Die Cala Goloritzè ist für sich schon ein Ort mit einem gewissen Nimbus. Der Strand, der erst 1962 durch einen Erdrutsch in der heute auffindbaren Form entstanden ist, wird als Perle des Mittelmeers bezeichnet. Die enge, wilde und ursprüngliche Buch lässt sich nur über das Meer oder über eine (für viele emsig schimpfende Besucher offenbar nicht ganz triviale) Wanderung erreichen. Egal wie man es dreht und wendet – für einen Besuch müssen kleinere Mühen auf sich genommen werden und entsprechend exklusiv wird das Erlebnis.
Dafür wird man aber auch fürstlich entlohnt. Mit glasklarem Wasser. Einem fotogenen Felsbogen über dem Meer. Wilden Grotten, Höhlen und Wänden im Zustieg. Und – wenn man nach der “Wanderung” noch Saft (und Material) für eine Mehrseillänge hat:
Einem irrsinnigen Tiefblick vom Gipfel des formal schwierigsten Berges Italiens. Von der schmalen Spitze der mystischen Aguglia di Goloritzè. Der leichteste Weg auf den schwindelig freistehenden Obelisk führt über die Route “Easy Gymnopedie”, welche selbst bei konsequenter Ausnutzung von Schwachstellen in der Wand eine 6b von ihren Aspiranten fordert. Und da wir zufällig auf Sardinien sind und zufällig Klettersachen im Gepäck haben wird der Traum vieler auch zum Traum unseres kurzen Streifzugs über die Insel.
Und während wir uns wegen der Wanderung zur Cala Goloritzè wenig Sorgen machen, wissen wir dennoch, dass auch wir unser Ziel nicht ohne Mühen erreichen werden. Erst am Vortag haben wir im senkrechten Kalk ordentlich die Hintern versohlt bekommen. Tröstlich formuliert. Denn von maximal V+ und nur 5 Seillängen hatten wir Vieles erwartet – nicht aber den langen und harten Kampf, den vor allem Hannah gefochten hat um uns durch die Schlüssellängen und auf den Gipfel der Punta Carabidda zu manövrieren.
Die Absicherung an der Felsnadel über dem Meer ist sportlich und ein Rückzug ist jederzeit möglich. Wir können inzwischen ganz gut trennen, ob ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten nur für das Ego oder auch für Leib und Leben gefährlich werden kann. Letzteres bleibt zum Glück alpinen Zielen vorbehalten und ist an der Aguglia nicht unsere primäre Sorge. Zweifel bleiben trotzdem. Die letzten Tage auf Sardinien waren wunderschön aber gleichermaßen turbulent und kräftezehrend. Wenn wir wirklich zur “Easy Gymnopedie” aufbrechen, so ist das nach Via Edera, Giubileo, Zanahoria und Stupidi E Malprotetti unsere 5. Mehrseillänge in Folge und die Tage waren mit kurzen Nächten und langen Fahrten gespickt. Wir sind definitiv nicht mehr in bester Verfassung. Und wo die Arme nicht dicht machen, da wird es der Kopf tun. Wir klettern nicht nur am Limit dessen, was wir normalerweise am Fels abgespult kriegen, sondern laufen dazu noch einen Marathon.
Am Ende einigen wir uns auf einen Versuch. Wohlwissend, dass es wahrscheinlich nicht klappt. Einfach mal hinlaufen. Einfach mal erste Seillänge anschauen. Im Zweifel abseilen. Wahrscheinlich nicht wieder kommen.
Zustieg
Noch im Dunkeln schlüpfen wir aus dem Bett und in die stille Nacht. Als es dämmert haben wir schon den kurzen Gegenanstieg überwunden und wandern schweigend in das isolierte Tal. Rund 400 Höhenmeter steigt man hier ab um die Cala, den Strand am Ende des Tals zu erreichen. Folglich müssen diese nach einem ausgiebigen Bade- oder Klettertag auch wieder aufgestiegen werden.
Es ist gespenstisch still und über dem Meer liegt eine mystischer Nebel. Wir sind alleine hier und ehrlicherweise auch ein wenig unter dem Radar auf einen Wanderweg geschlüpft, für den man in der Hochsaison Tickets kaufen muss. Aber solang man nicht erwischt wird oder seine Taten später ins Internet schreibt, darf man ganz sorglos sein. Wir passieren Unterschlüpfe unter grotesken Blöcken zwischen mächtigen und alten Bäumen und kommen schnell voran. Wandern können wir.
Als die ersten, roten Sonnenstrahlen die umliegenden Wände treffen flacht das Tal langsam ab. Ringsum erheben sich raue Wände die von teils gigantischen Aushöhlungen durchlöchert wurden. Ein Architekt wäre mit solch extravaganten Ideen niemals durchgekommen, ein Künstler des Kitsches beschuldigt worden.
Und dennoch reiht sich an einem stillen, kühlen Morgen ein Spektakel an das Nächste. Übertroffen nur vom ersten Blick auf die Aguglia di Goloritzè. Das Kronjuwel eines natürlichen Kuriositätenkabinetts. Das Zentrum unseres Tages. Ein bisschen zu schön um wahr zu sein.
Das letzte Mal, dass ich beim Anblick einer Kletterei diese Form von Aufregung gespürt habe, war wohl an der Daumenkante in den Dolomiten. Damals war mein erster Impuls, als die wilde Felsnadel in der Langkofelgruppe am Horizont auftauchte:
Heute, viele Seillängen später, ist mehr Vorfreude als Nervosität dabei und die unverfälschte Euphorie der Anfänge kommt nur noch in seltenen und kurzen Momenten zum tragen. Eindrucksvoll ist dieses Stück Fels aber auf jeden Fall. Ganz schön steil. Ganz schön freistehend. Und aus der Nähe betrachtet…ganz schön hoch.
Der Routenname ist schwach angeschrieben / in den Fels geritzt und kann vom Weg aus kaum verfehlt werden. Er ist zumindest der erste, dem Weg zugewandte Anstieg in die Wand und führt von einem offensichtlichen Anseilplatz neben einem kleinen Bäumchen in 5 Seillängen auf den Gipfel der Aguglia. Wir verstecken einen Rucksack im Gebüsch (was wegen Diebstahl nicht oder nur sehr kreativ getan werden sollte) und starten mit etwas leichterem Gepäck und einem Rucksack für den Nachsteiger in die Wand. Anders als sonst, spielen wir heute Schere, Stein, Papier um den Vorsteiger der ersten Seillänge zu ermitteln. Ich gewinne. Oder verliere. Geschmacksache. Auf jeden Fall darf ich mir die erste Länge genauer ansehen.
1. Seillänge (6a)
Zu meiner Überraschung beiße ich mich durch. Die ersten Meter sind die härtesten der Länge und – auf die gesamte Route bezogen – die speckigsten. Ein schmieriger und äußerst trittarmer Fingerriss ist für einige Meter kräftig und mit wenig Abstand zum Bodensturz zu überwinden. Die Hakenabstände sind zwar in Ordnung und die Haken schauen für die Nähe zum Meer sehr fein aus – zwischen Ihnen muss aber anhaltend und teils kühn geklettert werden. Nullen dürfte hier fast schwieriger sein als ein freier Durchstieg der Kletterei und in den kommenden Längen wird sich dieser Eindruck noch weiter festigen.
Der Riss löst sich oben überraschend gut, aber erneut kräftig auf. Ich bin gut hochgekommen aber ordentlich am rauchen, als ich mich aus der steilen Wand und in etwas griffigeres und gestufteres Gelände ziehe. Die Route knickt hier leicht nach rechts ab und folgt einigen großen Blöcken und Schuppen bei etwas weiteren Hakenabständen und im zum Glück etwas raueren Fels. Macht aber richtig Spaß.
Ich versuche meinen Puls wieder ein bisschen runterzukriegen und arbeite mich langsam und konzentriert durch den griffigen Fels. Begeisternde Kletterei. Fest. Scharfe Kanten, teils verschwenderische Henkel und athletische Züge. Ab dem Fingerriss zum Stand wird es einfacher, vielleicht der obere 5. Grad. Aber der Einstieg war wirklich hart und von den nächsten drei Seillängen wird jede einzelne schwieriger sein als die wenigen Meter steiler Fels, die nun unter mir liegen.
Ich hole Hannah nach, die auch ordentlich ziehen muss um das Einstiegswändchen zu überwinden. Obwohl wir wenig darüber reden, ist uns beiden klar, dass es ein langer Weg zum Gipfel wird, den wir heute vermutlich nicht antreten werden. Immerhin – die perfekt gebohrten, mit Kette verbundenen und zum Abseilen eingerichteten Standplätze spielen uns in die Hände. Ein sicherer Rückzug ist jederzeit möglich. Und entsprechend reizvoll.
2. Seillänge (6b)
Für Hannah geht es in die Schlüsselstelle: Eine wenig ansprechende Platte führt irgendwie in ein löchriges, abdrängendes Dach. Wie es darüber weitergeht – keine Ahnung. Vermutlich steil. Flacher Fels ist rar an der Aguglia. Während ich mir vorher noch nicht sicher war, ob ich Schere, Stein, Papier gewonnen oder verloren habe glaube ich nun zu wissen, dass ich Hannah um ihre Position nicht wirklich beneide. Sie beißt sich an der Stelle ziemlich die Zähne aus. Die luftige, kleingriffige Platte unter das Dach ist kein Problem und auch den im Überhang befindlichen Bohrhaken bekommt sie an den kleinen, scharfen Löchern blockierend noch gut eingehängt. Dann fehlen Kopf und Biss für den ausgesetzten und weiten Zug ins Ungewisse.
Nach einigen Versuchen und naheliegender Frustration wechseln wir die Führung, wobei Hannah aber auch recht deutlich macht, dass sie eigentlich keine Lust mehr auf den Berg, die Tour und die Kletterei hat. Ich kann’s ihr nicht verübeln. Ich habe den Einstiegsriss auch mehr aus Zufall und vor allem mit kompromissloser Maximalkraft gehalten. Ein Manöver, dass ich so nicht noch einmal fahren kann. Der große Genuss ist bei mir auch noch nicht ausgebrochen und als ich das Stück über die Platte aufsteige, zweifle ich auch daran, dass ich hier ein Stück weiter komme. Denn während Hannah hier ziemlich souverän hochgestiegen ist, fürchte ich mich von einer Leiste zur nächsten bis es gar keine Leisten mehr gibt.
Man blockiert also irgendwie an einem winzigen, fragil wirkenden Felssteg auf der linken Seite und versucht seine Füße mehr dem Prinzip Hoffnung folgend so auf die Platte zu nageln, dass man ohne wegzufliegen an die scharfen Löcher unter dem Überhang reicht. Allein das ist je nach Körpergröße nicht ganz trivial. Und selbst mit Reichweite und dem Luxus der bereits eingehängten Sicherung brauche ich einige Anläufe, bis ich wirklich Bock habe mich dort festzuhalten und zu sehen wie es weiter geht.
Ich blockiere einige Male – natürlich wieder mit der kostbaren Ressource der Maximalkraft – das kleine Dachl und such hilflos mit der rechten Hand einen Griff darüber, lasse mich dann aber wieder ins Seil fallen. Irgendwie geht sich das nicht aus. Erst bei einem Versuch, der wahrscheinlich einer der letzten gewesen wäre, finde ich einen einzigen genialen Henkel leicht rechts über der Kante.
Wieder blockieren. Wieder Maximalkraft. Aber diesmal mit einem konkreten Ziel vor Augen. Der Haken über dem Dach. Die Kraft reicht, die Sicherung hängt. Ein letztes Mal mache ich Pause, hangel mich wieder hoch, erwische den Henkel und wuchte mich über den kleinen Überhang in eine von Rissen durchzogene Plattenzone.
Während irgendwo Freude und Erleichterung aufflammen kehrt gleichzeitig der Ernst des Lebens zurück und mit gemischten Gefühlen geht es weiter. Denn ab jetzt werden die Hakenabstände wieder weiter und die Stürze ungemütlicher. Die Schlüsselstelle ist sehr gutmütig abgesichert und die Seillänge wird danach einfacher. Aber auch nicht richtig leicht. Schon gar nicht für einen Jan, der gerade fast alle verfügbaren Ressourcen auf einen halben Meter Kalk verwendet hat.
Ich rufe Hannah noch zu, dass es hier nicht wirklich vorbei ist und ich jederzeit fliegen könnte. Dann arbeite ich mich durch die kurzweilig entspannte Plattenzone auf den nächsten Aufschwung zu. Ich würde sagen, der Rest der Länge spielt sich irgendwo konstant im unteren 6. Grad ab. Ein zweiter, kleiner Überhang stellt sich in den Weg, löst sich aber an perfekten Henkeln recht dankbar auf. Man landet links unter dem Standplatz in einer Rissspur / Verschneidung und folgt dieser mit einigen wohlüberlegten Zügen und Tritten in die angrenzende Platte zum Standplatz in einer kleinen Einbuchtung.
Ich hole Hannah nach und fiebere mit, als ich am Seil spüre wie sie den Überhang angeht und schließlich auch überwindet. Eigentlich geil. Als Hannah zu mir aufschließt überwiegen aber der Stress und die Zweifel und es fließen Tränen, was sonst meine Spezialität ist. Mir bricht es ein bisschen das Herz. Nicht weil ich jetzt unbedingt auf die Aguglia will – im Gegenteil. Die Idee zu der Tour entstammt mehr Hannah’s Federführung als meiner und ich hab heute eine irritierend entspannte Haltung. Zu allem. Was soll, das soll. Was nicht, das nicht. Aber mir tut es unfassbar Leid, dass sich Hannah gerade absolut nicht an unserer Lage erfreuen kann. Ich kenne das Gefühl. Das Verlangen einfach weg zu wollen. Keine Lust auf steilen Fels. Keine Lust auf die Konfrontation mit den eigenen Schwächen.
3. Seillänge (6b)
Keine Ahnung welchen Schalter Hannah umgelegt hat, um in dieser Situation zu dem Entschluss zu kommen, die folgende Seillänge vorzusteigen. Auf dem Papier ist sie genau so schwierig, wie die vorherige. Vor uns liegt eine nahezu senkrechte Platte, die sich in einem feinen Fingerriss verliert, der diagonal von links nach rechts in mutmaßlich leichteres Gelände führt. Unter uns die wahnsinnigen Wolken, das türkisfarbene Meer und um uns die bizarren Stille an einem Ort, der paradiesischer nicht sein könnte.
Ich borge mir heute einige Zitate aus unserem Kletterführer, dessen Autor bei der Einleitung zu diesem Ziel mit einer auffälligen und ganz gewiss voreingenommenen Wortgewalt arbeitet.
Hannah löst die Seillänge. In einer Schönheit und Ruhe, die so gar nicht zu ihrer Verfassung am Standplatz passt und die ich im Nachstieg nicht nachvollzogen bekomme. Ich muss einen Zug nullen, weil ich meinen Füßen nicht vertraue. Davon weiß meine Seilpartnerin bis heute nichts. Aber vielleicht liest sie es ja hier und fühlt sich nochmal kurz rückwirkend auf die Schulter geklopft.
Mit der nicht wirklich naheliegenden Entscheidung hier weiter zu gehen dreht sich alles. Hannah’s Feuer und Begeisterung ist zurück und brennt gefühlt heller als je zuvor in diesem Urlaub. Von mir fällt einige Anspannung ab und ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus. Über die Landschaft und die Person, die eben das Ticket für einen noch besseren Blick auf die Landschaft gelöst hat.
Die filigrane und kleingriffige Platte erfordert ein paar weite und mutige Züge und präzise Tritte und mündet auf einer kleinen Schulter. Hier führt nochmal eine henklige aber unglaublich exponierte Einzelstelle über einen kleinen Bauch auf ein Band mit Standplatz. Alles was jetzt kommt wird einfacher. Ich habe noch eine 6a zu lösen bevor Hannah uns mit einer längeren 5c an den Gipfel führt. Wir sind hier.
4. Seillänge (6a)
Immer noch fließen dünne Nebelfelder vom Meer in das Tal und die Berge ringsum. In ihnen thront, teils von farbigen Lichtreflexen umspielt, der eindrückliche Schatten der Felsnadel, an der wir gerade rumturnen. In einem Video halte ich es passend fest:
Vom Standplatz weg geht es kurz spannend über einen weiteren, abdrängenden Bauch. Ich gehe ihn etwas von rechts an und nutze dafür kurz eine wackelige Schuppe. Darüber lege ich die einzige mobile Absicherung des Tages – eine Sanduhr ist einfach zu schön um wahr zu sein und überbrückt einen etwas weiteren Runout in einfacherem, plattigen Gelände. Kurz ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass wir es ja nun eh gleich geschafft haben.
Aber nur wenige Meter später klemme ich ziemlich unentspannt über einem Schlaghaken in einer vagen Verschneidung und bereue jeden vorherigen Gedanken, der dazu geführt haben könnte, dass ich hier einen Hauch weniger fokussiert bin.
Spätestens ab einem Band mit Baum zieht die Länge nochmal reichlich an und muss sich vor den bisherigen Klettermetern nicht verstecken. Von rechts her erreicht man eine verschneidungsartige Einbuchtung. Was zunächst noch recht einfach und griffig scheint endet rasch in einem sehr ungemütlichen Spreizschritt, der wahrscheinlich in einem Bodensturz auf das Band Enden würde. Ich rangiere etwas umher und entschließe mich schlussendlich die Einbuchtung nach links auf einen höllisch luftigen Pfeiler zu verlassen. Hier geht es an guten aber kleinen und kühnen Griffen empor. Eine spektakuläre Länge mit einigen sehr interessanten Einzelstellen, die sich so im Detail gar nicht wiedergeben lassen.
Inzwischen hat sich der Strand gefüllt und immer wieder reichen aufgeregte Rufe und Blicke zu uns hinauf. Vorbeifahrende Boote winken und jubeln, sobald ich ihr Winken erwidere. Eine neugierige Drohne umkreist den Turm und unsere Versuche hier in Ruhe Strandurlaub zu machen. Man könnte sich an dem Trubel stören. Mich persönlich lässt er aber sehr kalt. Wir sind zu weit weg und zu wenig erreichbar für das bunte Treiben. Wir sind allein. Losgelöst.
5. Seillänge (5c)
Wir wechseln ein letztes Mal die Führung und Hannah arbeitet sich durch die raue Platte nach rechts an die Nordwestseite der Aguglia. Im selben Moment kriecht die Sonne, welche wir auf der Nordseite des Felszapfens heute noch nicht gesehen haben über die Kante. Ich ertappe mich bei einem Gänsehautmoment und den Tränen nahe – ein Zustand, dessen letztes Eintreten nun fast zwei Jahre zurückliegt. Damals war es der Torre Delago, der in seiner Silhouette einige Merkmale mit der Aguglia teilt. Zwischen den beiden Touren liegen aber Welten und eine nicht überschaubare Zeit.
Auf jeden Fall verharre ich in stiller Verwunderung über das Leben, den heutigen Tag und die Launen der Natur. Bis Hannah aus meinem Blickfeld verschwindet und ich nur noch mutmaßen kann, wie es sich für sie anfühlt, alleine und nach einigen Höhen und Tiefen auf den exklusiven Gipfel zu steigen.
Ich steige nach. Die Seillänge ist nochmal trick- und abwechslungsreich. Eine löchrige, scharfe Platte in der man viele Griffe und Tritte findet wird nach rechts traversiert. Besagte Griffe sind aber gleichmäßig klein und messerscharf. Kein völlig angenehmes Gelände – untermalt von einem berauschenden Tiefblick. Man passiert eine große, hohle Schuppe, die an die von Sardinien und Korsika bekannten Tafonis (ganz wild erodierter Granit) erinnert. Von hier geht es nach rechts sehr luftig in eine Verschneidung, die man über eine Rippe gewinnt, die recht eigenartig auf Gegendruck in die Zange zu nehmen ist. Ich brauche einen Moment um aus den erforderlichen Bewegungen schlau zu werden und mir einmal kräftig zu überlegen, ob ich dafür noch Kraft und Lust übrig habe. Die Wanderlust überwiegt.
Es folgen paradiesische Henkel an bombenfesten und verschwenderisch griffigen Platten und Schuppen. Und der beste Henkel wartet ganz oben. Der letzte Zug auf den Gipfel ist ein Fest. Wir stehen auf der Aguglia di Goloritzè. Irgendwo zwischen senkrechtem Kalk und dem kristallklaren Mittelmeer.
Ich denke meine teils blumigen Formulierungen und die noch viel stärkeren Worte von Maurizio Oviglia reichen, um das Gefühl dieses Gipfels zu erahnen. Am Ende ist es aber wie Vieles hier. Worte und Bilder können Bruchteile des Erlebten transportieren und erneut erlebbar machen. Für uns etwa – in einer Zukunft, in der die Einzelheiten und die Aguglia selbst immer mehr verblassen werden. Für Freunde oder interessierte LeserInnen, die ein paar Eindrücke für ihren eigenen Moment auf der Aguglia sammeln. Aber das Jetzt gehört nur uns. Und das auch nur für einen unglaublich endlichen Moment.
Abseilfahrt
Abgeseilt wird über die Route Sole Incantatore, die der direkteren Nordwand folgt und direkt aus den Platten über dem Strand hinaufzieht. Am Gipfel gibt es einen Abseilstand und einen weiteren, wenige Meter unter dem schmalen Gipfelaufbau auf einem Band. Wenn viele Seilschaften an der Aguglia unterwegs sind, kann es hier sicher zu spannenden Szenen kommen. Platz ist eigentlich nur für eine, maximal zwei Seilschaften. Und obwohl der Gipfel nicht so exponiert oder schmal ist, wie ich erwartet hatte, ist die Logistik hier oben nicht ganz einfach.
Nachdem wir uns sortiert haben warten wir noch die zweite Seilschaft des Tages ab um sie nicht direkt im Ausstieg mit unseren Seilen zu bewerfen. Ein Deutscher mit Bergführer, die aus der Sole Incantatore kommen. Wir überlassen ihnen gerne den Gipfel und werfen unsere Seile in die Tiefe. Dann rauschen wir in 2 langen und einem etwas kürzeren Abseiler über das Plattenmeer hinab. Mit 60 Meter Halbseilen ist der Boden rasch erreicht. Einige Stände überspringen wir. Man darf aber festhalten, dass man hier wirklich problemlos und auch mit etwas kürzeren Seilen runterkommt und allenfalls auf andere Kletterer Acht geben muss.
Unten läuten wir endlich den Badeurlaub ein, wobei es schwer ist den Blick von der Aguglia zu nehmen oder sich das stetige Grinsen zu verkneifen. Schwindelig steil sieht sie aus. Wir machen alle Stellen aus. Der Überhang, der uns ein bisschen gebrochen hat. Die Platte, die uns ein bisschen repariert hat. Mein unverhofft schweres und luftiges Manöver neben der Einbuchtung. Der Gipfelaufbau mit seinen geneigten Platten.
War es ein “Once-in-a-lifetime experience”? Absolut Ja! Wäre da nicht diese Sole Incantatore…
Nach der Aguglia legen wir einige Pausetage ein und verarbeiten den wilden Ritt, den der Beginn des Urlaubs dargestellt hat und der in dieser Felsnadel seinen Höhepunkt gefunden hat. Wir haben gelacht, geflucht und viel gelernt. Nur einer hat die Zeit nicht optimal überstanden:
Unser in Arco eroberte Feigentrieb “Groot” schaut gar nicht mehr so gut aus, nachdem er in unserer Abwesenheit im Bus ordentlich knusprig gebraten wurde. Der kriegt jetzt einen Topf und Erde und dann wird das alles super. Und wir kriegen jetzt Crodino und Pfannkuchen. Und dann wird das bestimmt auch alles super.
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Die Easy Gymnopedie war für uns an dem Tag und in der Verfassung zwar an der Grenze des Machbaren – rückblickend war aber keine Stelle übermäßig schwer oder nicht dem Schwierigkeitsgrad entsprechend. Bis auf den ersten Metern hält sich die Politur in Grenzen und der Fels ist extrem fest, griffig und teils auch begeisternd rau. Die Schwierigkeiten sind sehr anhaltend irgendwo in der Größenordnung 6a mit wenigen leichteren und schwereren Unterbrechungen. Die Schlüsselstellen oder das was wir dafür gehalten haben sind sehr unterschiedlich und decken von Rissen, über Plattenpassagen und Überhang eine recht große Reichweite an Kletterstilen ab. Nur 5 Seillängen messend ist die Kletterei definitiv extrem abwechslungsreich und abschnittsweise überraschend bis begeisternd.
Die Absicherung ist gut, die Stände verbunden und zum Abseilen eingerichtet (was aufgrund der etwas verwinkelten Linienführung aber nicht der Direttissima über die Sole Incantatore vorgezogen werden sollte). Die Haken wirken trotz Meeresnähe sehr gut und sind an vernünftigen Stellen in vernünftigen Abständen anzutreffen – Plaisir ist aber anders. Mir fallen einige Ecken ein, an denen ein Sturz ausgeschlossen werden sollte und mit mobiler Absicherung nicht allzu viel zu holen ist. Es macht auf jeden Fall Sinn, etwas besonnen zu klettern, wenn man nicht meilenweit über den Schwierigkeiten steht. Besonderes Material braucht es folglich nicht – Helm, Halbseile, Exen und vielleicht ein paar Schlingen, die man dann wahrscheinlich nicht verwenden wird.
Zusammenfassung
’nuff said