Ostern 2024 fährt ganz spannendes Wetter auf und vereitelt nicht nur Tami und mir den Plan in Arco ein paar sonnige Mehrseillängen zu klettern. Stattdessen gibt es südlich des Alpenhauptkamms mehr oder weniger Dauerregen und in der Heimat einen Mix aus Sonne, Orkanböen und Saharastaub. Dass wir nicht die einzigen sind, denen es so ergeht tröstet wenig. Am Vortag treffen wir eine Seilschaft in der Geierwand, die gerade eigentlich lieber in Finale wäre und auch ein Blick in die Nachbarrouten offenbart einen gewissen Sturm auf die lokalen Klettermöglichkeiten.
Bei der Suche nach Alternativen stolpere ich – wie so oft – völlig unbeabsichtigt über die Südwand am Leonhardstein. Die Route “Für Andi” war mir zwar schon ein Begriff, aber mangels Führerliteratur und Interesse für die Region um den Lago di Bonzo hatte ich nicht auf dem Schirm, dass es hier noch so viel mehr gibt. Topo angeguckt – neugierig geworden. Fast anhaltend V. – VI. Grad auf 9 bis 10 Seillängen? Platten, Wasserrillen und Verschneidungen? Irgendwo im Busch? Ich war zwar schonmal im Winter über den Wanderweg auf dem Leonhardstein und wusste, dass dieser ein ziemlich markanter kleiner Zacken in den sonst oft weichen Tegernseer Bergen ist. Aber der entscheidende Blick in die eindrucksvolle Südwand hatte mir gefehlt.
Flora Bohra
Die Route unserer Wahl wurde 2012 von Daniel Hirsch und Toni Abbattista erstbegangen und ist mit 230 gut abgesicherten Klettermetern offenbar eine der beliebtesten Linien durch die Leonhardstein Südwand. Auf einschlägigen Tourenportalen ist von regelrechten Staus und Warteschlangen die Rede. Im Geiste sehe ich uns schon eine Nummer ziehen und ein paar Stunden warten. Alle, die nicht in Arco sind werden heute hier stehen!
Zustieg
Wir starten am kostenpflichtigen Wanderparkplatz Klamm hinter Kreuth. Es gibt mehrere Wege zur Südwand des Leonhardstein zu gelangen – recht gängig scheint auch ein Anmarsch von Norden und eine anschließende Umrundung des (kleinen) Berges zu sein. Für mich sieht der Zustieg von Süden aber auf den ersten Blick direkter und naheliegender aus. Ein Vergleich mit der anderen Variante steht noch aus. Aber selbst wenn man nicht optimal startet – mit knapp über 600 Höhenmetern für die gesamte Tour fordert der Leonhardstein eh reichlich wenig von seinen Aspiranten. Zumindest wenn man sonst vierstellige Zustiege aus Wetterstein & Co. gewohnt ist. Für 1,3 Kilometer folgen wir einer reichlich wenig inspirierenden Forststraße am Schwarzenbach entlang in das Tal zwischen Leonhardstein und dem bekannten Doppelgipfel von Ross- und Buchstein. Dann geht es deutlich – aber nicht allzu einladend – auf eine breite Fahrspur nach rechts in den Wald. Neben einem Hinweisschild über einen größeren Felssturz begrüßt uns ein Kletterverbot. Zum Glück hatte ich recherchiert und bin wenig überrascht. Die Flora Bohra stellt genau die magische Grenze dar, an der noch geklettert werden wird. Streckt man mal den Fuß zu weit nach rechts, steht man tatsächlich mit einem Bein im Knast.
Spaß beiseite. Bitte dran halten. Sowas ist in der Regel ein guter Kompromiss in dem die Bedürfnisse der Kletterer bereits beachtet wurden. Die Alternative kann auch zappenduster sein.
Der Zustieg schlängelt sich dann angenehm, elegant und flach auf einer reichlich breiten Spur durch den Wald. Immer wieder und immer häufiger blitzt bereits die helle Südwand des Leonhardstein zwischen den Bäumen hindurch – und schaut wild aus. Sehr vertikal, sehr felsig. Der Leonhardstein ist wirklich eine sehr markante Gestalt. Von hier fast noch mehr als von Kreuth. Inzwischen wandelt sich der Zustiegsweg langsam in einen subtileren Pfad und die Wand scheint zum Greifen nahe. An einem markanten Durchgang zwischen zwei großen Felsblöcken, die aktuell von einem umgestürzten Baum versperrt sind weist ein Steinmann den Weg nach links in den etwas steileren Bergwald. Das Ambiente schlägt um und es geht zwischen wirklich hübschen, moosbewachsenen Felsen und wirren Wurzeln empor. Ein richtiger Märchenwald. Viel hübscher als das Gestrüpp in Arco.
Wir erreichen einen schwach ausgeprägten Grat, der zur Wand führt und folgen ihn. Zum ersten Mal hören wir Stimmen von oben. Das muss die Warteschlange an der Flora Bohra sein. Fehlanzeige. Zwei Kletterer auf dem Weg zur “Für Andi”, die unsere Tour bereits am Vortag geklettert sind. Aber auch sie erwähnen, dass wir eventuell kurz anstehen müssen. Scheint also schon ein Ding zu sein. So richtig stressen lasse ich mich aber nicht mehr. Dafür ist es zu still hier oben. Neben dem zarten Rauschen des Föhnsturms und ein paar zwitschernden Vögel gilt die Aufmerksamkeit der herrlich steilen, plattig anmutenden Kalkwand. Ich wundere mich nochmal kurz, dass ich in den Tegernseer Bergen stehe – denn vermutet hätte ich diese Art von Berg eher in den Tannheimer Bergen. Und es wird nicht das letzte Mal sein, dass ich so denke.
Einstieg
Der Einstieg ist rasch gefunden. Von dem Punkt, an dem wir auf die Wand treffen navigieren wir nach links zu einer Freifläche mit einem markanten, einzelnen Baum. Darüber führt – gleichermaßen markant – eine geneigte Plattenrampe in den steileren oberen Wandteil und genau hier ist auch unsere Tour zu verorten. Der Routenname ist weiß angeschrieben und mit einem Bohrhaken markiert, die Flora Bohra startet am tiefsten Punkt der Rampe, auf der dem Baum zugewandten Seite. Über uns sind zwei Seilschaften zu Gange, wir haben aber mindestens 2 Seillängen Abstand und nach uns scheint keiner mehr anzurücken. Eine gute Ausgangslage für eine entspannte Kletterei. Wir bestücken unsere Gurte, wechseln in die Kletterschuhe und ich starte in die 1. und auf dem Papier sehr einfache Seillänge.
1. Seillänge (IV)
Los geht’s! Eine vage Rinne mit vielen in der Erde steckenden Kalkschuppen vermittelt den Aufschwung auf den ersten Absatz. Da nicht alles fest ist klettert sich die Länge gar nicht so entspannt wie gehofft. Zumindest prüfe ich meine Tritte und Griffe sorgfältiger nachdem ich einige Wackelkandidaten gefunden habe und das Geschiebe zwischen Kalkkanten und Graspolstern fühlt sich noch ein wenig unflowig an. Aber es ist ja auch die erste Seillänge und klassisches Zustiegsgemüse. In den Platten der kommenden Seillänge werden wir diese Probleme auf jeden Fall nicht mehr haben. Der erste Standplatz ist rasch erreicht und mit Reepschnur verbunden. Wenn man es eilig hat, kann man die Längen 1 und 2 auch sehr gut zusammenhängen.
2. Seillänge (VI-)
Tami startet in die zweite Seillänge, die direkt am Standplatz mit einer glatten Platte und unmissverständlicher, enger Absicherung beginnt. Rückblickend kriegt man hier auf den ersten Metern beinahe die ernsthafteste Reibungskletterei der gesamten Route serviert. Auf jeden Fall muss Tami reichlich filigran auf die kleinen Dellen und Erhebungen im glatten Kalk treten während es für die Hände Nichts zu greifen gibt. Ein paar Meter weiter hat der Spuk bereits ein Ende und es geht gutmütiger halb plattig und halb an henkeligen Kanten und Graspolstern zum nächsten Standplatz.
Im Nachstieg wackel ich auch kurz. Das letzte Mal konsequentes Plattenmarschieren ist nun doch schon wieder etwas länger her und das ist eine der Fertigkeiten, die man im Winter in den vielen Stunden in der Kletterhalle nicht wirklich vertieft. Ich habe es allerdings etwas leichter und kann schon vom ersten Aufrichter auf der Platte an die Kanten greifen und die Stelle ziemlich schnell und entspannt auflösen. Wer die Herausforderung sucht, kann hier vermutlich auch direkt über die Platten hoch gehen – das dürfte aber schwerer sein. Von der Lage der Haken und der Spur des Specks her geht es schon leicht neben den ganz glatten Stellen hinauf. Definitiv ein spektakulärer Einstieg, der dem Sarcatal um nichts nachsteht.
Der eine oder andere berichtet im Netz durchaus davon, dass der erste Meter der 2. Seillänge die subjektive Schlüsselstelle der Flora Bohra ist. Für uns war sie das nicht – ich verstehe aber durchaus wie man zu dem Urteil kommt. Die Platte ist auch wirklich nicht so rau, wie man sie sich wünschen würde. Aber – so viel Spoiler darf sein – es wird nach oben immer besser.
3. Seillänge (VI-)
Top motiviert starte ich in die 3. Seillänge. Laut Topo kriege ich nochmal sowas. VI- auf “glatter Platte”. Mal schauen.
Zunächst geht es aber entspannt über eine geneigte und raue Platte zu einem kleinen Aufschwung. Hier geht es an hübschen und rauen Griffen hinauf zum nächsten Haken und in die nächste glatte Plattenzone. Diesmal ist diese aber noch optionaler als zuvor und die 3. Seillänge ist die, die mich am wenigsten begeistert. Das Gelände gibt auch nicht viel anderes her. Die Platten liegen recht willkürlich gefleckt zwischen breiteren Graspolstern. Und mehr der Logik als den Haken folgend geht es zunächst durch einfaches Schrofengelände rechterhand hinauf. An einem kleinen Busch muss dann wirklich einmal durch die Platte gequert werden und obwohl es hier wieder nur sehr glatte und subtile Erhebungen als Tritte gibt löst sich die Stelle an ein paar guten Löchern deutlich leichter auf.
Es folgt eine optionale Sanduhr und ein etwas längerer Runout im einfacheren Gelände leicht linkshaltend hinauf zum Standplatz unter einem senkrechten Wandstück mit einer markanten Rissspur. Aber so hat die Länge schon etwas Gutes und tut ihren Job. Nämlich uns genau unter die erste Salve von Traumlängen zu manövrieren. Und wir wissen noch gar nichts von unserem Glück.
4. Seillänge (VI-/VI)
Ich hatte vorher schonmal von subjektiven Schlüsselstellen gesprochen. Das hier war unsere.
Trotz wieder sehr enger Absicherung schaut der über uns verlaufende und leicht abdrängende Riss gar nicht so trivial aus und spätestens als Tami sich kurz ins Seil setzt ist mir klar, dass er das wohl auch nicht ist. Die kurze Projektier-Session ist aber ziemlich hilfreich, denn danach klappt es und nur wenige Meter über dem Riss geht es bereits leichter zum Standplatz. Ein ziemlich ordentlicher Vorstieg allerdings – im Blindflug wäre ich dort auch geflogen oder gesessen. An Felsen ziehen liegt mir einfach nicht.
Was mir aber auffällt ist, dass ich heute mental gut drauf bin und einen Biss habe, den ich in mir unbekannten Mehrseillängen sonst selten an den Tag lege. Vielleicht war es die für mich persönlich ganz gute Figur, die ich am Vortag in der Geierwand gemacht habe. Auf jeden Fall bin ich näher als üblich an der Sturzgrenze unterwegs und setze mich nicht rein. Der erste essentielle Henkel ist porig und irrsinnig scharfkantig.
Leider – im Sinne der Fingerkuppen – braucht man das Teil aber um der etwas überhängenden und sehr trittarmen Stelle Herr zu werden. Danach gilt es einen schmalen Fingerriss zu piazen bis man auf einem angenehmen Absatz landet und entspannen kann. Geiler Scheiß. Dass die Länge für mich frei geht, hatte ich nicht vermutet.
Es bleibt steil – wird aber verschwenderisch henklig bis ich eine epische und verdächtig hohl klingende Schuppe erreiche. Man möchte irgendwie nicht zu sehr an ihr herumrütteln. Zum Stand sind noch zwei Meter in einem lustigen Doppelriss zu bestreiten, die nicht mehr wirklich schwer sind und sich oben richtig fein auflösen. Was für eine Seillänge. Auf den 20 Metern ist eigentlich jeder Griff spannend und jeder Tritt mit Bedacht zu setzen um die steile Verkettung von Rissen, Löchern und Schuppen zu überwinden. Mit luftigen Tiefblicken garniert das erste Highlight unseres Tages am Leonhardstein. In Arco haben wir schonmal 8 Seillängen Zustieg für eine Länge dieser Qualität in Kauf genommen. Aber das ist eine andere Geschichte.
5. Seillänge (VI-)
Ich fädel mir eine Sanduhr als Dummyrunner und verschwinde hinter einem großen Kalkwulst, der mich in leichtem Gelände in die nächste Seillänge führt. Es dauert nur wenige Meter bis die ersten hysterischen Begeisterungsrufe zu Tami runterschallen. Hier fällt auch der Eingangskommentar:
Die 5. Seillänge ist nicht schwer – zumindest kommt sie mir nicht so vor. Aber sie führt durch ein Wunderland von Löchern und Henkeln, wie es sich der ambitionierteste Plastikgriffhersteller nicht ausdenken könnte. Perfekte, steile und flüssige Züge verbinden traumhafte, scharfe Löcher mit griffigen Wasserillen und sorgfältigen Tritten auf die Platte. Die Absicherung ist gut und der Genuss wird nur dadurch gehemmt, dass das Traumgelände schon nach 30 Metern sein Ende findet. Wenn es einen Sinn im Leben gibt, dann ist es die 5. Seillänge Flora Bohra.
Ich übertreibe ein wenig. Aber die Seillänge gehört zu einer meiner schönsten. Und entsprechend begeistert und blumig bis floral sind meine Ausführungen. Ich habe bereits hier beschlossen, dass ich diese Tour und diesen Tag sehr gerne mag. Und dabei haben wir erst die Hälfte gesehen.
Am Ende geht es über eine fotogene Platte und der bisherige Weg durch die Südwand des Leonhardstein verschwindet hinter einer Kante. Dafür taucht der Weiterweg mit den beiden übereinander gestapelten & reichlich markanten Verschneidungen aus und der Standplatz auf einem gemütlichen Absatz ist der erste, den ich selbst verbinden muss.
Ganz alleine sind wir übrigens nicht in der Wand – aber wir haben optimale Ruhe in unserer Route und später auch den Gipfel für uns. Links neben uns auf selber Höhe sind gerade die beiden in der “Für Andi” unterwegs, die wir bereits am Zustieg getroffen haben. Und dahinter – wahrscheinlich in der “Fahrt ins Blaue” seilt eine Seilschaft ab. Schön hier. Ich hole Tami nach.
6. Seillänge (V+)
Tami steigt weiter und krabbelt in eine weniger steile aber flächige Platte rechts vom Standplatz. Ein paar gut verteilte Löcher und Graspolster dämpfen die Schwierigkeit und es fällt auf, dass die Platte hier bei ähnlicher Steilheit wesentlich rauer ist als in der 2. Seillänge. Dafür sind die Hakenabstände wieder etwas weiter.
An einem grasig-erdigen Absatz steilt die Wand für einige Meter merklich auf und führt durch perfekte, interessante und irrwitzig raue Wasserrillen empor. Den Haken etwas rechts der Wasserrillen übersieht man beinahe, weil eine gefädelte Sanduhr ihm ein wenig die Show stielt. Dabei ist letztere weit weniger solide. Danach gibt es keine fixe Absicherung mehr und der Weiterweg ergibt sich aus der Logik heraus. Oder im Falle von Tami durch Tipps von der Seilschaft links von uns. Wer auch im leichten Gelände enge Absicherung erwartet wird aber einmal kurz doof gucken. Eigentlich muss nur noch ein Podest mit einem Baum unter den markanten Verschneidungen – den nominellen Schlüsselstellen der Tour – erklommen werden. Hier führt von links eine etwas erdig-rustikale Rinne hinauf und der Standplatz ist erneut mit Ketten eingerichtet.
7. Seillänge (VI/VI+)
Ich habe durchaus Respekt vor dem was kommt. Während die Plattenlängen nach meinem Geschmack sehr human bewertet waren, empfand ich den kräftigen und scharfen Riss in der 4. Seillänge schon relativ sportlich. In der Draufsicht, sieht die vor uns liegende, vage Verschneidung sehr ähnlich aus und der richtige Weg lässt sich nicht auf den ersten Blick ableiten. Aber erstmal einige Meter queren und dann die anderen Probleme lösen.
Das hier gespannte Fixseil erweist der Tour eher einen Bärendienst. Es ist ziemlich reudig und lädt nicht mehr wirklich zum Festhalten ein. Es ist aber auch schlicht nicht notwendig. Die Stelle kann auf einer ausgetretenen Pfadspur tief gegangen werden – mit einem einfachen Zug kann dann der Bohrhaken an dem das Fixseil befestigt ist erreicht und eine Sicherung geclippt werden. Oder man macht es wie Tami und bleibt einfach oben – also auf Höhe des Fixseils – ohne dieses jemals zu berühren.
Aber erstmal muss die Länge vorgestiegen werden. Mangels Zeitdruck haben wir uns schon lange dafür entschieden den etwa auf halber Strecke der Seillänge möglichen Zwischenstand zu nutzen. So bekommt jeder einen vermeintlich schwierigen Vorstieg und der Seilverlauf soll Gerüchten zufolge besser sein. Die Länge ist recht geradlinig und kann mit einer verlängerten Exe im Bereich des Zwischenstandes aber bestimmt auch stressfrei am Stück geklettert werden.
Ich lande erstmal zu weit rechts. Auf einem kleinen Absatz, an dem ein abgegriffener schräger Riss ansetzt. Ein paar Versuche zeigen – nicht so richtig. Ich hangel mich rüber in die hier gar nicht so offensichtliche und auf den ersten Blick wenig einladende Verschneidung und spreiz mich ein. Ha! So geht’s! Und der schräge, breite Riss macht nun auch Sinn und wirft ein paar ideale Tritte ab. Es folgt eine begeisternde Abfolge von vorsichtigen Tritten, Schieben und Drücken. Die Stelle ist technisch und erfordert etwas Ruhe – wirklich festhalten oder kräftig rupfen muss man aber nirgends. Mir taugt es extrem und mit einer mir neuen Ruhe arbeite ich mich konzentriert durch die wenigen aber anhaltenden Klettermeter und Spagate an der Grenze meiner nicht vorhandenen Beweglichkeit.
Ich erreiche den Zwischenstand. Mit einer etwas fragilen Reepschnur verbunden erneut ein Kandidat für Eigeninitiative aber sehr lässig auf einer großen, abgetrennten Schuppe positioniert. Der Weiterweg – Tami’s Anteil an der Schlüssellänge – sieht auch sehr gut aus und scheint vom Stil nochmal anders zu sein.
Aber erst steigt Tami entspannt und souverän nach und stellt fest, dass VI/VI+ hier wirklich leichter ist als Vieles im unteren Teil. Zumindest, wenn man spreizen, stemmen und gucken kann. Es finden sich auch reichlich hübsche Ruhepositionen. Wer anhaltend Henkel ziehen mag wird hier weniger Spaß haben und die Ecke als durchaus anspruchsvoll empfinden.
8. Seillänge (VI/VI+)
Tami übernimmt die Führung und rauscht ohne Moment des Zögerns durch die symmetrische, kurze Idealverschneidung. Ich habe in einem Kommentar gelesen, dass die Crux “eher in Richtung 6+/7- gehen könnte”. Ich will in die Gegenden, in denen ihr klettert. Einfach um mir ein paar große Zahlen ins Tourenbuch schreiben zu können.
Ein kleiner, abdrängender Fleck kostet mich mit dem großen Rucksack etwas mehr Mühen, weil ich mich nicht sauber eindrehen kann. Sonst lässt sich die Stelle aber sehr genüsslich an guten Tritten spreizen und die Absicherung ist erneut wunderbar. Geniale, luftige Verschneidungskletterei in inzwischen sogar angenehmer Frühlingssonne. Sowas hat Arco gerade nicht.
9. Seillänge (VI-)
Der Hochmut verfliegt, als ich die vorletzte Seillänge angehe. Im Topo sieht das gar nicht mehr so spannend aus. Zwei kurze VI- Platten die in überwiegend leichtes Gehlände im 4. Grad eingestreut sind. Das dürfte doch ganz lustig werden.
Der “plattige Aufrichter” killt mich und versaut mir auf den letzten Metern noch die Rotpunktbegehung. An zwei sehr speckigen Crimps muss ein beinahe trittloser Wulst erkämpft werden. Das Bein muss dabei auf die selbe Höhe wie die Hände. Oben raus gibt es keine nennenswerten Griffe um sich aufzurichten oder aus der verklemmten Lage zu kommen und der erste Bohrhaken muss aus dieser Position oder nach der schweren Stelle eingehängt werden. Man flirtet also kurzzeitig auch subtil mit einem Sturz in den Standplatz. Im zweiten Anlauf und mit durchaus spannungsvoll eingehängter Expresschlinge kriege ich die Stelle ohne Schummeln hin und fühle mich an die Momente in der Boulerhalle, wenn der “Start” einfach ein Block auf Brusthöhe ist, der irgendwie erobert werden will.
Danach aufstehen, an die griffige Kante greifen und raus aus der plattigen Stufe und rein in die gemähte Wiese. Die Abstände werden größer und im überall gangbaren Gelände ist der Weiterweg kurz nicht ganz offensichtlich. Ich halte mich geradeaus in eine Rinne und finde einige Meter über meiner letzten Sicherung einen etwas versteckten Haken. Als ich im leichten Gelände weiterkraxel frage ich mich, ob ich den Standplatz nicht schon übersprungen habe. Es sieht so weit aus hinab zu der Ecke hinter der das Seil verschwindet. Ein Blick auf’s Topo schafft Gewissheit. 45 Meter. Die Seillänge ist damit deutlich bis doppelt so lang wie das meiste, was wir heute gesehen haben.
Ein zweiter, plattiger Aufschwung stellt sich in den Weg und ist mit zwei sehr engen Haken verdächtig gut abgesichert. Tatsächlich haben es die 2 Meter auch nochmal in sich, lassen sich mit Grasband direkt unter einem aber recht entspannt angehen. Wäre da nicht die Tatsache, dass ich durch die inzwischen vorhandene Seilreibung dreimal kräftig am Seil ziehen muss, um die erste Expressschlinge einzuhängen.
Das war unser Seilkommando vom Vortag in der windumtosten Geierwand, in der die Verständigung stellenweise unmöglich war. Zum Glück sagt Tami was und ich höre sie um sofort zurückzurufen, dass ich noch klettere. Sekunden später bin ich wieder gesichert. Trotzdem gruselig und ein freundlicher Reminder, dass Seilkommandos immer mit gewisser Vorsicht behandelt werden müssten und auch bei Bohrhakenleitern ein Blick aufs Topo lohnt. So wäre Tami nämlich klar gewesen, dass ich einen ordentlichen Weg zurücklegen würde. Und ich hätte nicht so verdächtig lange gewartet um meinerseits den Weg zu finden.
Und die unscheinbare Bucht ist dann auch gar nicht so einfach. Ein fragiler Untergriff, ein paar kleine Leisten und etwas rutschiger und abdrängender Fels. Erst mit erreichen der Henkel an der rechten Kante löst sich die Stelle in Wohlgefallen auf.
Über ein paar steile Kalkplatten – hier wieder ordentlich steil, luftig und gefühlt einen Hauch schärfer als IV- geht es zum Standplatz unter einem abgestorbenen Baum. Hier befindet sich auch die Box für das Wandbuch, welche bei unserer Begehung leider leer ist. Zum ersten Mal hatte ich heute wirklich das Bedürfnis hier eine kleine Nachricht an die Erstbegeher zu hinterlassen:
10. Seillänge (V-)
Der Rest ist geschenkt aber nicht weniger hübsch. Leichtes Gelände links am Baum vorbei führt in eine offensichtliche Rinne, die mit etwas Runout zum gut abgesicherten Ausgangskamin führt. Hier sind nochmal ein paar Meter anregende Kletterei im festen Fels geboten bevor sich das Gelände nach hinten lehnt und wir am Ende der Tour ankommen. Was für ein Tag, was für ein Juwel in den bayrischen Voralpen. Der Blick reicht über den markanten Buchstein mit vorgelagerter Felsnadel in die großen Karwendelberge und das Wettersteingebirge. Zugspitze, Birkkarspitze, Wörner, KaWaKa – alles auf einen Blick. Auch der markante Guffert guckt heraus. Im Vorland dominiert der Plankenstein den Blick nach Osten – ein Berg mit dem ich bei Gelegenheit auch noch einen Wanderfalken zu rupfen hätte.
Gipfel
Ich nehme das Seil auf und stelle 2 Meter über dem letzten Standplatz fest, dass das Gipfelkreuz wirklich nur 15 Meter entfernt ist. Auf einer kurzen Pfadspur nördlich des Grates gelangt man auf den Normalweg und von dort eine kurze Stufe (I) später zum Gipfelkreuz des Leonhardstein. Wir machen Rast, legen die Gurte ab und sind ziemlich beseelt von dem Klettertag.
Abstieg
Dann cruisen wir den steilen Wanderweg hinab. Ganz schön speckig. Trotz ihrer Beliebtheit, kann man das von der Flora Bohra wirklich noch nicht behaupten. Im Tal angekommen wenden wir uns nach Westen und folgen der Forststraße in Richtung in Richtung Schwarzentenn-Alm und biegen dann an der Kreuzung in Richtung Wanderparkplatz Klamm ab. Die 4,5 Kilometer vom Gipfel zum Parkplatz vergehen wie im Flug – die Strecke könnte auf den kleinen Pfaden um den Berg und entlang der Aufstiegsroute auch verkürzt werden. Wir wählen aber den Autopilot auf Schotter.
Am Abend müssen wir feststellen – lediglich die Pizza in Arco ist besser. Final lässt sich also sagen:
Schwierigkeit, Versicherung und Material
Eine für meinen Geschmack unfassbar schöne und homogene Route durch eine faszinierende Wand, die mich auf allen Ebenen überrascht hat. Ein überwiegender Teil der Seillängen ist schön bis sehr schön und die vielseitige und abwechslungsreiche Kletterei würde man am Einstieg noch gar nicht vermuten. Die Tour konkurriert in meiner Wahrnehmung durchaus mit einigen der (in Sachen Genuss) ganz großen Namen im Sarcatal. Die Bewertung empfinde ich als passend und nicht wie teilweise behauptet “knackig”. Und dabei bin ich eigentlich echt ein Weichei 😉
Für mich persönlich sticht die 4. Seillänge in Sachen wahrgenommener Schwierigkeit deutlich hervor – die Verschneidungen empfand ich als deutlich einfacher. Markant sind außerdem die kurze Plattenstelle am Beginn der 2. Seillänge und der Aufrichter in der vorletzten Seillänge. Dazwischen gibt es ganz viel begeisternde Kletterei im fast immer bombenfesten und henkligen Kalk, die mir oft und anhaltend etwas einfacher vorkam als auf der Topo angegeben. Die Absicherung ist ideal – an schweren Stellen sehr eng, im Gehgelände aber auch mal etwas freier bis zu dem Punkt, an dem man nicht stürzen darf. Man fühlt sich aber stets gut aufgehoben.
12 Expressen reichen aus, ein paar Sanduhren könnte man noch fädeln und theoretisch könnten auch Friends / Keile an einzelnen Stellen die Abstände zwischen den Haken verkürzen. Das ist aber mehr Kosmetik und definitiv nicht notwendig – schon gar nicht in den schweren Längen, die wirklich sehr gut abgesichert sind. Die Mitnahme einer Standplatzschlinge empfiehlt sich, da nur manche Stände mit Ketten ausgerüstet sind, während andere unverbunden oder mit nicht vollkommen frischer Reepschnur verknüpft vorliegen. Abseilen macht speziell hier wahrscheinlich wenig Sinn und Spaß. Es gibt immer wieder Möglichkeiten sich im Notfall zurückzuziehen – der Fußabstieg dürfte aber die wesentlich schönere, entspanntere und sicherste Lösung sein.
Servus,
freut mich Sakrisch das euch die Route so gut gefallen hat. Es war eine Freude euren Bericht zu lesen.
Gruß Daniel
Servus Daniel,
merci für deinen Kommentar & super lässig, dass mein Eintrag für’s Wandbuch so doch noch seinen Weg zum Erschließer gefunden hat! 🙂
lg Jan