Biddiriscottai – Zanahoria (6a+)
Biddiriscottai – Zanahoria (6a+)

Biddiriscottai – Zanahoria (6a+)

Aber wofür sind Tauben?
Ich meine können die was?

Das Lumpenpack, 2017

Sie können wie fallende Steine klingen. Und den Sch(m/w)ierigkeitsgrad von Kletterrouten erhöhen. Zumindest, wenn man darauf bedacht ist, den elegantesten Weg zwischen ihren Hinterlassenschaften zu finden. Nennen wir es einfach Kacke.

Morgähn

Während wir den Morgen auf den Platten der Giubileo genossen haben, genießen wir den Abend und die Nacht auf den Platten des Decks einer Fähre nach Sardinien. Eigentlich dachten wir, dass wir nach einer rustikalen Biwaknacht auf dem Fährendeck nicht wirklich für eine ernstere Kletterei am Folgetag geeignet sind. Aber als wir zum Sonnenaufgang in Olbia einfahren, sind wir überraschend fit. Erholt könnte man fast sagen. Bei minimalem Wind, angenehmen Temperaturen und dem meditativen Brummen der Motoren lies es sich wirklich aushalten.

Wir bleiben an der Ostküste und zielen zunächst auf den Süden ab. Ein richtig straffes oder festes Programm gibt es nicht – eher eine grobe Wunschliste und dazwischen relativ kurze Wege. Wir wollen irgendwas an der Küste klettern, dem Supramonte-Gebirge einen Besuch abstatten und die legendäre Aguglia di Goloritzè erklimmen. Als wir reichlich früh und reichlich frisch im wunderschönen – zur Nebensaison aber auch komplett ausgestorbenen – Cala Gonone ankommen steht das Tagesprogramm fest:

Wir hatten beim Schmökern des Kletterführers eine ziemlich interessante Linie gefunden, welche durch Tunnel in einer senkrechten Klippe führt. Hannah hat sich dann getraut einen Post-It einzukleben und damit war die Sache klar. Wo ein Post-It klebt, da wird geklettert! Ich habe auch Lust, mir die Route und den versteckten Traumstrand an den gewaltigen Grotten anzuschauen – bin bezüglich der Kletterei aber vorsichtig optimistisch. Mein letztes Mal am Küstenkalk war ein etwas fragliches Erlebnis. Harte, rutschige und auf spezielle Weise unzuverlässige Kletterei gepaart mit korrodierten Bohrhaken und rustikalen Umlenkern. Da wir auf Sardinien noch nichts geklettert sind, haben wir auch keine wirkliche Referenz für 6a+. Normalerweise wird das mit VII- übersetzt, was ziemlich genau unser bisheriges Limit in Mehrseillängen ist und zumindest von mir bislang fast nie sauber und ohne Hänger geklettert wurde. Unser Kletterführer weißt ferner darauf hin, dass die in der Zanahoria verwendeten Borhaken von der berüchtigten galvanischen Korrosion in Meeresnähe betroffen sind. Bis zu dem Grad, dass ausdrücklich darauf hingewiesen wird, diese zu Prüfen und niemals einzeln zu belasten.

Klingt ernst.

Nach einiger Recherche finde ich einen Kommentar im Netz, der sich für die gute Sanierung mit Klebehaken bedankt. Und dieser kleine, zufällige Netzfund wird ein wenig zum Ticket für den Marsch zu den Klippen. Mit sanierten Haken und Fokus auf die Kletterei ein vertretbare Wagnis. Und die Zahlen stimmen auch. “Nur” 140 Meter Kletterlänge. “Nur” 5c obligatorisch. Und “nur” drei schwere Seillängen.

Klingt nicht mehr so ernst.

Um jedes Klischee zu erfüllen schwimmen ein paar Delfine vorbei.

Zustieg

So einfach der Zustieg auf einer breiten Schotterstraße beginnt, so schnell entpuppt er sich zu einem kleinen Giftzwerg. Wir starten an der ersten scharfen Kurve der Panoramica kurz vor (oder hinter) dem Ortseingang nach Cala Gonone. Die Schwierigkeit bestand für uns vor allem darin abzuschätzen, wann man oberhalb der großen Grotte ist und ab wann man einen Pfad durch die Klippen suchen darf. Immer wieder führen ganz vage Pfadspuren nach rechts in die zornige Macchia – viele sind aber vielleicht auch nur ein Ergebnis großer Ungeduld und Kreativität. Man befindet sich auf der Straße konstant 150 Höhenmeter über dem Meer und hat keinerlei Einblick in die irgendwo im Buschwerk abbrechenden Klippen. Fälschlicherweise haben wir uns dabei auf die “Grottone di Biddiriscottai” eingeschoßen, welche auch in Google-Maps eingezeichnet ist. Der Name fällt nämlich auch in unserem Kletterführer. Tatsächlich wollen wir aber zur “Grotta di Millennium”.

Das wissen wir aber noch nicht und schlagen uns testweise in einem Flussbett, welches wir als potentielle Schwachstelle in den Klippen vermuten ins Gestrüpp. Nach 50 Metern geben wir den durchaus ambitionierten Versuch auf – das kann so nicht stimmen.

Reichlich verwirrt trotten wir auf der Schotterstraße weiter durch die brüllende Hitze und sind uns sicher, dass wir an unserem Ziel schon längst vorbeigelaufen sind. 1,7 Kilometer von der Kurve entfernt knickt die Straße ein weiteres Mal nach links vom Meer weg ein und führt unter ein paar hübschen Bergen in eine Einbuchtung und diesmal in eine tatsächliche und offensichtliche Schwachstelle. Und wenig später finden wir rechterhand einen ausgetretenen, offensichtlichen und mit Steinmännern markierten Pfad.

Wir folgen dem Pfad und stehen plötzlich vor einem Abbruch. Ein Stück gegenüber lächelt uns tatsächlich die Millennium-Grotte an, neben der wir auch unsere Klippen vorfinden werden. Der Weg dahin ist aber zunächst unklar. Zwar lädt hier eine ziemlich gute Abseilstelle zum Seilwurf ein, da wir aber überhaupt nicht wissen wie es unten weitergeht und unser Kletterführer dieses Detail (wie viele andere) verschweigt, sind wir skeptisch. Hannah steigt einige Meter auf und findet eine zweite Pfadspur, die nach Süden in die Klippen führt und ein Blick ums Eck zeigt ein Fixseil.

Zack feddich!

Was folgt empfinde ich persönlich als ziemlich grenzwertig. Ich kann mir auch nicht wirklich vorstellen, dass im Sommer reichlich Badegäste die Bucht über diesen Weg erreichen. Und vor allem, dass dies ohne Unfälle vonstattengeht. Kurzum, das Fixseil ist zwar in Ordnung, führt aber in unheimlich exponiertes, sandig-rutschiges und abschüssiges Gelände. Eine große Hilfe ist es mangels Seilspannung nur an wenigen Stellen und den einen oder anderen Knoten und Haken möchte man gar nicht zu sehr belasten. Dazu haben Klippen zumindest bei mir eine viel drastischere Höhenwirkung als Wände oder Grate im Gebirge. Obwohl es hier “nur” 100 Meter runtergeht, finde ich den Tiefblick erstmals seit langem wieder richtig schwindelig. Mit meinen Zustiegslatschen, die auch schon ohne größere Einbußen im oberen V. Grad unterwegs waren, gefallen mir die glatten Platten und sandigen Stufen überhaupt nicht.

Das Fixseil bietet allenfalls moderate Hilfe an

Hannah geht es ein gutes Stückchen besser und ich denke bei mir war an diesem Tag einfach mental ein wenig der Wurm drinnen. Ich hätte mir hier aber weniger vorgestellt und gewünscht. Und bleibe dabei, dass ich den Zustieg auch ohne den Filter subjektiver Ängste als ziemlich wild und vor allem folgenschwer beurteilen würde. Logisch – als Kletterer kommt man hier gut runter. Hat aber auch einen Blick für die Qualität der Haken und des Fixseils. Einfach mal so mit Alltagsschuhen um die Grotta zu bestaunen: Respekt.

Wir erreichen wieder Gehgelände und halten uns nach Süden auf die steilen Klippen zu. Immer den Wänden folgend passieren wir noch ein paar überhängende Sportklettereien im korallig-roten Küstenfels und landen wenig später komplett allein auf einem kleinen Felsvorsprung auf Meereshöhe unter den Wänden. Die Routen – wenn auch im Kletterführer falsch eingezeichnet – ist schnell ausgemacht und folgt einer Reihe von glitzernden Punkten, die wir mit neugierigen Blicken schon aus der Ferne als Klebehaken ausmachen. Jackpot?

Badeurlaub

Ich schlepp doch keine Badehose, Flossen und Taucherbrille durch eine Mehrseillänge, um mir dann nicht wenigstens einen Fisch anzugucken.

Das Mittelmeer ist Anfang April noch ziemlich erfrischend. Nach dem erdrückenden Zustieg in der prallen Sonne aber eine willkommene und kurze Abwechslung. In der Sonne liegend vergesse ich fast, dass wir noch klettern wollen. Spätestens wenn man kurz die Augen öffnet, ist sie aber wieder da. Die wilde und vertikale Linie durch die Löcher in der Klippe. Und das Rack Friends neben den Flossen. Davor das türkisfarbene Meer, sein sanftes Rauschen und sonst…Stille. Dass wir in der abgeschiedenen Bucht kein Netz verstärkt diesen Eindruck.

Als wir uns langsam vorbereiten stelle ich meinen Rucksack auf den Kopf und muss feststellen, dass ich meinen Lieblingsgegenstand vergessen habe.

F***, ich hab keinen Helm dabei

Wir wägen ab. Ich wäge ab. In einer anderen Wand wäre das ein definitives Umkehrkriterium für mich gewesen. Ich bin – selbst im überhängenden Klettergarten – immer der eine Depp mit Helm. Und stehe dazu, nachdem ich schonmal Ersthelfer bei einer argen Kopfverletzung durch einen 1 Meter Sturz war und in den Oben-Ohne-Sommer-Sonnenplatten Scharnitz regelmäßig mit faustgroßen Blöcken geduscht werde. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass in diesen Breitengraden kaum jemand mit Helm klettert und oft argumentiert wird, dass man sich ohne Helm viel freier fühle. Zähneknirsch – mal gucken wie frei das wird. Ich habe auf jeden Fall auf dem Zettel, dass ich heute besonders vorsichtig klettern werde. Die Wand ist zumindest so steil, dass wir von Steinschlag aus der darüberliegenden Macchia nicht bedroht sind und andere Kletterer sind auch nicht unterwegs.

1. Seillänge (4c)

Hannah steigt – wie das Gesetz es will – in die erste Seillänge ein. Dabei ist nur ein kurzer Konglomerat-Vorbau zu überwinden, der enorm einfach ist, sich aber auch nicht sinnvoll absichern lässt und kein fixes Material enthält. Wenigstens hebt die komisch raue, geklebte und blockige Konstruktion mehr, als man in der Draufsicht erwarten würde und Hannah ist flott und sicher am nicht vorhandenen Sanduhrstandplatz. Stattdessen wird es ein vages Köpfl. Auf dem Absatz unter der eigentlichen Wand kann man aber recht angenehm stehen und so hat der Standplatz ohnehin eine mehr symbolische Wirkung. Ich steige nach.

2. Seillänge (6a)

Mir fällt die erste “schwere” Seillänge zu, welche durch eine kompakte, helle Wandzone führt. Ich quere nach links und fange den ersten soliden Klebehaken ein. Dann den zweiten. Dann den dritten. Die Zuversicht wächst – die Absicherung ist wirklich fein und eng. Der Fels, die feinen Leisten und Löcher und die kleinen Tritte sind rutschiger und schwitziger als man es von daheim kennt. Vieles sieht brüchig aus oder nur wie angeklebt – nach einigen Metern lernt man aber den etwas andersartigen Felsstrukturen zu trauen und diese voll zu belasten. Und dann klettert es sich wirklich schön. Griffig und steil, aber gut lösbar.

Die Kletterei führt in einen kurzen Riss, der sich mit etwas Piazen gut überwinden lässt und dann in kurzweilig leichteres Gelände auf einem schmalen Absatz. Von hier wird ein zweites, steiles Wändchen erklettert das ein paar athletischere aber gute Griffe verknüpft. Unmittelbar vor einer Kante hinter der sich der Standplatz verbirgt wird es nochmal schwer. An sehr kleinen, rutschigen Griffen muss ein Stück nach links gequert werden um sich in die Delle mit dem Standplatz schieben zu können. Zum Glück gibt es etwa auf Brusthöhe noch eine größere, griffige Schuppe als Gegenpunkt zu den kleinen Leisten auf der linken Seite.

Ich schiebe mich rüber, verlagere das Gewicht nach links, höre ein lautes Knacken und fliege mitsamt Schuppe im hohen Bogen aus der Wand.

Die Route ist gerade etwas schwieriger geworden.

Mein Sturz endet kurz über dem Absatz während der Griff weiterfliegt und am Grund der Klippen zerspringt. Mein trockener Kommentar erstaunt mich selbst kurz. Das war mein erster richtiger und völlig unbeabsichtigter Vorstiegssturz. Die Schuppe war dermaßen abgegriffen, dass ich sie nie großartig hinterfragt hätte und die Vorbereitungszeit auf den Flug war minimal. Hannah, die am Stand ein paar mehr Schrammen abbekommen hat, wirkt schockierter als ich.

Das Momentum der inneren Leere und Ruhe nutzend steige ich direkt wieder an die Querung hoch, rufe runter, dass es jetzt nochmal schwer wird, und löse die kleingriffige Stelle ohne Schuppe auf.

Staaaand

Hannah steigt souverän nach und erreicht meinen Standplatz in einer kleinen, von Tauben und Möwen vollschissenen, Nische unter der ersten Höhle. Über uns lauert die Schlüssellänge. Und ein paar wütend guckende Möwen.

3. Seillänge (6a+)

Am Stand gibt es eine Sammlung alter Bohrhakenreste zu bewundern – wir sind durchaus froh um die feinen Klebehaken, die unsere Kletterei absichern. Es wurde hier wirklich mit Aufwand saniert ohne dabei mehr Haken hinzuzufügen. Soll heißen: neben jedem korrodierten Bohrhakenstummel ist nun ein neuer Klebehaken. Sportklettern sieht aber anders aus, wie wir gleich lernen werden.

Hannah steigt vor und erreicht rasch einen offensichtlichen aber glatten Quergang unter einem löchrigen Überhang. Eine fixe Sanduhr macht einen ganz guten Eindruck, daneben kann man hier auch noch weiteres Schlingenmaterial unterbringen. Die tiefen Löcher und Sanduhren sind zwar sehr griffig und scharf, teilweise aber auch besorgniserregend fragil. Wahrscheinlich färbt mein Flug aus der vorherigen Seillänge aber auch noch etwas auf unsere Vorstiegsmoral ab.

Die größte Herausforderung sind aber die Füße, die auf dem glatten, luftigen und leicht nach unten geschichteten Kalk kaum Halt finden und ständig ohne Vorwarnung abschmieren können. Die Rettung ums Eck ist dann ein relativ weit entfernter aber unfassbar guter Henkel. Um ihn zu erreichen muss man aber durchaus kühn um die Kante greifen und dabei an sehr zarten Sanduhren und Henkeln blockieren. Nach einem Hänger findet Hannah den Henkel und kann sich ins etwas leichtere Gelände unter der Höhle schieben. Dann verschwindet sie in dem dunklen Spalt, steigt nach und nach höher und erreicht irgendwann den Standplatz – wobei Kommunikation bei dieser Wegführung, dem Rauschen des Meeres und inmitten kreischender Möwen eh beinahe unmöglich ist.

Ich steige nach und stelle fest, dass der Quergang in der Praxis wirklich nochmal kniffliger ist, als er aussieht und ich im Vorstieg definitiv auch einen Hänger gehabt hätte. Ohne den Henkel auf der Rückseite des Überhangs zu kennen ist hier wirklich glatte, luftige und kühne Kletterei gefragt. Im Tunneleingang wird es dann etwas leichter, wobei die größten Griffe und Kanten mit zentimeterweise Vogelkot überdeckt sind. Die Schwierigkeit ist also nicht nur vom Fels vorgegeben – sondern auch davon wie sehr man die dreckigen Griffe und Tritte umgehen möchte. Mit deutlich reduzierter Auswahl schiebe ich mich durch den Kamin. Die Kletterei ist hier nicht richtig schwer, bleibt aber glatt und unübersichtlich. Mit etwas Besonnenheit, Stemmen und Suchen lässt sich der Tunnel aber gut durchsteigen. Im Vorstieg muss hier aber absolut sicher geklettert werden und Stürzen ist verboten. Die Hakenabstände sind groß genug, um sich mächtig weh zu tun.

Am Ende des Tunnels erreicht man einen schmalen Grat und verlässt diesen in ein löchrig-vertikales Wändchen. Meine Arme sind bereits dermaßen dicht, dass ich hier keine wirkliche Chance und ziemlich viel Respekt für Hannah’s Vorstieg habe. Zumal es hier auch einen weiteren brauchbaren Runout über einem sehr mittelprächtigen Schlaghaken gibt. Dann führt auf den letzten Metern eine diagonal ansteigende Serie an Löchern und feinen Rissen in den zweiten Tunnel. Es ist luftig, trittarm und abdrängend. Ich bin mit absoluter Maximalkraft eher am Robben als am Klettern.

Hartes Zeug!

4. Seillänge (6a)

Auf dem Weg habe ich mir meinen Finger an einer Kante etwas geschnitten. Nicht weiter kritisch – in Kombination mit der allgegenwärtigen Vogelscheiße gefällt mir die Situation aber nur so mäßig. Am Stand angekommen gibt es erstmal ein bisschen Tape und Trauer um das vergessene Desinfektionsmittel und ich gehe die 4. Seillänge an. Die letzte schwierige laut Routenbeschreibung. Eigentlich eine kleine Wand, in der wir uns da befinden. Aber steil, anhaltend und facettenreich. Und zu den Facetten gehört auch gruseliges Vogelflatterzeug, das lautstark in die Tunnel rauscht.

Am folgenden Aufschwung, der direkt steil vom Stand weg führt beiße ich mir die Zähne aus, verliere das Tape wieder und geben nach dem wahrscheinlich 10. kläglichen Versuch auf. Die glatte Wand mit einer unübersichtlichen und kleingriffigen Rissspur auf ihrer linken Seite geht sich nicht aus für mich. Mir fehlt Kraft, Nerv und ein versteckter Henkel im oberen Teil. Wir wechseln die Führung und Hannah rettet den Tag, indem sie die Stelle überwindet.

Am Ende der 4. Seillänge, Ausgang aus dem 2. Tunnel

Nach oben geht es dann langsam wieder schöner aber immer noch steil und schwer aus dem Tunnel hinaus. Dann wird ein kleiner, luftiger Pfeiler frontal erklettert, den Hannah im oberen Teil mit einem #2 Friend zusätzlich absichert. Eine gute Idee. Der letzte Haken am Ende des Tunnels würde einen “Bodensturz” auf den Tunnelausgang nicht abbremsen oder mildern. Ich schließe auf, bin leicht gestresst aber vor allem happy, dass Hannah hier heute wesentlich mehr Biss hatte als ich und der Route wirklich mit anhaltend starker Kletterei begegnet ist.

5. Seillänge (5b)

Nachdem Hannah eingesprungen ist fällt mir die letzte richtige Seillänge zu. Ich gehe sie an. Luftig vom Stand weg um die Ecke. Bohrhaken. Klick. Aber ein alter und rostiger. Von den hübschen Klebehaken keine Spur mehr. Vor mir baut sich eine lange und reichlich exponierte Rissverschneidung auf und ich bin heilfroh über die Friends an meinem Gurt. Stück für Stück arbeite ich mich hoch, bringe einige Zwischensicherungen zu den alten Bohrhaken an und erreiche den letzten Standplatz. Unter anderen Umständen wäre das eine ziemlich feine, homogene Länge mit ziemlich interessanter Kletterei, einigen tollen Rissen und kurzen, kühnen Plattenmomenten. Dazwischen immer wieder hübsche Absätze und Ruhepositionen. Ich bin für heute aber durch.

Hannah steigt nach und da die Sonne schon hinter den Klippen verschwunden ist wird die Luft langsam kälter und das Meer unter uns dunkler.

Feierabend

Die Route entlässt uns in das, was wir spontan “Garten Eden” taufen. Vor uns liegt ein Kessel mit unübersichtlichem Schrofengelände, großen Kalkblöcken, blühenden Blumen, intensiven Gerüchen und genügend Dornen. Aus der Nähe gesehen gar nicht mehr so paradiesisch.

Ausstiegsgelände (freie Wegwahl, ca. IV)

Hannah steigt nochmal am Seil vor – wahrscheinlich hätte man diesen Abschnitt aber auch einfach seilfrei angehen können. Wahrscheinlich hätte man sich auch eher rechts über einen sichtbaren und griffigen Pfeiler halten müssen. Hannah strebt nochmal in schweres Gelände und verknüpft ein paar raue Platten zwischen schmerzhaften Büschen bis zu einem Köpflstand. Ich kann mir nicht verkneifen ein wenig zu meckern, dass es rechts bestimmt schöner gewesen wäre. Ziel ist auf jeden Fall die Senke leicht rechtshaltend zu verlassen und dann in einer vagen Rinne über Blöcke und kurze Kraxelpassagen zu verlassen. Früher oder später, schneidet man einen Pfad mit Steinmännern, der dann rasch und weniger rustikal als befürchtet zurück auf die Schotterstraße führt.

Und so stolpern wir rund 80 Höhenmeter nach Verlassen der Zanahoria zerkratzt aber glücklich aus der Macchia und schlendern in der Abendsonne zurück in Richtung Cala Gonone. Ein ziemlich wilder Tag in einer erinnerungswürdigen Wand.

Die, auch Macchia oder Maquis, ist eine sekundär entstandene, anthropogene, immergrüne Gebüschformation der mediterranen Hartlaubvegetationszone

Wikipedia

Jup. Hartes Laub gibt es da durchaus. Aber wir waren härter. Und haben uns die Campingplatzdusche reichlich verdient.


Schwierigkeit, Versicherung und Material

Irre Kletterei, die ich in Summe als relativ ernst wahrgenommen habe. Die Haken – in den schweren Seillängen in bester Qualität und geklebt – sitzen nicht überall so dicht, wie es in der ersten schweren Länge noch scheint. Es reicht zwar für einen relativ sicheren Durchstieg, einen Selbstläufer oder chilliges Sportklettern gibt es hier aber nicht. Die Kletterei ist oft schmierig, dreckig und ausdauernd kräftig – an nicht überall verlässlichem Fels. Gerade in und hinter den Tunneln lassen sich mit wenig Kreativität ein paar extrem unschöne Sturzszenarien erdenken. Ein Vorsteigersturz muss auf längeren Abschnitten absolut ausgeschlossen sein – ernstere Verletzungen sind vorprogrammiert. Teil der Risikokalkulation sollte dabei auch sein, dass wir in der wilden Klippe keinen Handyempfang hatten und es keinen schnellen Zugang auf dem Landweg gibt.

Die Kletterei ist von begeisternd bis schmuddelig-sketchy sehr variabel. Die Linie fast immer sehr ausgesetzt, anhaltend und spektakulär. Ich muss aber ehrlich anerkennen, dass uns die sanierten Haken ziemlich den Tag versüßt haben. Mit korrodierten Rostgurken in der Wand wären wir einen Schritt zu weit gegangen und einen Hauch zu dicht an der Sturzgrenze geklettert. Zumindest hätte ich mir hinterher nicht vormachen können, dass das eine absolut vernünftige und sichere Begehung war. Gerade im schwierig-schmierig-athletischen Mittelteil gibt es auch nicht allzu viele Möglichkeiten mit mobiler Absicherung nachzubessern. Spätestens in der Ausstiegslänge war ich dann ohnehin froh um die Friends an meinem Gurt. Die Verschneidung ist lang, recht luftig und nicht allzu banal – bei nun wirklich relativ dünner und vor allem schlechter (alte, teils rostige Bohrhaken) Absicherung. Auch mit Routenkenntnis würde ich aktuell nicht ohne 3-4 Klemmgeräte zwischen 0.5 und 2 einsteigen und es darf festgehalten werden, dass die fixen Sicherungspunkte nach oben hin langsam weniger und tendenziell schlechter werden.

Daneben benötigt es die übliche Kletterausrüstung – in unserem Fall 2 x 60m Seile – und ein paar Schlingen für Standplätze, wenige Sanduhren und eventuelles Schrofengelände am Ende der Route.

Zusammenfassung

Obwohl die Zanahoria keinen Grat enthält, fühlt sie sich mehr nach einer Gratwanderung an, als die meisten Klettereien der letzten Jahre. Für mich sind hier die etwas unheimliche Exposition, die nicht wirklich entspannte Absicherung, harte und nicht ganz kontrollierbare Kletterei und die surreale Abgeschiedenheit in einer Form zusammengelaufen, die nicht nur Freude ausgelöst hat. Da war der vergessene Helm nur noch die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.

Umso lässiger, dass wir die wilde Klippe so gut weggesteckt haben und der mentale Balanceakt nach einem Flug und inmitten wütender Möwen gelungen ist. Abgesehen davon – eine durchweg unerhörte Linie, von der man kaum glauben mag, dass sie im Alleingang erschlossen wurde. Ein sehr erreichbares aber auch überraschend intensives Abenteuer in den ostseitigen Klippen Sardiniens.

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