Kletterblog & Berggeschichten
Estergebirge – Überschreitung (bis T5)
Estergebirge – Überschreitung (bis T5)

Estergebirge – Überschreitung (bis T5)

Literatur: Alpenvereinskarte BY9 Estergebirge, Herzogstand, Wank*

Ein Wochenende mieses Wetter steht vor der Tür. Der Sommer hat noch nichtmal angefangen doch das vorherrschende Wetter erinnert eher an einen Novembertag. Eigentlich hat es Dauerregen mit kleinen Lücken. Irgendwie hat es über Nacht in höheren Lagen sogar ein wenig geschneit. Und windig ist es auch. Das einzige wovor dieser Tag und diese Tour verschont bleiben dürften also Lawinenabgänge, Waldbrände und Blitzeinschläge sein.

Bare minimum.

Das Motto des Tages: Schneller Wandern als der Regen

Wie irgendwie immer im Frühjahr versuchen wir die Grundfertigkeiten für einen schönen Bergsommer wieder auf Vordermann zu bringen. Dafür waren wir vor zwei Wochen bereits im sonnigen Arco klettern und haben uns die Routen Il Mercurio Serpeggiante, I Tre Soci und Little John aus der Nähe angeschaut. Was dabei – und auch sonst in diesem Frühjahr – ein wenig auf der Strecke bleibt ist die Kondition. Und der geht es heute an den Kragen. Die „Idee“ bringt es nämlich auf rund 2300 Höhenmeter bei einer Wanderstrecke jenseits der 20 Kilometer. Die „Idee“ ist auch keinesfalls neu oder besonders. Die Überschreitung des Estergebirges ist ein Klassiker im Werdenfelser Land und stellt für ambitionierte Trailrunner ein beliebtes Ausdauertraining dar.

Auch ich habe schon diverse Feierabendrunden durch Teile des Estergebirges gedreht und bin einer Gesamtüberschreitung dabei stellenweise erschreckend nahe gekommen. Heute haben wir aber Zeit und Lust die Sache mal richtig anzugehen. Und für mich sind dabei sogar auch nochmal ein paar gänzlich neue Ecken dieses kleinen Gebirgskamms dabei. Denn während ich Wank, Hohen und Niederen Fricken und das Gebiet bis zur Weilheimer Hütte ziemlich gut kenne, klafft zwischen Osterfeuerspitze und besagter Hütte eine Bildungslücke, die es zumindest teilweise zu schließen gilt.

Das Estergebirge

gehört korrekterweise noch zu den Bayrischen Voralpen, stellt aber einen relativ isolierten und alleinstehenden Gebirgsstock dar und wird auch gerne als solcher behandelt. Umringt ist es in jedem Fall von hochrangiger Prominenz. Etwa vom beinahe nur von hier aus in seinem Ausmaß begreifbaren Wettersteinmassiv mit seinen gewaltigen Graten. Oder vom stummen und unübersichtlichen Gipfelmeer des Karwendelgebirges im Südosten. Selbst im Norden bilden Herzogstand und Heimgarten markante Hotspots. Vielleicht ist das der Grund, warum es im Estergebirge vergleichsweise ruhig zur Sache geht. Und das, obwohl das Massiv die potentesten Aussichtsberge der Region beinhaltet. Urige Hütten und Almen schmücken ein sonst nur punktuell erschlossenes Karstgebirge. Abseits vom Wank ist kein Berg mit Liftanlagen erschlossen. Und da dieser durch eine ziemlich tiefe Scharte von den restlichen Bergen getrennt ist, schwappt der Trubel vom Wank kaum zu den umliegenden Gipfeln über.

Die restlichen Gipfel des Estergebirge-Hauptkamms liegen aber schön aufgereiht in einer gerade Linie über dem Loisachtal, brechen nach Westen teils in eindrücklichen Flanken ab und wecken den Wunsch zu einer Überschreitung. Lediglich der Krottenkopf, der Höchste in der Runde, tanzt ein wenig aus der Reihe und liegt nicht wirklich auf unserem Weg. Der Plan sieht einfach nur vor von Eschenlohe auf deren Wahrzeichen, die Hohe Kisten, zu steigen und von dort mal mehr, mal weniger dem Grat folgend die naheliegendsten Erhebungen auf dem Weg zur Haustüre mitzunehmen.

Von Eschenlohe auf die Hohe Kisten (1922m)

Wir starten am Bahnhof Eschenlohe, queren irgendwie durch die Ortschaft und gelangen rasch neben der Asamklamm an den Berg und auf die Wanderwege. Hier folgen wir der Via Alpina A58, einem Abschnitt des übergroßen Fernwandernetzes, welche den gesamten Alpenbogen überspannt. Entsprechend gut ist der gemütliche Steig markiert, welcher rasch in die fantastische Landschaft des Pustertals führt. Die Bäume lichten sich und einige kurze Stahlseilpassagen führen unschwer in das sonst abgeschiedene und raue Tal. Mit nur minimalem Höhenverlust schlängelt sich der Pfad durch die teils erodierte und unübersichtliche Flanke der rechten Talseite und mündet rasch auf den Wiesen im Bereich der Pustertal Jagdhütte – einem paradiesischen Fleckchen in einem ruhigen Talschluss.

Nichts als Berg im Blick – dabei ist die Zivilisation so nah

Der Weg steilt an und führt in einigen Serpentinen in die Felslandschaft von dem Kar unterhalb der Hohen Kisten. Nicht zu verwechseln mit dem Kistenkar, welches aus dem Tal perfekt einzusehen ist und einen etwas anspruchsvolleren Anstieg auf den Hausberg von Eschenlohe vermittelt. Hier geht es auf jeden Fall gemütlicher zur Sache. In gangbarem Geröll wird Höhe gemacht und erneut elegant zwischen den brüchigen Wändchen und sperrenden Riegeln gequert. Der Übergang vom unteren ins obere Becken erfordert dann kurz ein wenig Trittsicherheit in recht losem und lehmigen Fels.

Im Pustertal Kar

Eine lange Kurve und den ersten, kurzen Schneekontakt später stehen wir schon auf dem Kamm und haben erstmals Blick nach Süden auf die Karstebene, die Weilheimer Hütte und den weiteren Verlauf unserer Tour. Dahinter – wie schon erwähnt – vom Regen getrübter Fernblick auf die Wucht des Karwendelgebirges. Wir folgen noch ein kurzes Weilchen dem markierten Weg zur Weilheimer Hütte und biegen dann auf den kleinen T5-Steig ab, der die letzten 60 Höhenmeter zum Gipfel in der Südflanke der Hohen Kisten überwindet. Ohne die kurzen Kraxelpassagen und kurzen, exponierten Abschnitte schmälern zu wollen: anderswo gibt es das gebotene Gelände als T3. Und so ergibt sich auf jeden Fall eine lustige, kleine Überschreitung des Gipfelaufbaus.

Vom Gipfel aus verwerfen wir direkt schonmal die Idee, die nun am Wegesrand liegenden Erhebungen Archtalkopf und Schindlerskopf mitzunehmen. Absurder Latschenkampf – zumindest in der Draufsicht. Das muss bei den ohnehin wackeligen Bedingungen, rutschigen Pfaden und in regelmäßigen Abständen durchziehenden Graupelschauern nicht sein. Unser nächstes Ziel werden also Rißkopf und Kareck, die gewaltige Abbrüchen nach Westen entsenden und dabei auch die 2000-Meter-Grenze knacken.

Oberer Rißkopf (2049m)

Der Obere Rißkopf ragt knapp 90 Höhenmeter über der Weilheimer Hütte auf und dürfte deren erschwinglicher Hausberg sein. Von ihr führt ein leichter Steig auf den ebenfalls sehr schönen Aussichtsberg. Wir sind aber ungeduldig und halten uns sobald sich das Latschendickicht lichtet und der Martinisteig nach Oberau abzweigt direkt auf dem Grat.

Rückblick. Bereits deutlich in die Ferne gerückt die Gipfelpyramide der Hohen Kisten

Dieser ist rutschig, führt an die marginal ausgeprägte Schneegrenze der vergangenen Nacht heran und liefert tolle Rück- und Tiefblicke. Wenige Minuten später ist der zweite Gipfel des Tages erreicht. Die Stimmung ist gut, die Beine sind noch fit. Bisher sind rund 1500 Höhenmeter auf 13 Kilometern auf der Uhr. Da wir nun quasi auf Reiseflughöhe angelangt sind, gibt es die nächsten drei Berge auf dem Weg nach Garmisch mit eher geringen Mühen und Anstiegen. Nur der Wank, der mit seiner isolierten Lage und tiefen Scharte zum Hohen Fricken knappe 500 Höhenmeter Gegenanstieg fordert ist noch ein großes Fragezeichen.

Kareck (2046m)

Next in line…

Das Kareck liegt direkt gegenüber und auf der selben Höhe wie der Obere Rißkopf, auf dem wir uns noch befinden. Ein naheliegender Abstecher. Auf den meisten Karten ist ein kleiner Pfad eingezeichnet, der die beiden Gipfel auf Höhe des Grates miteinander verbindet. Diesen verfehlen wir aber mindestens kurz als wir (vermutlich) etwas zu weit südlich auf eine kleine, brüchige Abbruchkante stoßen, die wir an geeigneter Stelle abklettern. Bilderbuch-Fels. Man wundert sich fast, warum das Estergebirge nicht für seine lohnenden Kletterwände bekannt ist.

Simi in der „Schlüsselstelle“ unserer Überschreitung am Übergang vom Oberen Rißkopf zum Kareck. Böswilliger, erdiger Bruch.

Ein paar Meter Abstieg später sind wir schon wieder auf dem gutmütigen Wiesengrat zwischen den beiden Gipfeln und treffen auf einen schwach markierten Steig, der von der Weilheimer Hütte herbeizuziehen scheint. Der ist nur insofern interessant, als dass er sich nicht wirklich mit den Karten deckt und dafür aber einen recht offiziellen Anschein wahrt. Wir folgen dem Steig über einen kurzen, etwas luftigeren Aufschwung am Grat und dann über steile Serpentinen in der Südflanke hinauf zum Gipfelkreuz.

Im Westen lassen sich inzwischen ganz fantastisch das Ammertal und die Ammergauer Alpen einsehen mit ihren kühnen, kleinen Spitzen und Zacken. Im Süden öffnet sich der erste gute Blick auf die beiden nächsten Hindernisse auf unserem Weg nach Garmisch: Bischof und Fricken. Beide sind sie eher sanfte, flache Gipfel, welche lange, leichte Grate entsenden. Nur im Norden, also zu uns gerichtet, präsentiert der Bischof eine raue, felsige und unübersichtliche Flanke. Und an deren Rand schlängelt sich unser nächster Anstieg empor.

Tiefblick nach Oberau und ins dahinter liegende Ammertal mit Notkarspitze, Kofel und Ettaler Manndl

Vom Kareck steigen wir zurück zum tiefsten Punkt und halten uns hier kurz in steilen Schrofen direkt hinab auf den Höhenweg, der von der Weilheimer Hütte nach Süden führt.

Bischof (2033m)

Der Anstieg zum Bischof erfordert erneut Konzentration und darf bei Altschnee im Frühjahr (welchen wir heute nur mehr punktuell vorfinden) sogar als recht heikel gehandelt werden. Der Berg lässt sich aber auch westlich umgehen und bei Bedarf über den einfacheren Südwestgrat erreichen. Für uns geht es heute auf schmalen Pfaden durch die steile und stellenweise für das Estergebirge überraschend luftige Flanke empor. Mit 150 Höhenmeter aus dem Sattel heraus ist es für mich persönlich auch der erste Anstieg, der sich langsam aber sicher ein wenig auf die Wadl-Performance auswirkt. Am Gipfel legen wir eine kurze Rast ein ehe uns Wind und leichter Schneefall weiter treibt.

Hoher Fricken (1940m)

Der lange Südwestgrat am Bischof führt durch eine nette Latschengasse, welche den Wind und teils horizontal fliegenden Niederschlag ganz passabel abschirmt. An seinem Ende wartet erneut eine grüne, sanfte Einsattelung bevor ein sehr ähnlicher Grat wieder zum Hohen Fricken hinauf zieht. Obwohl hier ähnlich viel Höhe gemacht werden muss wie zuvor am Bischof, passiert dies auf einer längeren Strecke und auf einem weniger steilen und gutmütigen Grat. Der aussichtsreiche Gipfel ist dann begeisternd rasch erreicht und markiert das Ende dessen, was wir als „Hauptkamm“ des Estergebirges bezeichnen würden.

Hat man hier genug, so gibt es wie auch immer wieder zuvor diverse Möglichkeiten abzusteigen. Steil über die Kuhflucht etwa – was bei Nässe aber definitiv nicht die erste Wahl sein sollte. Gemütlicher geht die Überschreitung zum nicht ausgeprägten Ochsenkopf von der Hand – man folgt als einfach dem Grat in Richtung Wank und steigt mit einem großen Schwenk nach Osten in den Talgrund neben der Esterbergalm ab. Wir wählen diesen Weg und stehen auf der Forststraße angelangt vor einer Entscheidung. Rüber zur Esterbergalm und den Kuchen vorziehen? Den Wank-Gipfel mitnehmen mit der Option den Abstieg dann via Klappergondel zu verkürzen?

Wank (1780m)

Es wird letzteres. Irgendwer im Internet hat mal gesagt, dass man nicht das schnelle Dopamin wählen sollte. Also Gegenanstieg. Die Beine halten. Bloß ein tranceartiger Zustand stellt sich bei uns allen ein und wir stapfen im trotzigen Stechschritt dem bereits so oft besuchten Gipfel entgegen. 500 Höhenmeter sind es – vor einigen Jahren wäre das bereits eine kleine Tagestour gewesen. Jetzt ist es nur der Abschluss vom Abschluss. Hinter uns tauchen zwei vergleichsweise frisch anmutende Trailrunner auf. Ohne Worte und in stummer Übereinkunft haben wir aber keine Lust jetzt auf den letzten Metern noch im Windschatten anderer zu wandern. Die Beine halten also nicht nur den Aufstieg sondern zugleich auch ein Tempo, dass die beiden deutlich hinter uns behält. Mit einer für den Wank ungewohnten Euphorie erreichen wir den verbauten Gipfel.

Ist das dieses Runner’s High von dem alle immer reden?

Einen Kuchen später geht es mit der Gondel ins Tal – die Knie werden es uns danken. Bereits hinter dem unförmigen Wank verschwunden ist die lässige Überschreitung zahmer Gipfel, die man immer von den umliegenden Bergen gesehen hatte aber zugunsten „größerer“ Pläne nie angegangen war. Umso schöner, dass die Runde nun einen eigentlich nicht wirklich bergsport-tauglichen Tag versüßt hat. Mit ein paar neuen Ecken, unverhofft tollen und einsamen Landschaften, einigen weglosen Abschnitten und einer rauen, schottisch anmutenden Stimmung. Besser als Netflix allemal.


Schwierigkeit, Versicherung und Material

Die Tour ist überwiegend – bei Bedarf auch komplett auf erschlossenen Wanderwegen möglich und stellt dabei technisch keine besonders hohen Anforderungen. Lohnend ist die Überschreitung vor allem als Konditionstest mit einem langen Aufstieg auf die Hohe Kisten und zahlreichen Optionen auf kleinere und größere Gegenanstiege auf fantastische Aussichtsberge. Dass sich die Tour recht gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln machen lässt und bei Bedarf an diversen Stellen abgekürzt oder abgebrochen werden kann, spielt dem nur in die Karten. Die Bewertung T5 stammt nur aus dem offiziellen Kartenmaterial für die begangenen Abschnitte und repräsentiert den Charakter dieser Überschreitung kaum. Mit dem Jubiläumsgrat hat dieser Ausflug nichts gemein, man hat lediglich einen guten Blick auf diesen und bewegt sich dabei auf gemütlichen Wanderwegen. An einzelnen Stellen kann die Runde aber um interessantere, alpinere Übungen erweitert werden. Etwa wenn man sich die weniger erschlossenen Zwischengipfel auf dem Kamm aus der Nähe ansehen möchte.

Zusammenfassung

Für mich dient dieser Beitrag vor allem dafür, einen kleinen Vermerk zu platzieren, dass neben all den technischeren Tätigkeiten am Berg auch das lange und stetige Bewegen durch unbekannte Landschaften und wechselnde Wetterverhältnisse eine Menge Spaß und Magie bereithält. Also das, was man wohl als Wandern bezeichnet und das in den letzten Jahren doch mehr und mehr vom Radar meines sportlichen Alltags verschwunden ist.

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