Novembereis in den Ortler-Alpen

Mein Verhältnis zu Eis ist zuletzt ein wenig ambivalent gewesen. Das ist insofern überraschend, als dass ich diese Disziplin in den Wintern 22/23 und 23/24 als sehr faszinierend und „naheliegend“ kennengelernt hatte. Meine naive Theorie war, dass man mit etwas Routine im Felsklettern bereits ein ganz passables Körpergefühl mitbringt um sich auch im Medium Eis halbwegs effizient und sicher zu bewegen. Eine Theorie, die bis zu einem gewissen Grad wahrscheinlich sogar erstmal gar nicht so falsch ist.
Im Sommer 2024 ist die ungetrübte Begeisterung aus einigen Besuchen in der Taschachschlucht, zahlreichen Drytooling-Sessions und einer sehr feinen Begehung an der Jochberg Nordwand aber ein wenig gekippt.
Die für mich etwas hektische Begehung des Chèré-Couloirs am Triangle du Tacul habe ich als mental und körperlich anstrengend empfunden – was bei ständigem Eisschlag und zahlreichen Seilschaften in dem engen Eisschlauch aber auch keine große Überraschung ist. Die Mitte November begangene Hochferner-Nordwand bringt es dann auf nur vergleichsweise wenige Meter im steilen Eis, welche mein Selbstbewusstsein in dieser Disziplin dann aber endgültig beerdigen. Zitter-Vorstieg mit Wadenkrampf und erneut Hektik unter ständigem Eisschlag. Ein wahrgenommener Trend zeichnet sich ab, der mich nicht unbedingt optimistisch stimmt.
Umso weniger hatte ich damit gerechnet nur zwei Wochen später auf der Jagd nach dem ersten theoretisch kletterbaren Eisfall der Alpen ins Ortler-Gebiet zu brettern, um mich von zwei motivierten VortsteigerInnen durch eine schaurig steile und spröde Eiswand über dem Martelltal schleifen zu lassen. Denn das ist eher was für Fetischisten und Liebhaber – und weniger für einen Jan in der alpinen Selbstfindungsphase.
Zustieg
- Blick über die „Alte Staumauer“ zum Cevedale
- Okay – das ist zwar oberhalb Paradies aber absolut nicht das was wir suchen
- Blick nach Norden
Wir wussten natürlich, dass es hier kletterbares Eis gibt und kalkulieren direkt eine Nacht im sehr gemütlichen und beinahe luxuriöse ausgestatteten Winterraum der Marteller-Hütte ein.
Als Ziele stehen drei mögliche Eisfälle auf der Wunschliste. Der Panico Eisführer Dolomiten spricht von einem „Oberhalb Paradies“ Eisfall, welcher ohnehin auf unserem Weg liegt und hübsche Kletterei im 3. Eisgrad bieten soll. Als größere und etwas schwierigere Ziele gibt es dann weiter oben die beiden Konzentschatter (oder Kueanzen Tschatter?).
Allein im Sommer ist die von gigantischen Schmelzwassermassen überströmte Steilstufe ein Naturschauspiel. Gespeist von Hohenferner, Ultenmarktferner und Schranferner donnern die Wassermassen über eine rund 150 Meter hohe Mauer hinab und bahnen sich von dort weiter ihren Weg durch die tief eingeschnittene Plimaschlucht. Im Winter – und dank nordseitiger Ausrichtung und hoher Lage – vereist diese Wand zu drei mehr oder weniger ausgeprägten Eisfällen. Dokumentiert sind vor allem der Linke Konzentschatter (ca. 180m, WI4+), welcher auch auf die Hochebene ausgestiegen werden kann und der Rechte Konzentschatter (ca. 140m, WI4) über den üblicherweise abgeseilt wird.
Bei unserem Besuch gibt es auch noch einen Mittleren Konzentschatter, welcher auf vielen Bildern kaum ausgeprägt ist – an diesem Tag aber sogar begangen wurde. Mit einem Meer an filigranen Säulen und einer marginalen Glasur auf den unteren 80 Metern aber definitiv eine ernstere Angelegenheit.

Nachdem wir besagten, gemütlichen Eisfall „Oberhalb Paradies“ ums Verrecken nicht finden, sind wir irgendwann so weit oberhalb Paradies, dass wir bereits unterhalb der drei imposanten Konzentschatter-Eisfällen stehen. Es herrscht ein durchaus reges Treiben in den noch jungen Eisgebilden. Dass sich hier das wahrscheinlich erste passable Eis der Alpen gebildet hat, hat sich rumgesprochen. Anders hätten wir im fernen Garmisch ja auch gar nichts davon mitbekommen.
Da reges Treiben in Eisfällen generell nie eine wirklich gute Sache ist, entscheiden wir uns rasch für den Rechten Konzentschatter. Hier sind aktuell nur zwei weitere Seilschaft zu Gange und er ist kürzer und leichter als seine beiden Nachbarn. Aber auch das sorgt bereits für ein reges Bombardement des Wandfußes mit teils beträchtlichen Eisblöcken. Es hat rund -10° – das Eis ist hart, spröde und splittrig.
Passt „gut“.
- Wenn es in einer Facebook-Gruppe steht, ist es bereits zu spät
- Die etwas pfeilerartig ausgeprägte Schlüsselstelle am rechten Konzentschatter (ca. WI4)
1. Seillänge (ca. WI3)
In den Genuss der ersten Seillänge kommen wir nur, weil wir mit Ende November wirklich ungeheuerlich früh dran sind – im Hochwinter ist der kleine Aufschwung und die nachfolgende Rinne unter Schnee und Lawinenresten begraben. Heute steht hier eine nette, kleine Steilstufe von vielleicht 2 Metern Höhe an dessen Fuße wir relativ geschützt in die Steigeisen schlüpfen und die Gurte bestücken können.
Janos steigt in die erste Seillänge ein, überwindet die kleine Stufe und verschwindet aus unserem Blickfeld. Ein reger Fluss an Eisstückchen, die über die kleine Stufe hinwegzischen zeigt aber an, dass er noch eifrig unterwegs ist. Und die Seilschaft über uns, welche sich gerade mit dem WI4 Aufschwung beschäftigt, ist es auch. Fairerweise zu Janos Unruhe:
Hier ist überall Eis!
- Janos steigt in die 1. Seillänge ein
- Hannah unter der kleinen Eisstufe
- Auch mit scharfen Zacken – das Eis ist spröde und hart
Hooray! So früh in der Saison eine Wohltat!
Gemeint ist allerdings der Eisschlag, der hier trichterartig zusammenläuft und mit reichlich Fahrt in Janos Seillänge kracht. Die Folge ist ein wenig bequemer Standplatz am linkesten Rand der Rinne, welcher aber ein gewisses Maß an Schutz bietet.
Entsprechend hektisch steigen Hannah und ich nach und ich spüre rasch, dass ich erneut in den ziemlich verkrampften und ineffizienten Bewegungsfluss verfalle, der bereits meine letzten beiden Eistouren zu reichlich wackeligen Unternehmungen gemacht hat. Irgendwie fühlt sich das nicht rund an. Bereits nach wenigen Metern sind meine Waden verkrampft und mein Vertrauen in die Eisgeräte gebrochen. Überall brechen kleine Schollen und Hooks aus während ich insgeheim schon damit rechne, gleich wieder von einem großen Eisblock getroffen zu werden. Genau davor hatte ich Angst. Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Weit weg von Genuss, weit außerhalb der Komfortzone und – auch aufgrund der langen Anfahrt und Dynamik einer Dreieseilschaft – einem brauchbaren Restrisiko ausgesetzt.
- Bereits hier unten bauen sich feine Tiefblicke auf
- Irgendwas zwischen Tiefschnee und Eiskruste
- Blick in die 2. Seillänge (Querung zum Aufschwung) und zur anschließenden Schlüsselstelle
- Hannah im dünnen Eis der 1. Seillänge
2. Seillänge (WI3)
Während ich mir wenig befriedigende Stufen in das ohnehin morsche und bröselige Eis-Schnee-Gemisch trete und versuche für einen Moment die Last aus den Waden zu kriegen, bemüht sich Janos bereits um den Vorstieg der 2. Seillänge. Die kurze Querung führt uns unter einem Überhang mit wilden und noch filigran anmutenden Zapfen auf ein ausgeprägtes Band unter der Schlüsselstelle unseres Eisfalls. Unsere Vorgehe treten am Ende dieser den Rückzug an. Ein Ausstieg aus dem Rechten Konzentschatter ist offenbar auch bei guten Bedingungen eher unüblich – speziell heute wird es über der Schlüsselstelle aber so nass und dünn, dass sich niemand die theoretisch noch mögliche WI3+ Seillänge über der Schlüsselstelle antut.

Das heißt aber auch, dass wir mit etwas Geduld noch zu einer recht sorglosen und ruhigen Eislänge kommen werden. Die Querung ist aber erstmal vor allem glatt und spröde. Hinter einer dünnen Eisglasur verbirgt sich stellenweise Schnee, sodass man gelegentlich durch die Eisschicht durch tritt. Der Standplatz lässt sich dennoch gut erreichen und ist – auf einem wirklich hübsch ausgeprägten Absatz – mit Abstand der Gemütlichste des Tages.
3. Seillänge (WI4)
Hannah steigt in die heutige Abschlussseillänge ein. Bei meiner aktuellen Performance ist ein Vorstieg für mich vollkommen ausgeschlossen – um so beeindruckender wie die beiden sich ziemlich souverän durch das nicht ganz triviale Eis arbeiten. An meine neue Rolle als Top-Rope-Princess kann ich mich durchaus gewöhnen. Für Hannah geht es nun über einen anhaltend steilen Pfeiler empor. Das Eis ist hier abschnittsweise spürbar besser – beinahe sogar gut. Dafür ist die Kletterei aber auch atemberaubend vertikal und massiv ausgesetzt. Für eine Eistour dieses Formats wahrscheinlich nichtmal außergewöhnlich. Meine Theorie ist aber, dass die wahrgenommene Exposition vor allem aus dem Gefühl des „Ausgeliefert Seins“ entspringt. Wirklich gangbar ist die gefrorene Wand für mich nicht – weder im Auf- noch im Abstieg. An vergleichbar steile Felswände und Grate habe ich mich inzwischen gut gewöhnt und kann mit einem Gefühl von Kontrolle parieren. Letztere findet im heutigen Habitat schlicht nicht statt.
- Filigrane Vorhänge bedrohen die Querung – die Temperatur war zum Glück zuletzt stabil niedrig
- Hannah pickelt sich durch den steilen und exponierten Aufschwung
Während Hannah schon eine Eissanduhr bastelt steige ich die steilen Meter auf das etwas rustikale Band nach. Überraschend viel Wasser plätschert hier oben rum – die Eisqualität lässt erneut spürbar ab und ist mindestens wechselhaft. Der theoretisch noch einige Meter mögliche Weiterweg durch leichteres Gelände lächelt uns nicht mehr an.
Abseilfahrt

Luftig geht es wieder hinab. Die 60 Meter Doppelseile reichen genau aus, um wieder ins „Beinahe-Gehgelände“ der 1. Seillänge zu gelangen. Dort seilen wir ein zweites Mal an einem Schlaghaken ab – welchen wir als wenig lehrbuchkonform aber reichlich solide bewerten. Es ist eher mehr ein betreutes Absteigen als ein Abseilen bevor wir rasch wieder festen Boden und groben Schotter unter den Füßen haben.
- Abseilfahrt
- Dolomiti-Schwerlastanker
- Sonnenuntergang im Zustieg zur Marteller-Hütte
Anstrengend
- Im Dämmerlicht spuren wir zur Marteller-Hütte
- Cevedale im Abendlicht
- Eine kristallklare Nacht auf 2600 Metern
Ende vom Lied
Mit einem zu später Stunde etwas zähne aber begeisternd unproblematischen Gegenanstieg erreichen wir den sehr gemütlichen Winterraum der Marteller Hütte. Hier fehlt nichts. Außer vielleicht einer Toilette. Mit einer kleinen Heizung und reichlich Betten und Decken ist er aber sehr brauchbar ausgestattet.

Am nächsten Morgen steigen wir wieder ab zu den Eisfällen und Hannah und Janos gehen den Rechten Konzentschatter erneut an. Ich spare mir den Ausflug. Meine Waden laufen seit gestern auf Notstrom, richtiges Vergnügen rechne ich mir im steilen Eis heute nicht mehr aus. Dafür steige ich auf das Plateau über den Fällen aus und erhasche hier nochmal einen kurzen Blick in die wilde, frühwinterliche Bergwelt einer Region, in der ich bisher noch gar nicht unterwegs war. Vor allem die Wände an der markanten Cima Serana geben ein eindrucksvolles Bild ab und die Königsspitze im Westen lässt ohnehin die Herzen höher schlagen. Eines Tages. Dann aber vermutlich mit Ski.

Schwierigkeit, Versicherung und Material
Imposante und überraschend zahm zugängliche Eisfälle im Martelltal. Die kühnere Linie und den faszinierenderen Aufbau hat wahrscheinlich der linke Eisfall – für uns war er leider an beiden Tagen zu gut besucht um einen Einstieg zu riskieren. Die gekletterte, rechte Variante steilt nach einem flachen Einstieg kontinuierlich an und mündet in einer recht anhaltenden aber nicht allzu langen WI4-Länge. Dabei ist der Fall aber ordentlich exponiert und in eine eindrucksvolle, alpine Landschaft eingemauert. Die Lawinenlage muss schon passen. Dass die Eisfälle aufgrund ihrer Höhenlage von 2400 Metern relativ früh stehen können ist kein Geheimnis – es war mein mit Abstand überlaufenstes Eisziel in der Saison – und das obwohl ich später im Jahr auch die äußerst beliebten Routen Bafflfall, Perla Azzurra und Tunnel geklettert bin.
Es benötigt Eisausrüstung, Eissanduhrfädler und warme Schuhe & Klamotten – für den Zustieg können je nach Jahreszeit und Schneelage auch Skier oder Schneeschuhe von Vorteil sein. In das Tal und an den Fällen vorbei führen zahlreiche gut besuchte Skitouren – bei geringer Schneelage aber auch ein sehr unproblematischer und breiter Wanderweg.
Zusammenfassung
Ein eiskaltes Wochenende und entsprechend zäher Kaltstart in die Saison. Für mich zwar eine spaßige Winterraum-Übernachtung, eine imposante Mauer aus Eis und eine spannende Gegend – ob ich wirklich nochmal den weiten Weg für’s allerallererste Eis auf mich nehmen muss würde ich ein wenig zur Debatte stellen. Denn gar so dringend nötig hatte ich persönlich es im Herbst 2024 noch nicht.