Kletterblog & Berggeschichten
Hintere Platteinspitze (2723m) via Melzergrat & Melzerkante (V-)
Hintere Platteinspitze (2723m) via Melzergrat & Melzerkante (V-)

Hintere Platteinspitze (2723m) via Melzergrat & Melzerkante (V-)

Literatur: Panico Lechtaler Alpen*

Nächstes Jahr wird Lechtal-Jahr!

Gesagt haben wir das 2023. Was daraus wurde? Natürlich nichts. Genau wie wir auch schonmal ein Karwendel-Jahr ausgerufen haben verhallt die Vornahme, einem bestimmten Gebirge mal fokussiert mehr Besuche abzustatten irgendwo zwischen Praxis, Wetter und Alltag. Kein einziges Mal waren wir bisher in den Lechtaler Alpen klettern, welche wir auf dem Papier als extrem interessantes und reizvolles Gebiet auf die Wunschliste gepackt hatten.

Das ist natürlich Meckern auf hohem Niveau. Denn anstelle der Lechtaler Alpen hatten wir ja stets andere, tolle und vermeintlich bessere Pläne. Und so rücken die großen Ziele der Lechtaler Alpen auf der Liste immer weiter runter. Das Schlusslicht – fast schon vom akuten Wegkippen bedroht – dürfte die heutige Linie sein, welche ich mir eigentlich schon direkt nachdem ich 2022 mit dem (Sport-)Klettern angefangen habe eingebildet hatte. Maximal V-, vielfach leichter und dann aber schön lang & landschaftlich imposant. Heute, 125 Mehrseillängen-Tage später muss ich gestehen:

Bissi süß, bissi naiv, bissi ambitioniert.

Zumindest für die damalige Zeit. Heute, mit reichlich Routine und Geschwindigkeit eine flowige und abwechslungsreiche Quasi-Longline im punktuell gar nicht so simplen Fels.

Melzergrat und Melzerkante

Der Melzergrat ist eine semi-markante Gratschneide, die von der Hinteren Platteinspitze gen Südwesten zieht und nach dem Erstbegeher benannt ist, der hier schon um 1900 einen gangbaren Weg gefunden haben will. Stünde das Ding in einer anderen Umgebung, wäre es wahrscheinlich die Linie im Ring. In den unglaublich zerrissenen und facettenreichen Bergen über Imst ist sie allerdings nur eine von vielen geologischen Kuriositäten und geht aus den meisten Blickwinkeln betrachtet fast schon unter.

Das Herzstück dieses Grates bildet eine beeindruckend kompakte, steile und plattige Kante aus gleißendem Kalkgestein – die Melzerkante. Letztere kann theoretisch auch als eigenständige Tour geklettert werden, wobei man den unteren Teil des Melzergrates links liegen lässt und direkt an den Fuß der Kante aufsteigt und nach 7 Seillängen am Ende der Kante wieder abseilt. Den immerhin 2723 Meter hohen Gipfel der Hinteren Platteinspitze erreicht man damit nicht – die fantastische Aussicht bis zum Ortler auch nicht.

Viel geläufiger wird also der Anstieg über den kompletten Grat sein. Die Schwierigkeiten der Melzerkante, die auch die Schlüsselstelle der Führe darstellt, wird ringsum zwar nicht mehr erreicht, dafür vervielfacht sich allerdings die Kletterstrecke – nämlich auf insgesamt über 900 Klettermetern. Diese führen abseits der Melzerkante dann auch durch reichlich „abwechslungsreichen“ Fels und stellen gewisse Anforderungen an die Geschwindigkeit und Flexibilität der Seilschaft was Wegfindung und Absicherung angeht.

Ein wunderschöner Spätsommermorgen am Hahntenjoch

Zustieg

Wir starten – mutmaßlich anders als üblich – vom Hahntenjoch. Ein Geheimtipp mit Haken, den ich mir wohl irgendwann mal ausgedacht habe. Zwar gelangt man von dieser Seite morgens mit nur 550 Höhenmetern in den Scharnitzsattel, von dem man erstmal nur noch gemütlich zum Einstieg absteigen kann. Allerdings muss man die fast 400 Höhenmeter, die man auf der anderen Seite des Sattels verbrennt am Abend auch wieder hoch. Fortgeschrittene Algebra ergibt also allein für den Sattel & den damit verbindlich für den Nachmittag gebuchten Gegenanstieg schon knapp 1000 Höhenmeter im Aufstieg. Die eigentliche Kletterei mit ihren 950 Höhenmetern sei da noch drauf zu addieren. Von Hoch-Imst kommend steigt man gute 1200 Höhenmeter an den Wandfuß auf. Mit mehr Strecke und weniger inspirierender Landschaft. Dafür aber ohne versteckte Gegenanstiege und wie wir später schmerzlich feststellen müssen:

mAn hÄttE sOgaR fliEGeN kÖnNeN11!!?!

Und ganz normale Menschen nutzen wahrscheinlich die günstig gelegene Muttekopfhütte und die auch im Sommer geöffnete Gondel.

G’scheid beladen geht es also in der angenehmen Kühle eines ruhigen Spätsommertages in Richtung Scharnitzsattel. Der Steig führt rasch und landschaftlich anregend an die auf den ersten Blick kaum überwindbare Wandflucht heran. Eine kurze, einfache Stahlseilpassage leitet in eine etwas nervige Schotterrinne, die steil in den hübschen Sattel mündet. Auf der Gegenseite begrüßen uns Sonne, irre Felsen und Farben und ein elegantes Nebelmeer über dem Inntal.

Während wir das steile Scharnitzkar auf der Südostseite in Richtung Imst absteigen, dämmert uns bereits, dass wir da später nochmal rauf dürfen. Planung aus Meisterhand. Aber die tolle Landschaft und der so erstmal kurze Zustieg lassen uns solche destruktiven Gedanken rasch bei Seite legen. In einer Senke auf 2100 Metern halten wir uns an der großen Kreuzung kurz nach links über den Bach, wechseln Talseite, und folgen für ein kurzes Stück dem Steig in Richtung Engelkar.

30 Höhenmeter später zieht dieser deutlich nach links rauf – uns wiederum trennt eine kleine Rinne von dem, was wir gegen die Sonne blinzelnd als Einstieg ausmachen. Also ein paar Höhenmeter in steilen Schrofen absteigen, die Rinne queren und auf einen Pfad stoßen. Passt. Glaubt man den Karten, so gibt es von unten (also der Muttekopfhütte) kommend eine durchgehende Spur zum Einstieg.

Am Fuße des Melzergrates

Ein bisschen Unsicherheit besteht noch darüber, wo man genau in das nicht ganz übersichtliche Schrofengelände der ersten Seillängen einsteigen will. Der Einstiegsbohrhaken einschlägiger Topos liegt ein wenig höher als wir das erwartet hätten. Wir entscheiden uns Mangels besserer Idee einfach für den tiefsten Punkt und legen unsere Gurte an. Das Seil bleibt vorerst auf dem Rücken. Wir wollen uns, auch im Sinne der inzwischen kürzeren Tage, die ersten Längen seilfrei ansehen.

1. bis 3. Seillänge (III, seilfrei)

Meine Vermutung bestätigt sich insofern, als dass man am tiefsten Punkt noch vorbeigehen und auf der rechten Seite der Kante im Schotter ein paar Meter höher einsteigen kann. Wirklich viel nimmt sich das aber nicht – der kleine Vorbau ist sehr einfach zu klettern. Die erste, kurze Passage im dritten Grad lassen wir links liegen und finden rechterhand direkt nebenan deutlich einfacheres Gelände. Warum kräftig rupfen, wenn man nicht muss?

Wir gelangen ziemlich intuitiv in eine lange Rinne, die in gängigen Topos als 3. Seillänge aufgeführt wird. Irgendwie im 3. Grad geht es hier durch gestuften und überwiegend (aber nicht immer) festen Fels. Am Grund der Rinne klettert es sich auch ohne Seil noch einigermaßen entspannt – klar, absolutes Absturzgelände und auch gar nicht so wenig steil. Aber bei der Absicherung – hier ein Haken auf 35 Metern – darf der Sinn eines Seils ohnehin hinterfragt werden. Und wer die Tour angeht und in einer planbaren Zeit begehen möchte, bringt wahrscheinlich eh ein paar Reserven mit.

À propos Reserven. Die gehen uns dann an dem kleinen Kamin aus. Wir beziehen den Standplatz an seinem Fuße und beschließen erstmal am laufenden Seil weiterzugehen: das hat vor allem den charmanten Vorteil, dass man dann zumindest eine gewisse Redundanz hat, falls einen doch ein Stein vom Vorgänger ins Gesicht springen sollte. Die Chancen dafür stehen gar nicht mal so schlecht – bisher war es zwar teils brüchig, hier wird es aber kurz wirklich einigermaßen rustikal.

4. bis 8. Seillänge (max. IV-, laufendes Seil)

Am laufenden Seil fliegen die Klettermeter unter unseren Händen durch. Bisher sind wir allein in diesem Gratabschnitt und dürfen ganz ungestört unser eigenes Tempo machen. Am Ende des Kamins, welcher tatsächlich kurz unangenehm und oben raus gar nicht so solide daherkommt flacht die Landschaft wieder ein wenig ab. Der Weiterweg bleibt stets offensichtlich – meist hat man den gangbaren Weg schon lange vor den spärlich gestreuten Haken erkannt. Ein plattige Querung führt in die nette, wenig ausgeprägte Verschneidung und wenig später stehen wir schon auf dem beinahe horizontalen Abschnitt und haben erstmals Sicht auf den Weiterweg.

Bevor aber das schrofige Gehgelände überwiegt gilt es noch einen kleinen Turm mit einer luftigen IV- Passage auf seiner rechten Flanke zu ersteigen. Die Stelle darf aber als sehr kurzweilig und freundlich beschrieben werden und fällt kaum ins Gewicht. Wer schnell im Seilhandling ist, kann sich fast überlegen hier wieder (oder immer noch) seilfrei zu gehen. Es folgen einige wirklich etwas längere und sehr leichte Schrofenflanken, in denen der Strick eher stört als hilft. Fixe Absicherung gibt es hier ohnehin fast nicht mehr und fixe Felsen für eventuelle mobile Absicherung sind auch eine Rarität. Aus Unsicherheit über den weiteren Routenverlauf und die Ausgesetztheit des Grates bleiben wir aber am laufenden Seil und bemerken unseren „Fehler“ erst, als wir wieder im schwereren Gelände stehen.

Die eingestreute 3+ Stelle ist in meiner Erinnerung ein kurzer, kräftigerer Zug durch ein steileres 3-Meter-Wandl, welches aber nicht zu exponiert dasteht und rückblickend für uns ohne Seil vertretbar gewesen wäre.

Wir erreichen das kleine Metallschildchen, welches hier den Beginn der „Melzerkante“ markiert. Es kann auch direkt von der Melzerplatte hier her aufgestiegen werden. Und so dient der schwache Pfade natürlich von oben kommend auch als möglicher Notabstieg. Wir bauen wieder um auf normales Klettern und ich starte in die erste Seillänge der eigentlichen Melzerkante.

9. Seillänge (III/III+)

Es wird langsam luftiger und plattiger. Dafür aber auch wieder ein gutes Stückchen fester, was eine gelungene Abwechslung zum eben überquerten Schottergrat ist. Für Absicherung ist hier noch selbst zu sorgen, mit ein paar Klemmgeräten lässt sich schon ab und zu was finden. Ich muss aber beichten, dass ich etwas zu hohe Erwartungen an die Absicherbarkeit des Gesteins hatte. Plattig und rissig sieht’s ja aus. Aber aus der Nähe betrachtet gehen sich dann doch gar nicht so viele brauchbare Placements aus. Im beherrschbaren Schwierigkeitsgrad aber auch noch kein Thema.

Ich beziehe Stand unter einer mächtig steilen Kante, an der wir auch auf die zwei Seilschaften vor uns auflaufen und hole Hannah nach.

10. Seillänge (IV)

Gar nicht ohne!

Der erste, vorgelagerte IVer Aufschwung an der Melzerkante ist schon mächtig steil und frei.

Hannah kommt rasch zu dem Urteil, dass die nun spürbar steilere Kletterei nach all dem Wohlfühlgelände am Melzergrat doch ganz ordentlich reinhaut. Zumal der Haken, der diese immerhin 30 Meter messende Seillänge „entschärft“ sehr hoch liegt und mutig angeklettert werden will. Erneut fällt auf, dass der Fels nicht so fest und übersichtlich ist, wie es den Anschein macht. Und erneut ist eine gute mobile Absicherung gar nicht so trivial. Und – nicht erneut sondern erstmals – wird es richtig luftig. Ein Vorgeschmack, auf das was kommt. Denn auf dem Block über dem Standplatz, den Hannah souverän erreicht, eröffnet sich der Blick auf das imposante Prunkstück der Führe.

Ein Prachtexemplar

11. Seillänge (IV+)

Ich bin wieder im Vorstieg und balanciere den extrem luftigen, fast horizontal verlaufenden Gratabschnitt hinüber zur Schlüsselstelle. Ambiente wie am Drachentanz. Der ausgesetzte Block über dem Standplatz wird auf seiner Rückseite abgeklettert – ein fixer Friend lässt hier fast schon Sportkletterfeeling aufkommen. Dann geht es exponiert weiter. Ich bekomme eine Köpflschlinge und einen kleinen Friend gelegt bevor der erneut einzige Haken der Seillänge eine imposante Reitgratpassage entschärft. Für den Nachsteiger, der auf langen Strecken mit beeindruckenden Pendelstürzen flirtet dürfte die Länge ähnlich spannend sein wie für den Vorsteiger. Abseits davon überwiegt hier guter Fels und eine brachiale Landschaft.

Der messerscharfe Grat trennt imposant die grelle Spätsommersonne auf gleißenden Kalkplatten von der finsteren Schlucht auf der gegenüberliegenden Seite. Und der Kletterer? Mittendrin.

12. Seillänge (V-)

Die Spannung ist groß als Hannah in erste von drei Seillängen im unteren 5. Schwierigkeitsgrad aufbricht. Das wäre woanders nicht so. Aber wir haben den Eindruck, dass es uns die Melzerkante heute gar nicht so leicht macht. Die 10. Seillänge mit ihrer senkrechten Kante im „nur“ vierten Grad hat bleibenden Eindruck hinterlassen. Und auch die über uns thronende, senkrechte Verschneidung zwischen zwei unterschiedlich weit hervorstehenden Platten schaut nicht minder aufregend aus. Zumal es unter den Füßen nun wirklich markant ausgesetzt über die glatten Melzerplatten geht.

Zum Glück bewahrheitet sich nicht jede Befürchtung. Diese Seillänge ist wahrscheinlich die Schönste der Tour und lässt sich wirklich genüsslich und kraftsparend klettern! Ein ehrlich beeindruckendes Stückchen Fels.

Der Grund dafür ist ein unglaublich griffiger Riss, der sich hinter dem rechten Schenkel der Verschneidung versteckt und fast über die gesamte Länge nutzen lässt. Er fühlt sich fast schon verboten an. Mit zwei Bohrhaken und einem Normalhaken ist diese relativ kurze Seillänge dann auch noch halbwegs dankbar abgesichert und so bleibt fast nur der Eindruck der eigentlichen Kletterei:

Geil!

13. Seillänge (V-)

Beflügelt von dieser feinen Momentaufnahme steige ich in die nächste Seillänge ein und werde rasch auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Als ich mich um ein kniffliges Eck auf die riesige Platte geschwungen habe ist der nächste Haken noch reichlich weit weg. Während ich Zug um Zug auf ihn zu klettere, spüre ich wie die unglaubliche Ausgesetztheit an mir nagt. Jeder Meter hinauf ist ein Meter zusätzlicher Sturz.

Ich hatte früher ziemliche Probleme mit Angst und plötzlichen, selten rationalen Panikattacken. Auch in absoluten Alltagssituationen. Umso schöner finde ich, dass ich mich inzwischen fast immer planbar ohne Angst durch irre, vertikale Welten aus Fels und Eis bewegen kann. Aber hier kitzelt es kurz. Ein kleiner Wink aus der Vergangenheit. Eine ziemliche Erleichterung, als das Stückchen Metall erreicht ist. Die Platte hat mich auf dem falschen Fuß erwischt und wirklich entspannter werde ich bis zum Standplatz auch nicht mehr. Die Kletterei bleibt homogen, etwas unübersichtlich und kühn.

Oben raus ist noch ein deutlicher Schwenk nach rechts zum Standplatz inmitten der Platte zu klettern.

Hannah zeigt sich freundlicherweise auch recht beeindruckt von der luftigen Länge durch den Plattenpanzer. Ich habe den Vorstieg aber wahrscheinlich auch etwas spannender gemacht als nötig gewesen wäre.

14. Seillänge (V-)

Und es geht pikant weiter. Denn auch die Seillänge, die Hannah nun wieder im Vorstieg zufällt zeigt rasch ihre Zähne. An dem unscheinbaren Plattenwändchen direkt über dem Standplatz hat schon die Seilschaft vor uns ins Straucheln gebracht und auch Hannah muss mal kurz richtig filigran treten. Im Topo steht irgendwas mit III.

Najaaaaaa.

Ich gehe das Ganze im Nachstieg übrigens sturr von rechts über die kleine Kante an und bin der Meinung, dass das ein wenig einfacher ist.

Ist der Grat erstmal wieder gewonnen führt eine inzwischen fast schon gewohnt luftige Querung zum nächsten markanten Aufschwung. Hier befindet sich auch ein wohlplatzierter Haken. Und hier gehen die Varianten wieder auseinander. Hannah klettert die Stelle mehr oder minder an der Sturzgrenze über die arschglatte Platte. Macht irgendwie auch Sinn – denn hier ist ja schließlich auch der Haken. Ich bin im Nachstieg wieder sturr und gehe den Aufschwung eher links bzw. direkt über brüchig anmutenden und leicht überhängenden Fels an. Der stellt sich dann aber als ausreichend fest und überraschend griffig heraus, sodass ich auch hier der Meinung bin, dass das ein wenig einfacher ist. Ich hab leicht Reden.

Vergleichbar mit dem Anspruch des Vorstieges sind meine frechen Manöver ohnehin nicht. Auch hier sind sind sportliche Tiefblicke und steile Klettermeter zu meistern. Neu ist, dass man hier selbst wenn man wirklich nur die vorhandenen Haken clippt auch noch mit einer gewissen Seilreibung zu kämpfen hat. Hannah bekommt das spätestens am steilen Aufschwung zum Standplatz zu spüren, der fast schon dolomitenhaft vertikal ist und sich gar nicht so einfach klettert.

Irgendwie sind wir doch ganz froh, dass die nominellen Schlüssellängen der Tour nun hinter uns liegen. Das hat zwar mit dem aktuellen Klettervermögen und der psychischen Verfassung gut gepasst – war aber wesentlich anspruchsvoller als erwartet. Vielleicht – aber nur ganz vielleicht – ist es eine gute Sache, dass ich nicht in meinem ersten Kletterjahr hier eingestiegen bin. Denn das war ja eigentlich mal der Plan. Lang und leicht. Kurze 5er.

Najaaaaaaaaa

15. bis 17. Seillänge (max. II+, laufendes Seil)

Ist man nicht mehr ganz so auf den Fels fokussiert, lässt sich auch mal wieder etwas von der tollen Landschaft einsaugen. Besonders der 2774 Meter hohe Imster Muttekopf gibt mit seinen faszinierenden Schichten ein tolles Bild ab. Die Augen und die Fantasie sind durchaus gefordert und auch das Internet weiß:

Kennzeichnend ist ein vielfältiger, oft kleinräumig wechselnder Gesteinsaufbau überwiegend aus Sedimentgesteinen, der zu einem sehr abwechslungsreichen Landschaftsbild führt

Wikipedia über die Lechtaler Alpen
Pausefleck – das kleine Schotterfeld oberhalb der Abseilpiste

Wer genug von besagter Landschaft hat, kann hier 7 x 20 Meter abseilen. Für uns geht es weiter am Grat entlang, der hier nun wieder herrlich brüchig ist. Ich fühle mich am laufenden Seil deutlich wohler – es bleibt recht luftig und rustikal. Es verstecken sich sogar ein paar überraschend unangenehme Abkletterstellen im Grat, welcher auf dem Papier nur wenig detailreich beschrieben ist. Ein markanter Wegpunkt ist der kleine Schotterfleck, der eine kurze Unterbrechung im Grat ist und damit auch eine feine Brotzeitwiese darstellt. Den Köpfln, die hier rumstehen sollte man bei all der Gemütlichkeit aber nicht blind vertrauen. Generell ist ein guter Standplatz hier nur schwer zu finden.

Entsprechend kurz fällt auch unsere Pause aus und Hannah steigt mit Seil am Gurt die gutmütige Rippe hinauf, die uns im 2. Schwierigkeitsgrad rasch und unkompliziert an den Fuß einer markanten Verschneidung bringt.

18. Seillänge (III+)

Stein!

Wir warten eine Weile am Wandfuß, bis das Bombardement durch die vorherige Seilschaft vorüber ist. Was sich vor uns aufbaut ist nochmal eine richtig imposante Seillänge, die mit zwei (sehr hohen) Bohrhaken bestimmt nicht übersichert ist. Auch hier braucht es eine gewisse Flexibilität im Umgang mit den Schwierigkeitsgraden. Es gibt im Kaiser bestimmt zornigere 3er Längen. Es gibt, gar nicht so weit weg, aber auch Wände, in denen die großzügige und freie Verschneidung leicht im oberen 4. Grad mitspielen dürfte. Ja, Martinswand und Geierwand…ihr seid gemeint 😉

Hannah steigt die Länge dann sauber vor und lässt sich von den weiten Runouts und oben teils verstörend großen, losen Blöcken nicht beirren. Ich folge auf sanften Pfoten und darf mir die letzte richtige Seillänge zur Abseilstelle anschauen.

19. Seillänge (II-III)

Und auch diese Seillänge wäre mit „II-III am Grat“ ein wenig zu eintönig dargestellt. Für meinen Geschmack geht es direkt in ein steiles Wändchen, welches mich dazu zwingt ohne Zwischensicherung auf einem nach den bisherigen Erfahrungen an diesem Grat gewiss nicht 100% vertrauenswürdigen Block aufzustehen. Ich wechsel auf die rechte Seite der Gratschneide und turne im absolut luftigem Bruch empor, bis sich das Gelände nach hinten lehnt. Ein weiterer Aufschwung will direkt angeklettert werden und auch hier ist die Felsqualität punktuell mindestens fragwürdig. Vielleicht hätte ich mich früher weniger gesorgt – kletterbar ist es ja. Aber mit meinem heutigen Wissen und eine gewissen Gemütlichkeit aus vielen Metern im Vorzeigefels schwererer Sportkletterrouten kommt mir auch dieses banale Manöver ausreichend ernst vor. Auch dieser Gratabschnitt ist nur schwer so richtig sinnstiftend abzusichern.

Yoga-Session

Ich erreiche das Köpfl mit einigen Schlingen, welches als Abseilstelle neben den Grat dient. Normalerweise begutachtet man an einer solchen Stelle ja argwöhnisch das vorhandene Schlingenmaterial. Ich dagegen begutachte heute das Köpfl, das eher aus einer Laune des Permafrostes noch an Ort und Stelle steht. Ich hatte es mir auf jeden Fall pompöser vorgestellt. Und wünschte, ich hätte mein eigenes Köpfl zum daneben stellen mitgenommen.

Anyways

Abseilstelle

Der Abseiler bringt uns rasch links vom Grat in das offensichtliche Schotterfeld. Hier packen wir auch das Seil weg – was folgt ist zwar noch nicht völlig trivial aber definitiv kein richtiges Klettergelände mehr. Genau genommen stehen wir einem Labyrinth aus Schotter, Fels und Rinnen gegenüber, der Gipfel ist noch nicht in Sicht.

Gipfelausstieg (bis III, seilfrei)

Immer wieder poltert und rumpelt es zwischen den Wändchen – unserer Vorgänger sind gerade dabei einen steileren Aufschwung mit Seil zu lösen. Wir überqueren die Schotterrinne und folgen an ihrem linken Ufer schwachen Steigspuren empor. Dann – recht bald – wenden wir uns nach links und verlassen über einen kleinen, einfachen Aufschwung die große Rinne. Bis hierhin würde ich sagen, dass wir uns noch mit den Beschreibungen des Ausstiegs decken. Ab jetzt kommt unsere Variante, die definitiv „geht“ aber möglicherweise eine Spur schwieriger oder unpraktischer ist. Mir fehlt aber natürlich auch der Vergleich mit dem richtigen Ausstieg.

Statt nun also rechts neben der engen Rinne in die Wand einzusteigen folgen wir dieser in einen dunklen, kalten Schotterwahnsinn. Dieser lässt sich zum Glück am linken Ufer mit einem kurzen Aufschwung an geschliffenem Kalk rasch verlassen. Wir steigen noch ein kurzes Stück in der engen Rinne an und verlassen diese dann nach rechts über ein gestuftes aber schmales Band zu einem ansteigenden kleinen Kamin. Hier – vorsichtig den Bruch umkletternd – gelangen wir in eine Platte und dann auch in leichteres Gelände. Ende gut, alles gut.

Ein paar bröselige Meter nach rechts bringen uns dann endgültig an den Gipfelaufbau und wenig später auch auf das Haupt der Hinteren Platteinspitze.

Ein überragender Aussichtsberg! Richtig schöne Fernblicke auf Bekanntes und Unbekanntes – verstärkt durch die kristallklare Luft. In der Ferne blitzt unverkennbar der weiße Ortler hervor. Im Norden gibt es das fahle Mauerwerk der Zugspitze zu bestaunen und direkt gegenüber hinterlässt die Heiterwand einen bleibenden Eindruck. Sie ist mit ihren 7,5 Kilometern immerhin eine der längsten, geschlossene Wände der nördlichen Kalkalpen. Ein Bollwerk aus weißem Kalk, welches abseits ihrer äußersten Ecken (Maldongrat) nur wenig Besuch erhalten dürfte.

Nach einer Gipfelrast wappnen wir uns langsam für den Abstieg. Richtig Stress haben wir heute zwar nicht mehr – richtig kurz ist der Weg zurück zum Hahntenjoch aber auch nicht. Und die Tage sind inzwischen wirklich kurz.

Abstieg in Engelkar (I-II)

Auch auf ihrem Normalweg ist die Hintere Platteinspitze kein ganz trivialer Berg. Zwar ist der Steig gut markiert und an heiklen Stellen mit Ketten oder Fixseilen ausgerüstet – dazwischen gibt es aber trotzdem ein paar exponierte Einzelstellen und reichlich Bruch und Schotter. Ganz klassisches, alpines Allerlei zwischen T4 und T5. Eine Weile verliert man dabei fast keine Höhe – es wird nämlich erstmal unter dem Grat in Richtung Engelkar gequert. Ist man auf Höhe des Kars, so knickt der Pfad aber ab und führt in stellenweise leichter Kraxelei in die Schotterreise.

Das Engelkar lässt sich dann sogar ideal absurfen, sodass wir nur wenige Minuten später am Ende des Gerölls unsere Schuhe ausleeren und ziemlich genau dort auf die Pfadspur treffen, wo wir sie heute morgen (ein wenig zu hoch) verlassen hatten. Wir steigen weiter in die Senke ab und wenden uns dem Scharnitzkar zu – dem markanten Gegenanstieg, der uns nun vom Endspurt ins Hahntenjoch trennt.

Gegenanstieg zum Scharnitzsattel

Als wir gerade unser Wasser auffüllen, sind wir prompt von einer Herde Steinböcke umgeben. Es ist mein erstes Mal – irgendwie ging sich eine solche Begegnung in den letzten Jahren nie aus. Die imposanten Tiere ziehen uns sofort in den Bann – anders als die plärrenden, pfeifenden und quirligen Gämsen sind sie still, erhaben und ruhig. Die Faszination Steinbock, die ich bisher aus Erzählungen nie so richtig nachvollziehen konnte, ist plötzlich mehr als greifbar.

Es vergehen einige Minuten, bis wir uns von dem unverhofften Spektakel lösen können. Die Tiere sind bis auf wenige Meter an uns rangekommen. Bis auf das leise Plätschern des Baches ist es komplett still im Scharnitzkar – unterwegs ist hier zum späten Nachmittag ohnehin niemand mehr. Als wir uns losreißen können, wartet da immer noch der Hatscher in den Scharnitzsattel, an dessen Türmchen die Gebetsfahnen in der Abendsonne flattern.

Die 300 Höhenmeter lösen sich dann doch einigermaßen gut auf – der Pfad ist im Aufstieg angenehmer, als wir es heute morgen im Abstieg vermutet hätten. Zäh ist das Manöver allemal. Mein Hahntenjoch-Geheimtipp ist möglicherweise mehr eine masochistische Variation als eine ehrliche Erleichterung der Tour. Umso schöner, als wir dann den Sattel wieder erreichen und die inzwischen langen Schatten des Scharnitzkars verlassen dürfen.

Endspurt

Die goldene Abendsonne erhellt die Landschaft und die gegenüberliegenden Grasberge haben durch den nun veränderten Schattenwurf eine ganz andere Gestalt als in der früh. Den Gedanken, den ich in diesem Moment habe, spreche ich aus.

Man möchte, dass das niemals aufhört

Wird es aber. Früh genug. Aber bis dahin wird es hoffentlich noch einige dieser langen und ausgiebigen Tagen in beeindruckender Natur geben. Den heutigen Tag habe ich dabei besonders intensiv erlebt. Wahrscheinlich, weil ich durch eine Knieverletzung für einige Zeit von solch „großen“ Touren ausgesperrt war. Vielleicht, weil wir vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang in Bewegung waren und auch abseits der Kletterei eine Menge Eindrücke gesammelt haben, für die es sonst mehrere Bergtage benötigt. Eins steht nach diesem langen Marsch aber auf jeden Fall fest:

Nächstes Jahr wird Lechtal-Jahr!


Schwierigkeit, Versicherung und Material

Ehrlich großzügige Kletterei in groteskem Hauptdolomit. Der geringe Schwierigkeitsgrad sollte nicht zum Anlass genommen werden die Tour zu unterschätzen. Zwar ist der „Ernst“ durch diverse Ausquermöglichkeiten ein bisschen gemildert – um diese zu erreichen muss aber trotzdem einiges geleistet werden. Der nicht ganz geringe Anspruch setzt sich in meiner Wahrnehmung aus etlichen leichten Metern in mitunter brüchig-heiklem Fels und den dann doch recht knackigen Schlüsselstellen zusammen. Während die erste 5- Seillänge noch ganz fluffig von der Hand geht, ist die zweite eine exponierte Ausdauerprobe mit einem weiten Runout. Die dritte der schweren Längen beherbergt dann mehrere, eigenartige und recht harte Einzelstellen mit Potential für Seilreibung. Die Kletterei ist auch in den übrigen Längen nicht immer völlig offensichtlich, teils beträchtlich ausgesetzt und abseits einiger Haken überraschend knifflig abzusichern.

Die Absicherung am Melzergrat – also dem nominell einfacheren Vor- und Nachspiel der Melzerkante – ist dünn und alpin. Zwar gibt es an den meisten Standplätzen je einen Bohrhaken, dazwischen ist aber höchstens mal ein richtungsweisender Haken anzutreffen, der die Kletterei kaum entschärft. Im oberen Teil wird es mangels Standplätze noch ein wenig spartanischer. Die Melzerkante ist vergleichsweise gut abgesichert, die meisten relevanten Standplätze haben zwei Haken, dazwischen trifft man einige Bohr-, Klebe- und Normalhaken unterschiedlicher Qualität an. Auch hier muss aber immer wieder einige Meter über dem letzten Haken sauber operiert werden. Was mir speziell hier wirklich aufgefallen ist, ist dass eine Absicherung mit Friends, Keilen und Schlingen gar nicht so einfach ist. Das hatte ich im aus der Ferne plattig-rissigen Fels anders erwartet. Aus der Nähe betrachtet ist es wirklich nicht allzu simpel, ohne größeren Aufwand gute Placements zu finden.

Der Schlüssel zu einem spaßigen Durchstieg ist definitiv Geschwindigkeit und Effizienz im unteren Teil und ein paar Grade Puffer was die Kletterschwierigkeit angeht. Es schadet auch nicht, wenn man sich mit rustikalerem Fels und Steinschlag arrangieren kann – die Platteinspitze ist leider wirklich nicht das Tannheimer Tal. Ein Satz Friends und einige Keile sind definitiv nicht fehl am Platz, ein paar längere Schlingen machen vor allem oben raus für die nicht mehr vorhandenen Standplätze Sinn.

Zusammenfassung

Irgendwie dann doch ein ganz schön langer Tag am Fels. Wir haben die Melzerkante lange auf dem Zettel gehabt & waren beinahe froh, sie erst so spät gemacht zu haben. Oder im Klartext: vielleicht haben wir die Linie sogar ein wenig unterschätzt. Früher – also vor 2-3 Jahren – hätten mir wahrscheinlich die Reserven gefehlt um hier so entspannt und flowig wie heute durchzukommen.

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