Gehrenspitze (2163m) via Langer Westgrat (IV-)
Gehrenspitze (2163m) via Langer Westgrat (IV-)

Gehrenspitze (2163m) via Langer Westgrat (IV-)

Was tut man, wenn man einen Geburtstag zu feiern, einen Urlaubstag bis April zu verbraten und akuten Schneemangel im Gebirge zu beklagen hat? Logisch. Kraxeln. Am langen Westgrat der Gehrenspitze.

Die fast schon frühlingshaften Bedingungen im Winter 2023 lassen die eine oder andere Kletterei möglich werden, die ich für Februar nie auf dem Zettel gehabt hätte. Und so sind wir unterwegs zu einer winterlosen Winterbegehung an der Gehrenspitze, dem markanten Eckpfeiler der Tannheimer Berge. Tatsächlich ist sie mir schon so oft aufgefallen – bei der Fahrt durch Reutte etwa. Oder aus den Ammergauer Alpen. Oder von der Zugspitze aus. Immer dieses markante und etwas kühner geschwungene Massiv, das trotz geringer Höhe durch seine Lage in vorderster Front mit einer ordentlichen Prominenz daherkommt. Die Wege und Klettereien hier hatte ich lange nicht auf dem Schirm. Etwas zu weit weg, etwas zu wenig greifbar, etwas zu wenig begehrenswert? Einfach ein blinder Fleck.

Hannah hat irgendwo den Westgrat auf die Gehrenspitze ausgegraben. Die entsprechend westliche Ausrichtung – unter dem Aspekt den Schnee wenn möglich zu vermeiden – durchaus sinnvoll. Allgemein sind wir bei der geringen Höhe und den allseits grünen Hängen guter Dinge, dass wir nur wenig Schneekontakt haben werden. Das ist auch wichtig, denn der Westgrat stellt eine unserer bisher längsten Routen dar und kommt mit 700 Klettermetern auf 20 Seillängen daher. Zumindest wenn man den tieferen Einstieg zum “langen Westgrat” wählt. Es gibt auch noch einen mittleren Einstieg und den besser dokumentierten und offenbar häufig begangenen “kurzen Westgrat”. Dieser beschränkt sich auf die letzten 5-6 Seillängen (kann aber vor dem Erreichen des eigentlichen Grates nochmal um 3 Seillängen erweitert werden) und wird wohl auch häufig mit Seilbahnunterstützung absolviert.

Die Kampenwand der Tannheimer

Gut – für so ein Urteil kenne ich die Tannheimer Berge zu wenig. Aber ein bisschen erinnert mich die Tour schon daran. Gelände im oberen III. oder allerhöchstens unteren IV. Grad. Mehrere kleine Türmchen und viel Gehgelände. Und irgendwo kann man via Gondel den Zustiegsmuggel raushängen lassen. Wir haben – übermütig wie wir sind – natürlich den langen Westgrat im Blick. Wohlwissend, dass wir wenn die Verhältnisse nicht passen in den kurzen Westgrat einsteigen und nur diesen letzten Abschnitt gehen. Die Herausforderung wird wohl das Seilmanagement. Wann geht man seilfrei? Wann sichert man von Stand zu Stand? Wann wird es ein laufendes Seil?

Sicherlich hat man bei 20 Seillängen die Möglichkeit irrational viel Zeit zu verbraten und völlig den Blick für das große Ganze zu verlieren. Allein den Einstieg in die Route sollen manche schon über Stunden gesucht haben. Alles in allem für uns also ein doch eher großes Vorhaben mit einigen Fragezeichen und viel Spielraum für Entscheidungen vor Ort. In Stein gemeißelt ist heute nichts. Außer dem schönen Grat natürlich.

Von Winkl starten wir ordentlich bepackt und immer den Schildern folgend Richtung Gehrenjoch – vor uns liegen erstmal rund 1000 Höhenmeter Aufstieg über angenehme Pfade im Wald. Wir sind schnell heute. Wir passieren die Gehrenalpe und die dahinterliegenden, unproblematischen Altschneefelder und schon baut sich neben uns im goldenen Gras die Gehrenspitze mit dem bereits sichtbaren kurzen Westgrat auf. Ahh das wird gut.

Am Gehrenjoch verlieren wir keine Zeit und steigen auf der Rückseite, einige Meter noch auf einem Pfad und dann einfach quer durch die Wiese wieder ab. Gegenüber thront die imposante Kellenspitze steil und abweisend. Gut, dass wir da nicht hinwollen. Auf der anderen Seite. Wo wollen wir eigentlich hin?

Das ist wieder so’n richtiger Zustieg hier

Die Wiesen sind nass und rutschig, die frühlingshaft anmutenden Altschneefelder knüppelhart gefroren. Dazwischen Gämsenkot, vertrocknetes Gras und klebrige Latschen. Pure Liebe. Tatsächlich scheint das ein Ding zu sein, dass das wahre Abenteuer von Kletterrouten im Gebirge vor und nach der eigentlichen Tour stattfindet. Ob das heute wieder so wird?

Den Einstieg zu finden ist wirklich nicht ganz trivial – ich empfand aber einige Details als recht hilfreich und bis auf einen kleinen, etwas übereifrigen Versteiger von Hannah haben wir ihn dann auch relativ direkt gefunden. Ich habe im Netz auch schon ganz andere Geschichten gelesen. Also in aller Kürze:

  • Der Gratturm bietet eine sehr gute Orientierung. Ihr wollt wirklich an den langen Grat, der von diesem Turm hinabzieht
  • Ihr sucht eine sehr deutliche, markante und gleichmäßige Rinne. Gebt euch nicht mit weniger zufrieden
  • Der Einstieg liegt gefühlt ein Stückchen weiter hinten und unten als man denkt

Vom Gehrenjoch kommend überwindet man zunächst eine kleine Felsrippe. Diese wird bestimmt niemand mit einem Grat verwechseln. Danach geht es relativ geradlinig durch eine steile aber gangbare Wiese mit einigen Schotterfeldern bis unter die etwas ernsteren Wände. Ab hier ist man versucht einen Einstieg zu suchen, denn das Gelände verfügt über die eine oder andere Begehungsspur und man verliert auch ein wenig Bezug zu seiner aktuellen Position. Seid stark und widersteht – es fehlen noch ein paar hundert Meter. Ohne nun eine exakte Wegbeschreibung teilen zu wollen – wir haben bestimmt nicht den geschicktesten Zugang gewählt – würde ich doch behaupten, dass man sorglos weiter queren kann, bis es wirklich nicht mehr “leicht” weitergeht. Der Westgrat lässt sich – die ungefähr richtige Höhenlage vorausgesetzt – nicht aus Versehen umgehen oder überklettern.

Nach einigen Querungen, kurzen Auf- und Abstiegen in bröseligen Schrofen erreicht man fast unweigerlich eine zweite, schmalere Wiese. Diese zieht von einer sehr glatten und steilen Wand oben – mutmaßlich die Rückseite des Gratturms – bis ins Tal hinab. Hier steigt Hannah nach oben in die Felsen und sucht Begehungsspuren – wird dabei sogar fündig. Mich treibt ein gewisser Perfektionismus weiter – ich suche immer noch eine Rinne mit einem gebohrten Standplatz. Wir waren etwas zu hoch unterwegs. Erst als ich in dieser Wiese gute 50 Höhenmeter abgestiegen bin sehe ich hinter einem Vorsprung rechts die markante Einstiegsrinne. Ein genauerer Blick entdeckt dann auch den ersten Standplatz, der mittig in der Rinne und damit doch einige Meter höher als vermutet liegt. Hannah darf ihre Reise oben also abbrechen, abklettern und nachkommen – die wird sich freuen. Dafür sind wir jetzt definitiv richtig.

Ich würde beim nächsten Mal im Zustieg bestimmt Einiges optimieren – vor allem aber den Einstieg in die Route. Wenn man vor hat mit Seil zu klettern, sollte man sich bereits vor der Einstiegsrinne vorbereitet haben. Der erste Standplatz bietet keinen wirklichen Raum für zwei Personen und die Rinne ist trotz leichtem Gelände bröseliger und unangenehmer als von unten vermutet. Ganz ehrlich – Körpersicherung unten vor der Rinne und Standplatz als erste Exe missbrauchen. Irgendwie sowas. Richtig Seilreibung gibt es hier auch noch nicht und die Seillänge ist dann doch kürzer als gedacht. In der Rinne Gurt anziehen, Seil auspacken und Material vorbereiten war zumindest die akrobatische Schlüsselstelle des Tages.

Wir haben uns vorneweg einige Gedanken gemacht ob, wie und wo wir den Grat auch seilfrei oder am laufenden Seil gehen können. Und wollen. Wir starten also am Seil mit dem Plan am Grat einmal die Lage auszuchecken und die dann folgenden und angeblich eher leichten Seillängen am laufenden Seil zu gehen. Zugegeben – ein 80 Meter Seil läuft gerade in solchem Gelände dann doch eher gehemmt. Aber das wissen wir natürlich noch nicht.

1. Seillänge (III)

Ich steige los, einige Meter durch die unschwere Rinne und dann etwas griffärmer an deren Ende über eine kleine Stufe hinauf auf den Grat. Ich bin tatsächlich froh am Seil zu sein – eingeklettert bin ich noch nicht und das letzte Mal oberhalb vom II. Grad am Fels ist jetzt auch schon einige Monate her. Dennoch – viel mehr als eine kurze III- gibt es hier noch nicht zu bestaunen. Die Absicherung habe ich auch ausreichend in Erinnerung. Unsere Topo sprach von einer Sanduhr, die ich nicht gefunden habe. Dafür aber Bohrhaken. Also doch Sportklettern?

Ich komme am Grat an und gucke mit einem kurzen “Wow” um die Ecke. Sieht cool aus. Das Gelände ist hier hinten vergleichsweise flach und strukturiert und der Grat folgt noch einer ziemlich breiten, schrofigen Linie. Ich sehe aber auch, dass einige Klettermeter vor uns liegen. 700 sollen es werden – ich glaube so viele hatten wir bisher noch nicht. Ich erinnere mich auch kurz an die deutlich kürzere Kampenwand-Überschreitung, die Tami und mir im Frühling 2022 vor allem aufgrund ungeschickter “Grat-Strategie” eine Menge Freude bereitet hat. Keine Ahnung ob und was ich seitdem gelernt habe. Wird sich schon ausgehen.

Der erste Block, den ich greife ist locker. Passiert mir jedes mal. Dafür ist der zweite dann…oh auch locker. Ich biege rechts ab und komme in leichtem Gelände am gebohrten Standplatz an. Der ist wenigstens fest. Ich hole Hannah nach, die sich schnell und leicht durch die Rinne schiebt und neben mir am Grat auftaucht. Wahrscheinlich könnte man hier gut seilfrei unterwegs sein ohne ein nennenswertes Risiko einzugehen, aber die vielen losen Felsen und der nicht ganz flüssige Einstieg führen dazu, dass zumindest ich mich gerade noch ganz wohl mit Seil fühle. In der nassen Wiese scheinen doch auch einige große Schuppen etwas loser zu sitzen und nur darauf zu warten, dass sich jemand auf sie stellt. Wir bleiben also am Seil und Hannah steigt vor. Allerdings mit der Absicht Geschwindigkeit über Seillänge in die Sache zu bringen. Auf dem Papier liegen nämlich noch 19 Seillängen vor uns. Und nichtmal wirklich kurze.

2. Seillänge (Zwischenstand, III)

Hannah steigt durch leichtes Gelände weiter am Grat hinauf. Die nächsten Seillängen sind nach unserer Topo lang und leicht. Durchgehend Gelände im II. – III. Schwierigkeitsgrat ohne nennenswerte Schlüsselstellen. Als die Markierung für die Seilmitte bei mir durchläuft rufe ich den Grat hinauf:

Halbes Seil!

Hannah murmelt irgendwas zurück – ich glaube sowas wie “Oh shit” zu verstehen. Chill…du hast doch noch 40 Meter zum Austoben. Vielleicht hätte ich schon ahnen können, dass sie mich falsch verstanden hat. Denn als nach einigen Augenblicken ein “Stand” von oben ertönt, sehe ich unsere Strategie auf Länge zu gehen noch nicht wirklich erfüllt. Das halbe Seil liegt noch bei mir rum. Hmpf.

Durch die Felsen brüllt sich so schlecht, weshalb ich erstmal nachsteige. Wirklich leichtes Gelände bisher. Aber auch etwas rustikal und moosig angehaucht. Ich erreiche einen eher zweckmäßigen Schlingenstand, den Hannah in der Annahme kein Seil mehr zu haben über ein subtiles Felsköpfl gelegt hat. Wir müssen uns eingestehen, dass wir gerade noch nicht ganz im Flow sind.

3. Seillänge (Zusammengelegt, III)

Ich gebe Gas. Einige Meter hinter Hannah’s Impro-Stand finde ich zwei Bohrhaken. Das macht jetzt auf jeden Fall keinen Sinn mehr. Also weiter. Immer der kannte folgend zieht sich der Grat langsam zusammen. Leichtes Gehgelände wechselt sich mit kleinen, plattigen Aufschwüngen ab, die wohl irgendwo zwischen III- und III liegen. Ganz einfach finde ich sie teilweise nicht. Die wenigen Exen auf dem Weg führen zu einer ziemlich soliden Seilreibung und als ich eine markante Stelle, das moosige Köpfl, erreiche muss ich mir bereits jeden Meter Seil erkämpfen und zurechtziehen. Das moosige Köpfl ist ein kurzer, exponierter Brocken im Gratverlauf, der relativ zwingend überklettert werden muss. Von einer wirklichen Schlüsselstelle kann man nicht sprechen. Aber der weitläufige Grat von unten hat sich nun doch verabschiedet. Hier geht es deutlich schärfer und luftiger zur Sache.

Die Topo hat es übrigens gut gemeint. Ich befinde mich nun am Ende der 4. Seillänge und habe – den Zahlen Glauben schenkend – den Rest der zweiten Seillänge und zwei weitere Seillängen á 40 Meter überwunden. Mit einem 80 Meter Seil und ohne, dass Hannah nachgestiegen wäre. Paradox.

4. Seillänge (Laufendes Seil, III-)

Hannah ist nachgestiegen und wir begutachten den breiten Aufschwung vor uns. Hier geht es auf den großen Gratturm, der links im IIer Gelände auch leicht zu umgehen wäre. Wir haben trotzdem Bock. Zum einen den Turm mitzunehmen und auf seiner Rückseite abzuseilen, zum anderen das leichte Gelände (eine III- in einer üppigen Rinne) ungesichert zu gehen. Das Seil lassen wir zwar zwischen uns, verkürzen es aber auch etwa 15 Meter und steigen dann gleichzeitig durch die Seillänge, deren 45 Meter wie im Flug vergehen und kaum nennenswerte Kletterei bieten.

Alle Angaben ohne Gewähr – aber der Standplatz, den Hannah bei der Suche nach der Einstiegsrinne gefunden hatte, gehörte vermutlich zum mittleren Einstieg, der auch auf das Türmchen führt.

Auf der anderen Seite geht es senkrecht in eine schmale Scharte im Grat. Hinter ihr zieht ein steile und zackige Kante direkt wieder rauf. Mit IV- ist die Seillänge die uns von dort drüben anlächelt die klettertechnisch schwierigste Stelle der Tour. Aber erstmal seilen wir an der nicht allzu souveränen Abseilstelle ab, die wir einen Meter hinter dem höchsten Punkt des Gratturms auffinden. Wir vertrauen ihr zwar, sind aus dem Rest der Route aber beinahe besseres Material gewohnt. Immerhin waren bisher alle Stände gebohrt und dazwischen fanden wir wenige aber regelmäßige und gute Haken.

5. Seillänge (IV-)

In der Scharte ist Zeit und Platz für einen kurzen Schluck Wasser & einen Snack. Den Vorstieg der nächsten und für uns 5. Seillänge überlasse ich dem Geburtstagskind, das bisher nur die unfreiwillig verkürzte zweite Seillänge abbekommen hat. Schon beim sichern sehe ich, dass man hier scheinbar ein gutes Stückchen kräftiger zulangen muss. Hannah arbeitet sich trotzdem souverän durch den steilen Aufschwung und erreicht einen Stand, der 45 Meter höher und gerade noch sichtbar am Ende des Aufschwungs liegt.

Ich steige nach – mittlerweile warmgeklettert – und tatsächlich. Die IV- will durchaus als solche geklettert werden. Mir kommt sie sogar ein Stückchen schwieriger vor. Ihr Kernstück bildet eine scharfkantige und leicht abdrängende Verschneidung im unteren Teil, die mich vom Fels und Klettern her kurz an die IV+ in der Kampenwand-Überschreitung erinnert. Anders als dort fokussiert sich hier aber alles auf wenige Meter und einige Züge, die einen schnell wieder in sehr genüssliches Gelände bringen.

Keine Sorge – wir reden hier nicht von einer wirklich schweren oder unterbewerteten Stelle. Ich glaube, sie sticht wegen ihrer Lage in einem bisher sonst überraschend leichten Grat einfach ein wenig mehr hervor, als sie es in einer anderen Route tun würde. Und was auch zur Wahrheit gehört – die großen Blöcke und Platten über der scharfen Verschneidung klettern sich richtig schön.

6. Seillänge (Zusammengelegt, II-III)

Ich bin wieder dran mit dem Vorstieg und schlüpfe rechts an fast schon surreal aus der Wand ragenden Kacheln zurück auf den Grat. Und wieder tue ich, was ich heute besonders gut kann. Die Grenzen der Mathematik neu definieren. Durchsetzt von Gehgelände und kleinen Stellen im II. Grad hänge ich auf dem mittlerweile ordentlich scharfen Gratschneide erneut zwei Seillängen á 45 Meter aneinander und mache mit den letzten Metern Seil und einer großen 120er-Schlinge an einem Felszacken rechts Stand.

Mittlerweile ist die Sonne rausgekommen und das ausgetrocknete Gras leuchtet golden zwischen den Felsen hervor. Echt schön hier oben.

7. Seillänge (Zusammengelegt, III)

Wir waren uns im Nachhinein sehr einig um die schönsten Seillängen der Tour – und die folgende belegt vermutlich sogar den ersten Platz. Vor uns wird der Grat einmal kurz sehr schmal und steilt dann wieder auf. Man muss kein Pfadfinder sein um eine deutliche Schwachstelle links vom Aufschwung zu erkennen, über die Kante wieder erreicht werden kann.

Hannah steigt vor, überspringt einen Bohrhaken im leichten Schottergelände unter dem gelben Aufschwung und kraxelt dann nach links über eine Rampe in einen schmalen Kamin. Hier findet sie auch den nächsten Bohrhaken – alles richtig gemacht. Die Stelle sieht aus der Ferne schon gar nicht so einfach aus. Während auf der Rückseite des Grates eine dicke Gams rumspringt, steigt Hannah, weniger dick aber genauso Gams, an der linken Kaminseite höher. Mit einem weiten Schritt gelangt sie dann von dem etwas isolierten Block wieder auf den Grat und arbeitet sich hier rasch höher.

Noch in Sichtweite ist ein Stand – aber auch noch etwas Seil übrig. Hannah geht also noch ein Stück weiter. Laut Topo soll hier wieder leichteres Gelände bis zum oberen Einstieg in den dann nur noch “kurzen Westgrat” folgen.

Staaaand

Ich kraxel hinterher. Erst über den schmalen Grat balancieren, dann die einfache Schotterrinne hoch. Der Kamin erwischt mich dann aber doch. Wir erinnern uns – ich habe einen großen Rucksack in dem neben den üblichen Materialien für eine Mehrseillänge auch Steigeisen sind. Und außen hängen zwei leichte Eispickel. Genau letztere werden mir hier zum Verhängnis, als ich mich saudoof im Kamin verkeile und einige unschöne Stemm- und Drehbewegungen brauche um mich überhaupt wieder bewegen zu können. Wirklich gut stelle ich mich trotzdem nicht mehr an – der Zug ist abgefahren. Ich schiebe mich irgendwie hoch – immer wieder an der Rückseite hängen bleiben und drücke mich mit viel zu viel Kraft für eine III auf den kleinen Felsturm. Kurz durchatmen.

Von hier mit etwas Schwung zurück an den Grat und an diesem – exponiert aber griffig – in nun wieder super schöner Kletterei hinauf. Der Grat ist hier auch nochmal äußerst scharf aber nicht mehr wirklich steil oder schwierig und ich erinnere mich an ein oder zwei Stellen an denen man sich an einem Gratzacken hängend über den Abgrund schwingt. Mittlerweile scheint die Felsqualität auch besser geworden zu sein – mal sehen ob sich dieser Trend fortsetzt.

8. Seillänge (III)

Hannah hat sich einen soliden, großen Kopf für ihren Stand ausgesucht und gegenüber blitzen die Bohrhaken des plattigen Pfeilers. An der Stelle macht der Westgrat einen in Bewegungsrichtung deutlichen Knick nach Links. Bergsport ist schon etwas wundervoll sinnfreies. Wir sind wieder genau gegenüber vom Gehrenjoch, wo wir einige Stunden zuvor nach Nordwesten zum Beginn des Grates abgestiegen sind. Uns trennen keine 300 Meter Luftlinie. Hier würde also auch der obere und letzte Einstieg in den Grat aufschlagen mit dem die Tour drastisch verkürzt und um die schönsten Seillängen beraubt werden kann.

Mittlerweile brennt die Sonne regelrecht vom Himmel, ich bin wieder dran mit dem Vorstieg und nehme mir den kompakten Pfeiler gegenüber vor. Ein paar gut gesetzte Bohrhaken entschärfen diesen ziemlich und auf der übersichtlichen Platte lässt sich angenehm höher steigen. In unserer Topo wird dieser Aufschwung nichtmal expliziert aufgeführt – in Online verfügbaren Quellen wird auch von einer IV- gesprochen. Ich denke eine Mitte aus beidem ist angebracht für diese durchaus hübsche aber auch kurze Seillänge im für mich III. Grad. Leichter als der scharfe Aufschwung weiter unten allemal.

Ziemlich direkt hinter dem Aufschwung wird der Grat leicht rechts umgangen – zumindest ist hier ein gebohrter Stand an einem Brocken. Ich übergehe diesen um mir noch kurz den weiteren Verlauf und das “Gehgelände” anzusehen und mache dann an einem Felskopf vor einem kurzen, leichten Aufschwung Stand um Hannah nachzuholen.

Gehgelände

…ist ja bekannterweise ein recht dehnbarer Begriff. Hier trifft es wirklich zu. Wir verkürzen das Seil wieder, verstauen Seilpuppen auf den Schultern, überwinden die kleine Stufe im vielleicht I. oder II. Grad und befinden uns dann im entspannten, schrofigen Wiesengelände. Der Grat wird hier so flach und weich, dass er stellenweise nichtmal als ein solcher erkennbar ist. Und so stapfen wir gute 100 Meter durch das ausgetrocknete, gelbe Gras bis sich ein ebenso gelber Pfeiler in den Weg stellt.

9. Seillänge (III)

Ein kurzer, sehr senkrechter Aufschwung gleicht einem Kurzurlaub in die Dolomiten. Der feste, griffige und gestufte Fels ist viel leichter zu klettern als in der Draufsicht anzunehmen – allerdings stellenweise auch schon von Begehungsspuren und einer subtilen Speckschicht gezeichnet. Man merkt dem Fels durchaus an, dass der obere “kurze” Westgrat wohl wesentlich häufiger gemacht wird als die lange Variante. In der goldenen Nachmittagssonne dennoch eine traumhafte Seillänge in ungeteilter Einsamkeit.

Gehgelände

Und wieder – es ist wirklich Gehgelände. Keine Diskussion. Das Ziel dessen ist auch gut zu erkennen und die gut 200 Meter bis dorthin wollen erstmal gestapft werden. Es geht wieder über Wiesen, kurz absteigend, einem auf den ersten Blick etwas unübersichtlicheren Kessel entgegen. Dort steilt das Gelände nochmal deutlich auf und dieser Aufschwung ist die letzte Erhebung, die uns vom Ende der Route und dem Normalweg auf die Gehrenspitze trennt. Gewonnen wird dies rechtshaltend. Eine leichte, schrofige Seillänge führ auf einen Vorsprung der nach links abknickt und über einen messerscharfen Reitgrat zurück an den Hauptgrat führt. All dies ist in der Draufsicht bereits zu erkennen und logisch – nur der Standplatz liegt ein paar Meter höher als erwartet und verlangt einen zweiten suchenden Blick. Eigentlich das erste Mal heute, dass die Wegfindung nicht völlig intuitiv ist.

10. Seillänge (III)

Leicht, schön, fest und flüssig führen kleine Platten und griffige Kalkblöcke zum nächsten Stand. Das ist auch gut so – mit Absicherung kann man hier nicht wirklich rechnen. Irgendwo unten soll es theoretisch noch eine Sanduhr geben. Ich finde (und brauche) sie hier nicht. Wir sind schon zu lange unterwegs um jeden Stein 3x umzudrehen und freuen uns langsam aber sicher auch darauf das Seil wegzupacken. Gleichzeitig haben wir eine wunderschöne Wolkenstimmung, goldenes Licht und einfache, flowige Klettermeter unter den Fingern – ein brauchbares Finale für einen langen Tag an der Gehrenspitze. Dachten wir.

11. Seillänge (Zusammengelegt, III)

Der Weiterweg ist klar. Ein kleines Stück geht es noch – übrigens ohne fixes Material – auf den immer schmaler werdenden Grat bis dieser nach links an die Wand führt, zwei oder drei Meter abbricht und über einen kurzen aber nur wenige Zentimeter breiten Reitgrat an die Wand und den nächsten Standplatz führt. Hier machen wir einen kleinen logistischen Fehler. Zumindest empfinde ich das so – Hannah, die den Vorstieg macht, kriegt davon wenig mit. Aber der Reihe nach.

Die Seillänge ist für den Schwierigkeitsgrat schon nochmal abenteuerlich und wenn man ehrlich ist ziemlich lässig. Zumindest kannte ich bis dahin nichts vergleichbares. Nach links bricht der Grat “nur” gute 20 Meter in den Schotterkessel ab, den wir gerade umgangen und umklettert sind. Nach rechts – und das sieht man erst auf dem scharfen Stück vor dem Reitgrat – rauscht es sehr senkrecht geschätzte 100 Meter in unübersichtliche, steile Hänge hinab. Ein paar wackelige Zacken am Grat und schon ist das Gesamtbild komplett. Lange Rede kurzer Sinn – es ist kurz mal ordentlich exponiert. Und aus dem langen Westgrat, der an vielen Stellen nicht allzu breit ausfällt, sticht diese Stelle nochmal deutlich hervor.

Nun aber unser Fehler. Theoretisch befindet sich ein Standplatz direkt hinter dem Reitgrat an der Wand. Von hier zieht eine weitere IIIer Seillänge eine etwas brüchige aber griffige Rampe hinauf zum Ausstieg aus der Route. In unserer Manier – zumindest heute und hier – hielten wir es aber erneut für eine raffinierte Idee die beiden Seillängen zusammenzulegen. Für Hannah im Vorstieg kein wirkliches Problem, obwohl sie mit dem Seil quer über den Schotterkessel gespannt bestimmt einiges an Schlappseil für einen Sturz parat hätte. Obendrein macht sie sich die Mühe eine kurz vor dem Reitgrat gelegte Köpflschlinge nach erreichen des Standes wieder auszuhängen um weniger Seilreibung beim Anknüpfen der nächsten Seillänge zu haben. Ich sehe sie also gleich 3x über den Reitgrat balancieren. Rampe rauf, außer Sicht auf den Grat, Stand.

Als ich nachkomme bemerke ich die “Probleme” unserer dadurch entstandenen Seilführung. Während ich den immer schmaleren Grat klettere zieht Hannah nach und nach das Seil fest. Der erste fixe Sicherungspunkt ist der Stand hinter dem Reitgrat. Durch die unglückliche Seilführung läuft das Seil also nicht auf dem schmalen Grat (wie denn auch) sondern links neben ihm in einem weiten Bogen über das Schotterfeld. Während ich also die Kurve über den Grat klettere, der kurz vor der Wand zum Reitgrat abstürzt wandert die üppige Schlinge des Seils immer näher an die unter mir liegenden Abbrüche heran. Der eine oder andere Kletterer etwas rustikalerer Route sollte das Phänomen kennen. Eine Schlaufe – wie sie mein etwas durchhängendes Seil im weitesten Sinne ist – direkt an der Wand hochziehen funktioniert so gut wie nie. Es findet sich immer ein Vorsprung oder ein Riss um sich zu verhängen und in Zugrichtung ganz bestimmt nicht mehr weiterzulaufen. So auch hier. Seil hängt. Wenn Hannah zieht hängt Seil noch mehr. Wenn ich ziehe hängt Seil auch mehr. Aktueller Zustand der “Seilsicherung” in dieser Seillänge: Durchwachsen. Könnte man auch gleich Free Solo machen. Ich hab zumindest genug Seil unter mir hängen, dass ein Sturz nach links in den 20 Meter tiefer liegenden Schotterkessel durchaus ungebremst ausfallen würde.

Ach komm kein Bock jetzt.

An der Kampenwand hätte mich so eine Situation noch massiv gestresst. Heute – nach Stunden am Grat und etwas mehr Routine – hält uns die Schlinge keine 2 Minuten auf. Ich sichere mich an der von Hannah zurückgelassenen Schlinge am Köpfl. Das erlaubt mir ein wenig mehr Spielraum zum rumhampeln und Seil rupfen. Von oben lasse ich mir einmal etwas Schlappseil geben, lehne mich einmal ungemütlich weit nach links von meinem Köpfl weg und mit einem großen, gezielten Schwung ist das Seil wieder frei. Kurz warten, dass Hannah das Schlappseil einholt und zack feddich – endlich wieder sowas wie Sicherung. Schön. Trotzdem unnötig und hätte sich auch nochmal deutlich ungeschickter verhängen können.

Wir hatten etwas Glück, dass wir uns hier so durchschlumpfen konnten und ich würde für’s nächste Mal ein etwas anderes Herangehen wählen. Also wenn nicht seilfrei, dann entweder die Seillänge von Stand zu Stand (direkt hinter dem Reitgrat) wie vorgesehen gehen. Oder aber akribisch auf den Seilverlauf achten und mit Schlingen oder Keilen das Seil irgendwie auf den schmalen Grat und durch die Kurve führen. Ob Aufwand und Seilreibung ein solches Vorgehen rechtfertigen weiß ich nicht – viel schlechter als unsere Variante dürfte es aber auch nicht sein.

Abstieg auf den Normalweg

Als wir oben am Vorgipfel stehen, sehen wir zum ersten Mal seit dem Zustieg in der Früh den Gipfel der Gehrenspitze. Luftlinie vielleicht 200 Meter. Doch davor geht es nochmal ein Stückchen hinab in eine Scharte. Hier kommt von rechts die noch schneegefüllte Rinne raus, die im Sommer als brüchiger Normalweg dient. Auf der anderen Seite zieht der Fels in einer markanten, symmetrischen Flanke wieder steil hochzieht. Also erstmal kurz absteigen. Vielleicht 30 Höhenmeter, die von oben zwar steil aber gemütlich aussehen.

Der Teufel steckt im Detail.

Ein paar Meter weiter fällt bereits auf, dass es nach links ins Raintal doch ganz gut abfällt. Nicht senkrecht, aber steil genug für etwas konzentriertere Tritte zu später Stunde. Noch ein paar Meter weiter fällt auf, dass zwischen den teils losen Felsen dünne aber gnadenlos blanke Eisfelder warten. Irgendwie müssen sich im Moos hier kleine Pfützen gesammelt haben, die dann zu sauberen, spiegelglatten Eispolstern gefroren sind und hier auf der Schattenseite selbst die sommerlichen Wochen im Januar 2023 überlebt haben. Und so schnell verwandelt sich ein kurzer Abstieg im Schrofengelände zu heikler und sorgfältiger Kletterei, bei der jeder Tritt geprüft wird. An ein oder zwei Stellen benutze ich den Pickel im eisigen Moos oder zum Verkeilen im einem Felsspalt um zumindest einen von meinen drei Punkten halbwegs solide zu gestalten. An der doch ordentlich exponierten Kante zum Normalweg geht es – wie so oft – am leichtesten.

Dann ist der Spuk auch schon wieder vorbei und wir stehen in der Scharte. Ich werfe einen kurzen Blick die Rinne runter. Schaut okay aus. Hier müssen wir später noch absteigen. Nicht ohne Grund sind wir mit neben Sommer-Sonne-Kletterbumms auch mit Pickel und Steigeisen ausgerüstet.

Gipfelanstieg

Weil der Tag noch nicht lang oder abenteuerlich genug war und wir noch ein wenig Zeit bis zum Sonnenuntergang haben soll es also auch noch auf einen Gipfel gehen. Wir müssen ja ins Gipfelbuch schreiben, dass wir im Februar über den langen Westgrat hier rauf sind. Vor uns liegt der letzte Aufschwung des Normalwegs zum Gipfel. Im Internet liest sich das so:

 […] ausgesetzte Kletterei bis I+ hinauf zum Westgrat, sowie luftig im Gehgelände zum Gipfelkreuz. Kondition für den Höhenunterschied, elementares Kletterkönnen, zudem mentale Stärke für das extreme Gelände nötig.

Ih. Mentale Stärke um diese Uhrzeit. Und dann auch noch in extremem Gelände.

In der Draufsicht sieht der Normalweg tatsächlich ein wenig unnormal aus. Zumindest sind seine steilen Stufen mit einer fragilen, morschen Schneedecke überzogen, unter der die selben Eisfelder lauern, die uns gerade das leichte Schrofengelände versaut haben. Der überschneite Normalweg – sofern überhaupt als solcher festzustellen – ist also keine Option. Allerdings führt rechts eine Kante hinauf, die von der Scharte ausgehend eine logische Verlängerung des Westgrates ist und ein wenig mehr Sonne abbekommen haben muss. Zumindest scheinen sich die Schneestellen hier in Zaum zu halten. Wir sind noch so drinnen im Klettern, dass wir uns das leichte Gelände (II+) gut seilfrei zutrauen.

Gelb: Abstieg in die Scharte
Grün: Ungefährer Normalweg
Rot: Unsere Wegwahl
Blau: Abstiegsrinne

Uns trennen noch gute 20 Höhenmeter vom flachen Gipfelgrat, als unsere Kante nochmal ordentlich anzieht und uns nicht mehr ganz so arg anlächelt. Das ist aber auch okay und war von unten schon so zu sehen. Dafür haben wir hier ein etwas weniger steiles, dafür aber schneebeladenes Band, das einige Meter nach links in den Normalweg zieht. Ich probiere es kurz und mache direkt einen Rückzieher um Steigeisen anzuziehen. Den Schnee würde ich als trockenen, bröseligen Pulverschnee bezeichnen welcher nicht nennenswert hält und ein direktes Durchtreten auf lose Felsen oder Eis zulässt. Ich bereue, dass ich “nur” die leichten Steigeisen mit 6 Zacken dabei habe. So Frontalzacken wären jetzt doch was Schönes gewesen.

Sehr vorsichtig geht es die wenigen Meter rutschiges Band zurück auf den Normalweg, an dem wir tatsächlich einen sehr soliden Haken finden.

Boah lass das nachher abseilen.

Hier baut sich eine etwa 2 Meter hohe, sehr abdrängende und kleingriffige Wand auf. Normalerweise würde man diese wohl nach links umgehen, doch dort ist ein flächiges, geschlossenes, staubiges und mutmaßlich ebenso haltloses Schneefeld. Hannah nimmt eine kleine Stufe links des Wändchens, haut die Frontalzacken rein und düst auf der Kante zwischen Schnee und Fels die letzten Meter auf den Grat und in schneefreies und leichteres Gelände. Ich versuche die Bewegung zu kopieren – kriege aber keinen guten Tritt mit meinen Leichtsteigeisen. Ich schlage Hannah vor, dass sie kurz Gipfel mitnimmt und ich hier warte. Ich würde im losen Schneefeld zwar zu 97% ungesichert gut hochkommen – allerdings mit einem kleinen Restrisiko, das ich nicht bereit bin einzugehen.

Hannah – die zufällig das Seil auf ihrem Rucksack hat – wirft die finale Option in den Raum. Bei ihr am Grat ist ein weiterer solider Haken und schafft die Möglichkeit, mich per Seilsicherung nachzuholen. Wir brauchen zwar einige Anläufe, bis das Seilende tatsächlich bei mir landet aber dann binde ich mich ein, quere in das Schneefeld und pickel dort schnell und ohne Rücksicht auf Verluste rauf. Geht scho. Aber mit Restrisiko. War keine schlechte Idee.

Im irren Abendlicht und bei wilder Wolkenstimmung erreichen wir den Westgrat, der uns mit wenigen Metern auf und ab an das Gipfelkreuz der Gehrenspitze trägt. Ein langer Tag am Berg, der noch immer kein Ende nimmt. Aber die Möglichkeit später über den Normalweg abzuseilen nimmt einiges an Anspannung raus.

Wir machen die erste halbwegs als solche feststellbare Pause des Tages bevor es zu kalt wird, verewigen unsere Begehung im Gipfelbuch und sind mit der schwindenden Sonne schon wieder auf dem Weg zu unserer Abseilstelle.

Abstieg

Hannah seilt als erstes durch das etwas unübersichtliche Meer aus Schotter, Fels und Schnee ab. Es gilt vor allem herauszufinden, ob wir komplett abseilen können oder einen Zwischenstand am Haken vor dem kleinen Wändchen machen müssen. Aber auch diese Sorge ist unbegründet, mit unseren 40 Metern verfügbarer Abseilstrecke gelangen wir leicht wieder in den Schnee neben der Scharte.

Als wir dann auch noch das Seil ohne Verklemmen in dem unübersichtlichen Gelände abgezogen bekommen steigt die Zuversicht für den Abstieg endgültig. Ab jetzt ist gemähte Wiese. Oder?

Im Dämmerlicht erreichen wir die Scharte. Stirnlampe auf, Pickel in die Hand und rein in das steile Schneefeld. Charmonix-Couloir für Arme.

Lässt sich gut gehen. Ich wähle die Rückwärts-Runterpickel-Strategie während Hannah frontal runterstapft. Nimmt sich nicht viel. An einigen Stellen bricht man ordentlich ein aber wir halten uns etwas am Rand des Schneefelds wo die Mächtigkeit der Schneedecke übersichtlich und die Hohlräume klein sind. Nach einer Weile verlassen wir die enge Schlucht zwischen den Wänden und sie wieder im offenen Gelände. Das Schneefeld zieht immer noch geradewegs runter aber ab hier gibt es mehr oder weniger sinnvolle Möglichkeiten zur Seite ins Schrofengelände zu queren. Irgendwo hier sollte auch der Normalweg – vermutlich nur ein kleiner Pfad – zurück zum Gehrenjoch führen. Für uns ist die Tour an der Stelle auf jeden Fall durch.

Es folgt einer der zähesten Abstiege, die ich je absolviert habe. 600 dunkle Meter trennen uns vom Gehrenjoch und dem bekannten, leichten Aufstiegsweg. Doch dazwischen lassen wir gefühlt keine Sackgasse aus. Zunächst geht es um die Frage, wo genau das Schneefeld denn nun nach rechts zu verlassen ist. Beim ersten Mal sind wir definitiv zu hoch und die Schrofen zu steil. Also nochmal 50 Meter tiefer pickeln bis ein schwacher Pfad in die Dunkelheit führt. Kurz mit der Karte abgeglichen – ja das kommt hin. Wir folgen dem Pfad, auf dem es immer wieder steile, harte Altschneefelder zu queren gilt. Eines dieser Schneefelder fällt besonders dick aus und verdeckt die subtile Spur, der wir bis eben gefolgt sind vollständig.

Wir queren es ohne Höhe zu verlieren. Der Weg wird dahinter schon wieder auftauchen. Pickel schwingend und Tritte kickend geht es über das Schneefeld, welches Dank sonnenseitiger Ausrichtung erst nass und nun auf den Abend knüppelhart gefroren ist. Gar nicht so unsteil alles. Abrutschen möchte man hier nicht – wäre wohl eine längere Fahrt, wenn man sich nicht mit dem Pickel gefangen kriegt. Dann haben wir wieder Gras unter den Füßen. Steilgras.

Von unserem Pfad keine Spur. Kurz folgen wir noch einem Band um ein Eck und befinden uns plötzlich vor senkrechten Abbrüchen in einer grad noch gangbaren aber bedenklich steilen Grasflanke. Wir spähen kurz über die Kante in die Dunkelheit. Nichts. Ich erwäge schon von einem Köpfl über die Kante abzuseilen. Am Ende siegt die Vernunft und wir müssen zurück in das Schneefeld, das wir erst Augenblicke zuvor freudig hinter uns gelassen hatten.

Unsere Idee ist – beflügelt von der Karte – dass wir einige Meter zu hoch unterwegs sind. Wie in Trance steigen wir das Schneefeld ab. Im kleinen Spot der Stirnlampe ist nicht mehr viel Platz für ausschweifende Gedanken. Pickel schlagen. Links tiefer treten. Rechts tiefer treten. Pickel schlagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit (in Wahrheit waren es vermutlich nur einige, monotone Minuten) taucht aus der Nacht ein Absatz im Schneefeld auf. Tadaa. Unser Weg. Geht doch.

Am Übergang zwischen Schnee und Fels rutscht Hannah weg und fängt sich direkt wieder. Die Frau, die sich einen Zopf bindet während sie an der Dreitorspitze über Messer‘s Schneide tänzelt. Es war wohl wirklich ein langer Tag. Es folgt ein zweiter Rutscher und dann, einige Felsstufen abkletternd und an ein paar dunklen Abgründen vorbeiziehend taucht endlich der Zaun vom Gehrenjoch vor uns auf.

Es ist wieder das Gefühl der wirklich zähen Touren. Völlig benebelt, völlig am funktionieren und im ständigen, schnellen Schritt die verbleibenden 1000 Höhenmeter zurück ins Tal. Wir sinnieren noch darüber, dass das ja eigentlich ganz schön ist, wenn man spürt, dass man was getan hat. Andere gehen dafür zum Tischtennis. Und wir?

Nach über 14 Stunden ohne nennenswerte Pausen nebst einer zarten Gipfelrast torkeln wir dem Auto entgegen und planen schon das Abendessen.

Na happy birthday auch.


Schwierigkeit, Versicherung und Material

Die Orientierung in der Route war für uns extrem naheliegend, wir haben uns immer direkt zurecht gefunden. Im Führer war das als “Hauptproblem” aufgeführt – kann ich wirklich nicht bestätigen. Der Zustieg zum langen Westgrat ist zwar nicht völlig abwegig, verlangt aber doch ein wenig Spürsinn und je nach Wegwahl Geländegängigkeit im brüchigen I.-II. Grad. Die Route ist in meinen Augen gut versichert. Einzig die Abseilstelle vom Gratturm hat mir rückblickend nicht so richtig gut gefallen – vielleicht haben wir hier auch was übersehen? Wäre sonst aber auch leicht zu umgehen. Die Hakenabstände sind zwar weit – überspannen aber meistens auch reines Gehgelände und sind selbst dort noch mit einem relativ regelmäßigen Rhythmus anzufinden. Ich war in der Route und vor allem in den ersten Seillängen doch überrascht immer wieder neue und gute Bohrhaken vorzufinden – ich hatte mich auf Spartanischeres eingestellt. Die Stände und Zwischenhaken sind gebohrt, dazwischen gibt es vielseitige Möglichkeiten an Felsköpfen zu sichern oder Stand zu machen. Dies erhöht aber die ohnehin schon eindrucksvolle Seilreibung.

Wir waren mit 80-Meter Einfachseil unterwegs. Ich würde auch in Zukunft wieder ein Einfachseil nehmen, allerdings ein wesentlich kürzeres (hab ich aber im Moment nicht). So hatten wir zwar die Möglichkeit viele Seillängen zusammenzulegen – haben aber auch oft ordentlich gezogen und keine richtig elegante Möglichkeit am laufenden Seil zu gehen. Zusätzliche Sicherungsmittel (Friends & Keile) waren am Gurt, wurden aber nie verwendet. Schlingen als Zwischensicherung habe ich, wenn ich mich recht erinnere, höchstens 1-2 Mal verwendet und dann auch eher aus Spaß als aus dringender Not heraus. Am wichtigsten waren 175er und 120er Schlingen für Köpflstände, von denen wir insgesamt 4 Stück (2 davon nicht zwingend notwendig) gebaut haben.

Die Kletterei bewegt sich sehr konstant zwischen Gehgelände und dem II. Grad. Unterbrochen wir das von einigen, aber durchaus schönen III und III+ Passagen. Der Schlüsselstelle im unteren Teil würde ich eine glatte IV geben, aber auch nur auf wenigen Metern. Der Fels ist meist fest und griffig – im leichten Gelände hin und wieder brüchig. Die Qualität nimmt – so mein Eindruck – von unten nach oben mit kleinen Ausnahmen recht kontinuierlich zu. Der untere Teil ist definitiv abwechslungsreicher, wilder, schmaler und mit einer schöneren Aussicht gesegnet. Der obere, kurze Westgrat hat zwar auch nette Momente (den Reitgrat, den plattigen Einstieg) wirkt aber schon wieder viel zahmer und übersichtlicher mit vielen, flächigen Gehpassagen und hebt sich landschaftlich nicht wirklich vom Normalweg oder dem Gehrenjoch ab.

Fazit

Eine eindrucksvolle und landschaftlich spektakuläre Linie auf einen tollen Berg – die ich so aber nicht unbedingt nochmal machen muss. Komplett seilfrei würde ich den Grat aktuell aber auch nicht gehen. Dafür ist er mir an einigen kurzen Stellen dann doch noch zu fordernd und leider auch unpassend brüchig. Auf der anderen Seite sichert man sich mit Seil recht zeitaufwendig durch 90% leichte Kletterei oder wirkliches Gehgelände und empfindet das auch durchaus mal als Last. So ging es uns zumindest. Auch mit (obacht Selbsteinschätzung) mittlerweile gutem Seilhandling, fehlerfreier Orientierung und einer soliden Mischung aus sichern und Gas geben wird der lange Westgrat dann doch seinem Namen gerecht und ist relativ langatmig. Es stecken zwar einige sehr schöne Seillängen im unteren Teil – der obere, kurze Westgrat kann damit nicht ganz mithalten – aber wahrscheinlich würde ich diesen Berg in Zukunft eher als “schnelle Runde” zum Feierabend über den kurzen Westgrat gehen. Für uns im Februar 2023 eine einsame, unvergessliche und wilde Bergfahrt die an Abenteuer und Zähigkeit – vor allem ab Verlassen der Kletterroute – nicht zu bald übertroffen werden dürfte.

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