Plattenkletterei auf dem rechten Schenkel der Verschneidung. Dabei werden 250 Klettermeter überwunden – auf dem Papier also kein allzu großes Vorhaben. Wir gehen davon aus, an den Ständen nur Normalhaken / Schlaghaken vorzufinden und lesen von der 4. Seillänge, die im oberen 5. Grad keinerlei fixes Material bietet. Und so liegt die Größe dieser Tour für uns nicht in Länge oder Höhe sondern in Schwierigkeit gepaart mit interessanterer Absicherung. Eine Mischung, die wir so noch nicht geklettert sind.
Paradoxerweise gehen wir diese Kletterei entspannt nach dem Frühstück an. Wir, die sonst zum Sonnenaufgang am Einstieg irgendeiner generischen 4er Kraxelei stehen. Aber wir rechnen uns aus, dass der Andrang schon nicht so groß sein wird und dass uns – analog zur Routenwahl – eh vieles egal ist. Und so starten wir um 9:30 am Parkplatz südlich des kleinen und gefühlt etwas ruhigeren Örtchens Santa Massenza in Richtung Diedro. Der Zustieg ist kurzweilig, nach einer Abzweigung am Ortseingang links hinauf geht es ziemlich direkt an die Wand heran und dann auf einem Waldpfad wieder nach rechts bis zum Einstieg. Dabei ist die Verschneidung durch die Baumwipfel bereits erkennbar und in der Draufsicht mächtig steil. Wer immer noch wild entschlossen ist, findet dann auch schnell die blaue Einstiegsmarkierung und die feine, kurze Rissverschneidung der 1. Seillänge.
1. Seillänge (VI-)
Die Route sorgt auf jeden Fall direkt dafür, dass man wach wird. Bei uns eigentlich obsolet weil wir ja extra ausgeschlafen haben. Aber das kann der Fels ja nicht wissen. Hannah – im tapferen Vorstieg – verflucht den Abend zuvor, welcher als brauchbarer Sündenbock für die knifflige erste Seillänge herhalten muss. Mit 12 Metern sicher eine der kürzesten Seillängen, die man finden wird. Von diesen 12 Metern sind aber 10 Meter glatte, sandige und nicht allzu gut abgesicherte Verschneidung, die für eine VI- recht knackig ist. Wir legen kurz über dem Boden einen kleinen Klemmkeil – der aber eher als Placebo bis zum Erreichen des Schlaghaken auf halber Höhe der Verschneidung wirkt. Danach werden die Griffe einen Hauch größer, der Sand einen Hauch weniger sandig und der Kaltstart lehnt sich an einem Baum mit Schlinge prompt in leichtes Gelände zurück. Dort finden wir – anders als erwartet – einen silbernen, gebohrten Standhaken.
Ich steige nach, habe es dementsprechend etwas leichter, finde ein paar brauchbaren Tritte und schließe zu Hannah auf. In einigen Jahren und mit ein wenig mehr Speck wird das Ding richtig zach. Indianerehrenwort.
Die 3er-Seilschaft, die hinter mir anrückt steigt zu unserem Glück in die etwas schwerere Nachbarroute Due Spigoli ein. Unser Glück – so direkt hätte ich ungern jemanden im Nacken gehabt. Vor allem nach dem doch ganz ordentlichen Kaltstart und vielen offenen Fragen was die weitere Route angeht.
2. Seillänge (VI-)
Hier geht es in die eigentliche, weitläufige Verschneidung, die Gran Diedro. Diese werden wir nun auch für einige Seillängen nicht mehr verlassen. Ich bin dran mit dem Vorstieg und habe 30 Meter bis zum selben Schwierigkeitsgrad wie zuvor vor mir. Das kann ja was werden. Ich kann aber gleich vorwegnehmen, dass ich alle schweren Stellen aus Versehen umklettert bin und den nächsten Standplatz vergleichsweise einfach erreicht habe.
Zunächst geht es über plattige IVer Stufen mit recht breiten Leisten und Griffen hinauf. Für gute 10 Meter fehlt jegliche Absicherung und abseits der Verschneidung, die man wohl mit Friends hätte ausstatten können fallen mir die in der Topo erwähnten Schlaghaken und Sanduhren nicht ins Auge. Aufgrund gut beherrschbarer Schwierigkeiten und recht gutmütiger und flacher Kletterei fühle ich mich mit dem halbwegs langen Runout aber vergleichsweise wohl, lege keine Zwischensicherungen und erreiche schnell einen großen Baum mit Schlinge. Es wird steiler. Der Fels ist aber an vielen Stellen perfekt kompakt, plattig und rau. Ich stemme mich in die Verschneidung – eine meiner Lieblingsdisziplinen und gewinne gut an Höhe. Gar nicht so schlimm diese Diedro. Und Sanduhren finde ich auch wieder. Dolce Vita.
Dann geht es – gefühlt schon am Ende der Seillänge auf einen steilen Aufschwung zu. Ich gehe ihn instinktiv und geradeaus in einer etwas splittrigen Verschneidung an, die ich mit einem #1 Cam sichere. Ein paar brauchbare Tritte und Griffe später erreiche ich einen großen Baum, an dem ich Stand mache. Einige Meter über mir sehe ich schon die Verschneidungsseillänge, die wohl das Herzstück der Linie darstellt.
Während ich so meinen Standplatz an den großen Baum bastel fallen mir Dinge auf. Plural. Zum einen ist vielleicht 2 Meter über mir auf einem Absatz wieder ein gebohrter Standhaken, wie er uns schon nach der ersten Seillänge überrascht hat. Gesehen habe ich ihn erst, nachdem ich mich am Baum positioniert und Stand gerufen habe. Ich habe keine Lust nochmal umzubauen. Zum anderen sehe ich zwei Sanduhren, die durch die Wand neben / über meiner brüchigen Verschneidung geführt hätten. Das sieht deutlich schwieriger aus. Aber hier wäre es wohl langgegangen. Ohne die Stelle geklettert zu sein, sieht sie aber ein wenig gesucht aus. Meine Interpretation und der tatsächliche Routenverlauf liegen unmittelbar nebeneinander. Nur dass ich instinktiv in der Verschneidung geblieben bin während die Sanduhren, die ich im Eifer des Gefechts übersehen hatte, von der Verschneidung weg in den linken Schenkel führen und dort wohl ein gutes Stück schwieriger am Stand landen. Nächstes Mal. Ich hole Hannah nach.
3. Seillänge (VI-)
Das ist die zentrale Seillänge, um die sich die ganze Route dreht. Zumindest fühlt es sich so an. Ich würde nichtmal sagen, dass hier die schwierigsten Einzelstellen liegen – aber die nächsten 30 Meter sind durchweg homogene, technische und ausdauernde Verschneidungskletterei in wilder Szenerie.
Die rechte Begrenzung ist die kompakte Platte, die hier zum ersten Mal breit und deutlich aus der Wand hervortritt. Man sucht – stellenweise auch vergebens – nach kleinen Leisten, Einbuchtungen und Unebenheiten um einen Fuß zu setzen. Griffe braucht man, vor allem in der zweiten Hälfte der Seillänge, auf dieser Seite eher nicht erwarten.
Links türmt sich gelber und strukturierter Fels, der zwar den einen oder anderen brauchbaren Griff abwirft sonst aber auch viele glatte und unübersichtliche Stellen hat.
In der Mitte zieht sich ein zunächst feiner und nach oben immer deutlicherer Riss durch die Verschneidung, der gegen Ende zunehmend gepiazt werden will.
Die Schlüsselstelle der Seillänge wird ein kleine Überhang im oberen Drittel sein, welcher etwas knifflig umklettert wird. Hannah leistet einen äußerst souveränen Vorstieg entlang der – mittels Schlaghaken in roher Menge – recht üppig versicherten Verschneidung. Langsam aber stetig geht es mit Spreiz- und Stemmbewegungen höher, wobei ein kleiner Baum nach etwa 20 Metern durchaus erkämpft werden will. Hier gibt es zum ersten Mal eine brauchbare Gelegenheit zu stehen und Pause zu machen, wenn man sich nicht gerade in einen der Schlaghaken setzen mag. Ich sehe Hannah an, dass diese Seillänge nicht geschenkt ist.
Am Baum angekommen herrscht kurze Verwirrung. Irgendwo müsste ja dann ein Stand kommen. Wir gehen nun mit der Erfahrung aus den ersten Seillängen davon aus, dass wir einen gebohrten Standhaken erwarten können. Da Hannah am Bäumchen schon über 30 Meter von mir entfernt ist, ist die Versuchung groß dieses zum Standplatz zu erklären. Es wäre aber ein äußerst unangenehmer seiner Art. Ich übersehe dabei natürlich das Detail, dass ich ja meinen Stand einige Meter unter dem offiziellen Standplatz gebaut habe und die Seillänge damit ein wenig länger ausfällt. Simple Mathematik – die hier versagt. Ich komme dem Rätsel zumindest erst auf die Schliche, als Hannah den Stand gefunden hat und ich mitten in der Verschneidung klebe. Hinter dem Bäumchen geht es auf jeden Fall noch etwa 5 Meter durch die Verschneidung und dann in kurzer aber filigraner Plattenkletterei nach rechts zum deutlichen Standplatz auf der Platte.
Als ich nachsteige wächst mein Respekt. Es sind wunderschöne Klettermeter – keine Frage. Nachdem ich am Folgetag am Piccolo Dain noch die bis dato schönste Seillänge bisher klettern werde, schafft es dieses tolle Stück Verschneidung nur auf den zweiten Platz. Aber neben sorgfältiger Technik ist eine Portion Ausdauer gefordert, die ich bisher noch nicht in Mehrseillängen gebraucht habe und die eher an die längsten Routen im Stammklettergarten erinnert.
4. Seillänge (V+)
Nachdem Hannah ihren stolzen Moment in der Riesenverschneidung hatte – zu Recht wie ich finde – bin nun ich an der Reihe. Und auch diese Seillänge ist auf ihre eigene Art und Weise eine kleine Prämiere. Auf den folgenden 25 Metern steckt kein fixes Material. Der Riss darf / kann / soll / muss selbst abgesichert werden. Ich hab zwar schon viel mit Sanduhren geklettert und den einen oder anderen Keil und Cam irgendwo versenkt – es kam aber noch nie wirklich darauf an. Oft waren das eher Luxusprobleme im leichten Gelände, verbesserte Standplätze oder Spielereien im Klettergarten. Und so rücke ich – erstmals begründet – mit einem Grundsortiment Cams in eine Seillänge. Mit dabei die dringende Absicht, diese auch zu verwenden.
Die erste freudige Erkenntnis, ist dass es doch fixes Material gibt. Ein kleiner Friend steckt (zumindest bei unserer Begehung) festgefahren einige Meter über dem Stand im Riss und sorgt für einen absolut brauchbaren ersten Sicherungspunkt. Die zweite freudige Erkenntnis – für eine V+ klettert sich das alles sehr gutmütig und angenehm. Die Kletterei ist hier etwas weniger steil und führt – zwar weiter durchaus technisch – aber schön und flüssig an größeren Kanten und Griffen empor. Auch die Platte bietet wieder deutlichere Leisten für Tritte. Kurz vor einem Knick nach links, einige Meter über dem fixen Friend wandert ein #0.4 Cam in den Riss. Dann geht es nach links auf einem Absatz, der als Brotzeitplätzchen der Seillänge durchgeht. An einem abgetrennten Block kann man nicht nur entspannt stehen sondern auch eine durchaus solide Sanduhr um einen Klemmblock legen. Von hier sind es noch etwa 15 Meter in der Verschneidung – der große Baum und damit auch nächste Standplatz ist bereits auszumachen.
Ich steige weiter und sehr konzentriert am Riss hinauf. Ich habe diese Seillänge als extrem flüssig im Kopf und bin wohl selten so sauber und selbstbewusst vorgestiegen – vielleicht ein Nebeneffekt der eigenverantwortlichen Absicherung? Einige Meter über der Sanduhr passt ein #0.75 Cam, einige Meter weiter noch eine #1 und dann löst sich das Gelände auch schon auf und führt – etwas in die Platte ausweichend – an den großen Baum heran. Rückblickend ließen sich fast plaisirmäßige Abstände einrichten. Man hätte auch noch viel mehr Material verbraten können. Oder weniger. Denn die Kletterei – so zumindest meine Einschätzung – ist hier wirklich angenehm und was auch immer man in den Riss legt, hat eine gute Chance zu halten.
Irgendwo unter uns blinkt ein roter Helm durch den Busch – es ist also doch nochmal wer in die Gran Diedro eingestiegen. Wir hatten schon einige Rufe gehört und immer wieder kurz was gesehen – sind mittlerweile aber halbwegs tiefenentspannt unterwegs und halten einen brauchbaren Abstand zu der anderen Seilschaft.
5. Seillänge (V+)
Ich hole Hannah nach und sie steigt direkt weiter. Zum ersten Mal gibt es richtige Platten- und Reibungskletterei, da ein wenig Grünzeug in der immer breiter werdenden Rampe mit einem Bogen nach rechts umgangen wird. Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das was noch kommt. Trotzdem bereits hier interessant, abwechslungsreich und vor allem perfekt rau. Das haben wir die Tage auch schon anders gesehen. Die Absicherung in der Platte erfolgt über einwandfrei vorgefädelte Sanduhren, wie man sie im Sarcatal sehr häufig antrifft. Dann zieht die Tour wieder deutlich nach links in die Verschneidung, die hier nochmal ansteilt und sich einige Meter höher auch gar nicht mehr so leicht klettert. Hannah legt einen #0.75 Friend über dem letzten Schlaghaken und schafft dann den nicht ganz trivialen Bogen zurück ins Zentrum der Platte, wo der nächste Standplatz wartet.
Einzelbewegungen sind hier sicher mit den schwierigen Stellen in der langen Verschneidung unten ebenbürtig – es fehlt dieser Seillänge aber an Ausdauer und Homogenität, wodurch sie sich in Summe leichter anfühlt und tolle Plattenkletterei mit einigen kräftigeren Metern in der Verschneidung kombiniert.
6. Seillänge (IV)
Die einzige Seillänge, die keine schöne Kletterei bereithält – das aber auch nur auf sehr kurzer Strecke. Der 15 Meter messender Quergang verbindet den Standplatz in der Platte mit einem nur wenig Meter höher liegenden Standplatz an einem Baum, an dem sich die Gran Diedro mit der Due Spigoli kreuzt. Unsere Route quert hier aus der schattigen Verschneidung hinaus an die luftige Kante, die ihren weiteren Verlauf prägen wird. Die Due Spigoli – bisher eine reine Kantenkletterei rechts neben uns – zieht dafür von der Kante in die Verschneidung an wessen linker Begrenzung eine weitere Kante erklettert wird.
Man wäre fast dazu verleitet, diese kurze Seillänge irgendwo anzuhängen. An die 5. Seillänge – schwierig, aber denkbar. Die ohnehin schon kurvenreiche Seillänge würde um noch mehr Seilreibung bereichert werden und setzt wohl sehr bewusste und vorausschauende Seilführung voraus. Besser passen würde wohl ein Kombinieren mit der 7. Seillänge – auch hier aber mit ordentlich Luft zwischen den Kletterpartnern und dem potential für unangenehme Seilreibung. Wenn man es drauf anlegt ist das aber die vermutlich sinnigere Wahl.
Am Standplatz – einem großen Baum – treffen wir die Dreierseilschaft aus der Due Spigoli. Ich hatte den Seilersten, der stets vorgestiegen und die beiden nachgeholt hat schon lange als Bergführer abgestempelt. Stellt sich raus, dass es nur eine Gruppe Freunde ist. Und trotzdem beherrscht er einige Zaubertricks, die man sonst nur von routinierten Bergführern erwarten würde. So taucht – ohne dass er einen Rucksack mitführen würde – plötzlich eine blaue Daunenjacke auf. Als ich am Stand neben ihm sichere, zieht er aus eben dieser eine große Packung Erdnüsse, die er während dem Sichern knackt und snackt. Wenn ich groß bin, werd ich auch mal so. Oder besser nicht?
7. Seillänge (V-)
Während Hannah vorsteigt höre ich begeisterte Rufe von ihr. Irgendwas ist da wohl ganz cool.
Als ich nachsteige weiß ich schnell was los ist. Auf einer geneigten Platte, die sich oben zu einer durchaus luftigeren Kante zusammenzieht geht es hinauf. Dabei ist die Platte nicht nur lächerlich rau sondern auch mit einigen fast schon paradiesischen Griffen und Löchern ausgestattet. Dachsteinkalk küsst Albahida. Die Luft unter den Füßen ist man gar nicht mehr gewöhnt. Tatsächlich war die Gran Diedro bisher für uns zwar konstant schwer aber nie wirklich luftig oder gruselig im Sinne der gefühlten Höhe. Umgeben von Felswänden und Blöcken kletterte man stets recht sorglos und eingelullt zwischen Spreizschritten und Bäumen umher. Das ändert sich nun langsam und die an der rechten Begrenzung der Diedro neu gewonnene Exposition muss erstmal kurz verdaut werden.
Unter einem die sonnenbestrahlten Dächer und der blaue See. Und unser Auto. Witzig.
Der Standplatz liegt leicht rechts der Kante unter einem deutlichen Aufschwung und ist erneut gut eingerichtet. Ich hatte mich so darauf gefreut irgendwelche Rostgurken zu verspannen – aber so? Besser als erwartet. Und jetzt kommen ja eh nur noch zwei leichte Ausstiegsseillängen.
8. Seillänge (V)
Das ist keine V. Nichtmal in Oberammergau wäre das eine V. Die folgende Seillänge empfinde ich in Summe beinahe als schwierigste und kühnste der gesamten Tour. Die Verschneidung in der 3. Seillänge unten würde ich zwar schon noch als die Schlüsselstelle durchgehen lassen, sie klettert sich aber gefühlt übersichtlicher und konstanter bei besserer Absicherung. Hier oben hatte ich mich eher schon im unspektakulären Rumkraxln gesehen. Ein Fehler, den man durchaus vermeiden sollte. Denn was kommt ist lang, unübersichtlich, anspruchsvoll, exponiert und an den entscheidenden Stellen dünn abgesichert.
Es geht über eine kurze Platte in einen kleine, etwas abdrängende Verschneidung. Soweit alles ganz entspannt, ein wenig stemmen und treten und schon steht man oben. Bis hier ist mein Ego noch durchaus aufgeblasen und die Griffe an den Kalk souverän und bestimmt. Ich halte Inne.
Der Flow, der mich nun durch 7 Seillängen getragen hatte kommt zu einem abrupten erliegen. Ich steh ein einer super luftigen Ecke 200 Meter über dem Talboden und vor mir versperrt ein plattiger Wulst den Weg. Frechheit. Ich schiebe mich in die erste plattige Stelle und staune nicht schlecht. Während man unten stets Leisten und Griffe gefunden hat bin ich hier beinahe vollständig auf Reibung unterwegs. Und dafür ist es doch noch ordentlich steil. Die folgende Sanduhr ist schon hart erkämpft und ich bin froh, dass Hannah unter der Kante nichts von meinen kläglichen Versuchen sieht und hört.
Ein zweiter Aufschwung ist noch steiler und luftiger als der erste und führt auf einen weiteren glatten Plattenpanzer. An diesem Eck, einige Meter über der letzten Sanduhr hätte ich mir eine Zwischensicherung gewünscht. Diese liegt aber erst einige Meter über mir. Einige Meter, die schon in der Draufsicht ziemlich wild aussehen. Ich lege einen #3 Cam, den ich zufällig dabei habe hinter eine große Schuppe. Er hat eher symbolische Wirkung – ich weiß nicht, dass er einen Sturz gehalten hätte. Ich würde diese Stelle gerne nochmal klettern um zu gucken, ob sie mich auch beim zweiten Mal so kalt erwischt. Die nächsten Züge über die steile Platte sind messerscharf vom überschwappenden Unbehagen entfernt. Ich klemme irgendwie zwischen hauchzarten Wasserrillen – alle Körperteile auf fragwürdigem Reibungskontakt und merke wie ich etwas hektischer und unsauberer werde, die Beine beim Druck auf die glatte Platte zittern und der Spaß an der Sache für einen Moment verschwindet. Mit Erreichen der nächsten Sanduhr wird das Gelände langsam aber merklich etwas einfacher und am Stand muss ich erstmal einen Moment Luft holen. Jetzt bin ich wieder wach. Und muss mir eingestehen, dass der Gran Diedro da gerade nochmal ordentlich Zähne gezeigt hat. Und ich im Kopf etwas zu voreilig mit der Tour abgeschlossen habe.
Hier waren Bewegungen und winzige Griffe und Tritte dabei, die ich eher in einer Boulderhalle vermuten würde und die ich eigentlich nicht 8 Meter über einem durchwachsen gesetzten #3 Friend machen wollte. Während ich den Rest der Route zwar anspruchsvoll aber nie wirklich schwer empfunden habe, musste ich hier richtig die Zähne zusammenbeißen um nicht die Nerven zu verlieren.
Als Hannah nachkommt, bin ich froh zu hören, dass ich nicht einfach saudoof geklettert bin. Auch sie empfand die Seillänge als ziemlich wild.
9. Seillänge (IV+)
Letzte Seillänge – unter Hannah’s Führung. Entlang vieler Sanduhren geht es an tollen Griffen und Löchern über die große Platte. 55 Meter trennen uns vom Ausstieg aus der Route und die letzte Seillänge kombiniert nochmal alle Elemente der Gran Diedro in abgeschwächter Form. Wobei?
Größer müsste man sein. Ich tu mich hier relativ leicht, aber Hannah hat da durchaus einen Punkt. Zwischen den grandiosen Griffen herrscht gähnende Leere und der eine oder andere etwas kühnere Zug und Tritt auf Reibung ist dabei. Dann wandert die Seilführung nochmal kurz an die Verschneidung heran, berührt diese ganz kurz und läuft dann langsam wieder nach rechts in die Mitte der Rampe.
Als ich nachsteige finde ich in einem Griff einen Meter über dem Stand einige Kippenstummel. Eine ziemliche Sauerei, die hier recht üblich zu sein scheint. Aber vielleicht musste da mal jemand runterkommen. Denkbar ist es nach der vorherigen Seillänge.
Dann lehnt sich das Gelände langsam nach hinten, die Felsen werden flacher und griffiger und über ein paar herrlich leichte Züge in rauem IIIer Gelände verlassen wir die gigantische Verschneidung. Ein letzter Blick runter über die Route, auf den Parkplatz, den See und das Örtchen. Noch in der Wand fälle ich das etwas vulgäre Urteil:
Kommt aber hin. Es ist definitiv Liebe auf den ersten Blick – diese Tour war wahnsinnig schön. Und doch haben wir an der einen oder anderen Ecke auch ordentlich geflucht. Pure Freude über die geile Linienführung und purer Hass über die geile Linienführung lagen so dicht beinander wie noch nie. Noch nie ist mir so viel geniale Kletterei auf so kleinem Raum begegnet und noch nie hat eine Route besser zur aktuell beherrschten Schwierigkeit gepasst. Die Gran Diedro passte zu uns wie die Faust auf’s Auge und war ebenso machbar wie fordernd in allen Kategorien.
Abstieg
Nachdem wir nüchtern festgestellt haben, dass das jetzt richtig perfekt war und eine kurze Gipfelrast absolviert haben geht es – dem Berg zugewandt – rechts über einfache Blöcke auf einen erkennbaren Pfad gen Tal. Die Brotzeit, die wir unten am See geplant hatten, ruft. Hier mal wieder ein typischer Kletterabstieg – das Abenteuer beginnt bei Verlassen der Kletterei. Es geht zwar nicht ganz so spartanisch zu wie in anderen Routen aber der erdige und laubverdeckte Pfad führt mit ein paar steilen Gegenanstiegen an einem senkrechten Abbruch entlang. Die Spur ist – dank Steinmänner und schwacher Markierungen leicht zu finden und in einem kleinen Schotterfeld hält man sich links hinauf zu einem Durchschlupf.
Von der gewünschten Bikinifigur sollte man hier nicht allzu weit entfernt sein. Ich (nagut – mit Rucksack) muss zumindest am Boden durch den Durchschlupf robben. Über einen Klettersteig, den die Erbauer wohl beim Schrottwichteln gezogen hatten geht es hinab. Eine gewisse Hassliebe entwickelt sich auf den wenigen Metern Versicherung schon. Denn das dünne, wackelige und rostige Seil ist in der sehr steilen und glatten Wand zwar schon hilfreich bietet aber lange nicht die Sicherheit, die man sich eigentlich wünschen würde und sollte mit gewisser Vorsicht genossen werden. Ein Fehltritt endet hier ausnahmslos 100 Meter weiter unten. Zum Glück ist das wirklich steile Stück überschaubar und an seiner steilsten Stelle, direkt bevor man seinen Lebensstil hinterfragt, mündet es in einer alten Leiter die auf leichte Pfade führt.
Mittels Autopilot stapfen wir kurzweilig ins Tal hinab. Hoch war die heutige Kletterei wirklich nicht. Aber so schön. Immer wieder wandert der Blick rüber zu der Wand, den markanten Verschneidungen und wilden Kanten. Die Gran Diedro gehört zu den Touren, in die ich unbedingt nochmal einsteigen will. Ich habe noch so viele Fragen. Den Einstiegsriss im Vorstieg, die schwere und offizielle Wegwahl in der 2. Seillänge, die traumatischen Platten aus der 8. Seillänge. Und überhaupt – die geniale Tour.
45 Minuten nachdem wir den Abstieg angetreten sind stehen wir wieder am Auto und überbrücken mit einer Brotzeit im windigen Halbschatten am Ufer des Lago di Santa Massenza die Zeit bis zur Eisdiele in Sarche. Dem einzig vernünftigen Ziel nach so einer Tour.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Für uns war die Gran Diedro eine perfekte Symbiose aus fordernd und fördernd. Auf jeden Fall aber die spannendste und schönste Tour, die uns bis dato untergekommen ist.
Zur Referenz sei vielleicht gesagt, dass wir beide im Klettergarten irgendwo im 7. Grad und in der Halle im unteren 8. Grad unterwegs sind und am Fels auch privat viel mit Platten zu tun haben. Wahrscheinlich – so würde ich zumindest sagen – sind Platten, Wasserrillen und Verschneidungen meine Spezialität. Einfach nur, weil ich bisher wenig anderes geklettert bin. Mit Löchern oder Rissen kriegt man mich aktuell wahrscheinlich noch sehr viel leichter zerlegt. Warum erzähl ich sowas? Während ich Routen wie Rita (Quellen VI-) und Bellezza della Venere (Quellen V-) nämlich eher abgewertet habe und von “im Herzen IVer Routen mit einigen schwierigeren Stellen” gesprochen habe, würde ich hier das Gegenteil tun:
Auch wenn die Route nicht sportklettermäßig eingerichtet ist, würde ich behaupten, dass ein Rückzug fast überall “problemlos” möglich ist. Es stehen so viele massive Bäume in der Verschneidung, dazwischen finden sich einzelne Bohrhaken mit Ringen an den Ständen und solide Sanduhren. Es fühlt sich also nie so an, als wäre man der Route wirklich “ausgesetzt” und so kann man sich relativ sorglos und unverbindlich die eindrucksvollen und lohnenden Kletterstellen anschauen.
Dennoch braucht es für den Durchstieg an einigen Stellen dann doch einen ausdauernden Vorsteiger, der sich auch mehrere Meter über der letzten Sicherung noch wohl fühlt. Die Kletterei ist durchweg technisch und lässt sich – zumindest nach meinem Empfinden – nirgends mit roher Gewalt oder Kraft lösen. Dazu in den allermeisten Seillängen äußerst durchgängig mit fliegenden Wechseln im Kletterstil. Auf engem Raum haben wir – nochmals absolut subjektiv – so ziemlich alles gebraucht, was wir im letzten Jahr in verschiedensten Routen und Ecken gelernt haben. Da steht man gerade noch schön eingespreizt in einer Verschneidung und sucht den nächsten Tritt und einen Meter weiter balanciert man auf Reibung über eine Platte mit kleinen Crimps und Leisten. Bedachtes, sorgfältiges und konzentriertes Steigen ist angesagt und dank der in Summe doch sehr zahlreichen Absicherung fast überall möglich.
Im unteren Teil dominieren alte Schlaghaken, oben wird fast nur noch über Sanduhren gesichert. Die Sanduhren sind allesamt gefädelt und in brauchbarer Regelmäßigkeit vorhanden. Bei Bedarf könnten diverse Bäume, Büsche und Sanduhren noch dazu genommen werden. Neben den beschriebenen Cams in der 4. Seillänge haben wir allerdings keine eigene Sicherung gelegt – wenn man meinen Versteiger in der 2. Seillänge und den recht wirkungslosen Panikfriend in der 8. Seillänge außer Acht lässt. Der Fels ist ziemlich fest und ein ernstes Steinschlagrisiko neben den üblichen Kieseln konnten wir nicht beobachten. Die Wegfindung war sehr deutlich – nur in der 7. Seillänge muss man vermutlich aufpassen im Eifer des Gefechts nicht links in die Due Spigoli zu queren und wenn man erstmal raus hat, dass die Stände durchaus eingerichtet sind, liegen diese auch sehr logisch.
Zusammenfassung
Eine Hammertour, wie ich sie bislang noch nicht erleben durfte. Selten habe ich eine so hohe Dichte geiler Kletterei auf so kleinem Raum gesehen. Bis auf den kurzen Quergang ist keine Seillänge “überflüssig” – der Fels ist fast ausnahmslos perfekt. Was als stramme aber gut lösbare Verschneidungskletterei beginnt löst sich oben in eine Mischung aus fantastischen Platten, Piazrissen und kurzen Kanten auf und führt abwechslungsreich und zugleich homogen durch die wilde Felsformation am Due Laghi.